- Tscherkessen
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Die Tscherkessen sind ein kaukasisches Volk. Sie sind eines der namensgebenden Völker der Republiken Adygeja, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien.
Inhaltsverzeichnis
Ursprung
In Europa ist das Volk unter dem Namen „Tscherkessen“ bekannt; sie selber nennen sich „adyge“.
Friedrich August Marschall von Bieberstein, Johann Christoph Adelung[1], Peter Simon Pallas und Jacob Reineggs[2] sahen die von Strabo und Pomponius Mela erwähnten Cercetae als mögliche Vorfahren der Tscherkessen. Thurmann setzte Siraken (Strabo, Geographica XI, 2, 1) und Tscherkessen gleich[3]. H. H. Howorth will die Tscherkessen von den Chasaren ableiten[4].
In der Geschichte wurden die Tscherkessen unter verschiedenen Namen bekannt, wie Kassogen[5], Keschaks oder Kerket. Die europäischen Begriffe wie „Tscherkessen“, „Circassian“ gehen vermutlich auf die vorgenannten Bezeichnungen zurück.
Geschichte
Seit 1557 versuchte Russland, den Kaukasus zu erobern, was erst im Jahr 1864 gelang. Der intensive und blutige Eroberungskrieg der Russen gegen den erbitterten Widerstand der kaukasischen Völker begann ungefähr 1763. Im Jahr 1839 vereinigten sich die kaukasischen Völker unter Imam Schamil und erschwerten so den Russen die Eroberung. Imam Schamil wurde 1859 von den russischen Truppen gefangengenommen, was den tschetschenisch-dagestanischen Widerstand brach. Der Nordostkaukasus war somit unter russischer Kontrolle. Nun konnte die russische Armee ihre vereinigten Kräfte auf die im Nordwestkaukasus beheimateten Tscherkessen (einschließlich Abchasen) richten. Der 21. Mai 1864 gilt offiziell als Ende der russisch-kaukasische Kriege, das Datum, bis zu dem auch die Tscherkessen und Abchasen bezwungen werden konnten. Nach dem Krieg wurden die Tscherkessen aus ihrer Heimat vertrieben. Etwa 500.000 bis 1.000.000 Tscherkessen und Abchasen wurden über das Schwarze Meer ins Osmanische Reich zwangsverschifft. Dabei kamen nach Schätzungen über 100.000 Vertriebene um.
Sprache
Die tscherkessischen Sprachen bestehen aus zwei verschiedenen Sprachen, die manchmal auch als Dialekte bezeichnet werden, dem West-Tscherkessischen (Adygeisch) und Ost-Tscherkessischen (Kabardinisch). Man hegt die Vermutung, dass sich das Ost-Tscherkessische im 13. bis 14. Jahrhundert von der gemeinsamen tscherkessischen Sprache getrennt hat. Gemeinsam mit der abchasischen, Abasinischen und ubychischen Sprache gehören sie zur Adyge-abchasischen Sprachfamilie. Das West-Tscherkessische ist in der Autonomen Republik Adygeja die offizielle Sprache. Das Ost-Tscherkessische wiederum in Kabardino-Balkarien und in Karatschai-Tscherkessien.
Da das Ost-Tscherkessische weniger Laute als das West-Tscherkessisch besitzt, ist es für den ost-tscherkessisch Sprechenden schwieriger, das West-Tscherkessische zu verstehen, als umgekehrt. Nach ihrer Sprache befragt, geben alle die Antwort, Adygejisch zu sprechen. Daher erscheint es oft irreführend, die tscherkessische Sprache in Adygejisch und Kabardinisch zu unterteilen. Die Unterteilung in West-Tscherkessisch (Adygejisch) und Ost-Tscherkessisch (Kabardinisch) ist sinnvoller, jedoch nicht gebräuchlich, da sie bei den Tscherkessen selbst nicht so vorgenommen wird.
Die Tscherkessen besitzen keine eigene Schrift. Mit der Islamisierung war ihre Schriftsprache Arabisch. Anfang des 20. Jahrhunderts bediente man sich des lateinischen Alphabets. Seit 1937/38 wird das kyrillische Alphabet mit einigen Ergänzungen benutzt. Bis heute gibt es kein einheitliches Alphabet der Tscherkessen. Man bedient sich zweier verschiedener Alphabete: das des West-Tscherkessischen, welches hauptsächlich auf dem temirgojischen Dialekt aufgebaut ist, und das des Ost-Tscherkessischen, dem kabardinischen Dialekt.
Siedlungsgebiet
Das Siedlungsgebiet reichte einst bis ans Asowsche Meer und umfasste die Steppen des heutigen südlichen Russland. Durch Kriege und Völkerwanderungen wurden die Tscherkessen immer weiter nach Süden zurückgedrängt. Im 18. Jahrhundert bildete der Fluss Kuban die nördlichste Grenze ihres Siedlungsgebietes. Dieses erstreckte sich über die Ostküste des Schwarzen Meeres, den mittleren Kuban, den unteren Kuban, das Westufer des Terek-Flusses und den Großteil der Kabardei bis zur heutigen Stadt Mosdok in Nordossetien. Im 19. Jahrhundert, nach Ende der russisch-kaukasischen Kriege, wurden etwa 500.000 Nordkaukasier in das damalige Osmanische Reich zwangsumgesiedelt. Diese Ereignisse wurden durch das Parlament Georgiens einstimmig als Genozid eingestuft. [6] In das Gebiet der Tscherkessen wurden zumeist christliche russische Bauern aus dem Landesinneren des Russischen Reiches angesiedelt.[7]
Heute lebt die Mehrheit der Tscherkessen außerhalb des Kaukasus: in der Türkei etwa 2 Millionen[8], in Syrien 100.000, in Jordanien 65.000, in Israel 4000 sowie in der EU 40.000 und in den USA 9000. Es gibt auch Tscherkessenstämme im Kosovo (in der Stadt Obiliq) und in Südserbien. Die Assimilierung spielt eine bedeutende Rolle und entfernt die Tscherkessen mehrheitlich von ihrer eigenen Kultur. Die Folgen sind, daß die Kinder oft kein Tscherkessisch mehr sprechen.*[9]
Im Kaukasus ist eine Minderheit verblieben, die in drei autonomen Republiken lebt. In Adygeja sind von 480.000 Einwohnern etwa 130.000 Tscherkessen. In der Autonomen Republik Karatschai-Tscherkessien sind von etwa 422.000 Einwohnern 50.000 Tscherkessen. In der Autonomen Republik Kabardino-Balkarien sind von 800.000 Einwohnern etwa 390.000 Tscherkessen und weitere 10.000 Tscherkessen leben in der Umgebung der Stadt Tuapse an der Schwarzmeerküste. Bis auf Kabardino-Balkarien sind die Tscherkessen in ihrer heutigen Heimat Minderheiten. Natürlich entsprechen sie nicht dem vollständigen, ursprünglichen Siedlungsgebiet der Tscherkessen. Die verschiedene Namensgebung der jeweiligen Republiken erweckt oft den Anschein, dass es sich bei den begriffen Adygejer, Tscherkessen und Kabardiner um drei verschiedene Völker handelt. Alle drei Begriffe bezeichnen im Grunde ein und dasselbe Volk. Der Begriff "Tscherkessen" wird häufig in Europa benutzt. Die Tscherkessen selber nennen sich "Adyge" und die Kabardiner sind ein Stamm der Adyge und somit auch Tscherkessen oder Adygejer.
Die zwölf tscherkessischen Stämme
- Abadzechen
- Beslenejer
- Bjjedughen
- Hatkuajer
- Kabardiner (Kabardino-Balkarien)
- Makhoscher
- Mamkeyher
- Natkhuajer
- Temirgojer
- Schapsugen
- Ubychen
- Yecerikhuajer
Religion
Obwohl die Tscherkessen schon im 5. Jahrhundert zum Christentum bekehrt wurden, verehrten sie Naturgötter. Die Tscherkessen pflegten einen respektvollen Umgang mit der Natur. In der Vergangenheit wurde kein Baum ohne den Beschluss des Ältestenrates (Chase) gefällt. Jede Familie oder Sippe hatte ihren speziellen Baum, bei dem man sich vor Versammlungen oder vor wichtigen Entscheidungen traf. Naturgötter waren z.B. Schible – Gott des Donners, Tlepsch – Gott des Feuers, Soserez – Gott des Wassers, Mezischa – Gott der Wälder. Im 15. Jahrhundert wurden die kabardinischen Tscherkessen unter dem Einfluss der Krim-Tataren zum Islam bekehrt. Die Kabardiner verbreiteten ab dem 15. Jahrhundert den Islam unter den tscherkessischen Stämmen und benachbarten Völkern. Bis auf eine kleine Minderheit der kabardinischen Tscherkessen in der Umgebung der Stadt Mozdok, welche orthodoxe Christen sind, sind die große Mehrheit der Tscherkessen sunnitische Muslime.
Siehe auch: Islam in Russland
Kultur – Adyge Chabze
„Adyge Chabze“ ist bei den Tscherkessen der Inbegriff für ihre Traditionen und ihre Lebensweise. Es ist ein Ehrenkodex, der auf gegenseitiger Achtung und Respektierung basiert und vor allem Verantwortung, Disziplin und Selbstbeherrschung voraussetzt. Es sind die Gesetze der Tscherkessen, die zwar niemals niedergeschrieben wurden, aber dennoch in der Vergangenheit ihr Alltagsleben regelten. Nach diesem Kodex und Konformitätsdruck wurden Kühnheit, Verlässlichkeit und Großzügigkeit als wichtigste und unabdingbarste Eigenschaften eines Ritters betrachtet, Habgier, Drang nach angehäuftem Besitz, Reichtum und Prahlerei jedoch als Schande („Haynape“).
Diesem als männlich geltendem, ritterlichen Ideal stand ein besonderes Frauenideal gegenüber: großer und schlanker Wuchs und charakterlich die Eigenschaft auf anständige, zurückhaltende Art und Weise sich zu geben und zu reden. Ein großer, schlanker Wuchs sollte bei den Mädchen durch ein eng anliegendes Lederkorsett, welches das Brustwachstum hemmen sollte, erreicht werden. Das Wachsen der Brust wurde als Zeichen des Zur-Frau-Werdens akzeptiert.
Die Gastfreundschaft war und ist bei den Tscherkessen besonders ausgeprägt. Ein Gast war nicht nur ein Gast der Familie, sondern immer gleich ein Gast der ganzen Ortschaft und der Sippe. Selbst Feinden gegenüber wurde diese Gastfreundschaft weiterhin als eine heilige Pflicht angesehen. Wenn ein Feind das Haus betrat, wurde auch dieser respektvoll behandelt und bedient.
Der berühmte Kaukasologe A. Dirr schrieb einmal: „Der Gast ist wie ein Sklave des Gastgebers“. Mit diesem Satz versucht er zu erklären, dass auch der Gast die Vorschriften der „Chabze“ zu befolgen hat, z. B. durfte der Gast nicht ohne die Erlaubnis seines Gastgebers der „Gast“ einer anderen Familie werden.
Jeder Tscherkesse erhebt sich, sobald jemand den Raum betritt, bietet diesem einen Platz an und redet nur, wenn er dazu aufgefordert wird. In Anwesenheit von Älteren und Frauen ist Rücksicht und Respekt unabdingbar. In Gegenwart von Frauen werden Streitigkeiten unterbunden, bricht eine Frau in eine derartige Situation herein, wird dieser Streit sofort beendet. Auf Wunsch einer Frau versöhnen sich sogar die zerstrittenen Parteien.
Grundstein der tscherkessischen Gesellschaft ist die Eigenschaft eines „Thamades“. Nach allgemeinem Verständnis und Gebrauch werden die „Älteren“ als „Thamade“ bezeichnet, dies ist jedoch zu ungenau. Ein „Thamade“ ist auch derjenige, der, unabhängig von seinem Alter, innerhalb einer Hochzeitgesellschaft oder einer anderen Veranstaltung die Verantwortung übernimmt. Voraussetzung ist jedoch, dass dieser Person die Regeln der „Chabze“ bekannt sind.
Die „Adyge Chabze“ hatte eine kulturformende, allgegenwärtige Prägekraft. Dieser ritterliche Geist soll auch die benachbarten Völker fasziniert haben, so dass auch diese einen Ehrenkodex im Geiste der tscherkessischen „Chabze“ entwickelten. Von krimischen Höfen bis zu georgischen Königen wurde die „Chabze“ als adeliges Ideal wertgeschätzt. Ihre Kinder sandten sie als Schüler zu tscherkessischen Honoratioren, damit auch sie anhand des tscherkessischen Ehren- und Pflichtenkodex erzogen würden.
Sicherlich ist die hoch kultivierte und mit Selbstbewusstsein idealisierte tscherkessische Lebensweise nie von allen Tscherkessen praktiziert worden. Die Gesellschaft versucht dennoch mit größter Sorgfalt, ihre Sitten und Traditionen am Leben zu erhalten und zu leben. Ihre ethnische und kulturelle Identität führt die tscherkessische (adygeische) Gesellschaft auf die etwa tausendjährigen „Adyge Chabze“ zurück.
In der Gegenwart sind die Tscherkessen, die vor allem in der Diaspora leben, vom Verlust ihrer Kultur bedroht. Dabei spielt die Assimilierung eine bedeutende Rolle, deren negative Folge sicherlich vor allem die zumeist fehlenden tscherkessischen Sprachkenntnisse der Kinder sind.
Siehe auch
Literatur
Tscherkessen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Band 15, Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1892, S. 883.
- Çetin Öner, Cornelius Bischoff: Der letzte Tscherkesse. Literaturca Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 978-3935535083
- Monika Höhlig: Kontaktbedingter Sprachwandel in der adygeischen Umgangssprache im Kaukasus und in der Türkei, LINCOM Europa, München 1997 ISBN 3-89586-083-2
- Barbara Pietzonka: Ethnisch-territoriale Konflikte in Kaukasien; Baden Baden 1995
- Bagrat Schinkuba: Im Zeichen des Halbmondes; Berlin, 1981
- Essad Bey (d.i. Lew Nussimbaum): Zwölf Geheimnisse im Kaukasus & Der Kaukasus; Berlin 1930 bzw. 1931
- J. S. Bell: Tagebuch seines Aufenthalts in Circassien während der Jahre 1837, 1838 und 1839; Pforzheim 1841
- Theophil Lapinski: Die Bergvölker des Kaukasus und ihr Freiheitskampf gegen die Russen; Hamburg 1863
- Carl Friedrich Neumann: Russland und die Tscherkessen; Stuttgart, Tübingen 1840
- Lohipha Dilek Burak: Der tschetschenische Tanz; Berlin 2002; ISBN 3-933664-12-8 (Autobiographischer Bericht eines Tscherkessen)
- Batıray Özbek: Die tscherkessischen Nartensagen; Heidelberg 1982
Weblinks
Commons: Tscherkessen – Sammlung von Bildern, Videos und AudiodateienDiaspora
- Circassian Diaspora in Turkey: Stereotypes, Prejudices and Ethnic Relations
- UNHCR: The North Caucasian Diaspora In Turkey
- Political Participation Strategies of the Circassian Diaspora in Turkey (PDF-Datei; 109 kB)
- Race Against Time for Circassian in Turkey - Can the North Caucasian diaspora in Turkey grasp an opportunity to revive their historic languages?
Einzelnachweise
- ↑ Johann-Christoph Adelung, Mithridates, oder, Allgemeine Sprachenkunde mit den Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen und Mundarten. Berlin, Voss 1806, 441; Christoph von Rommel, Caucasiarum regionum et gentium Straboniana descriptio, Leipzig, Siegfried Lebrecht, p. 68
- ↑ Allgemeine historisch-topographische Beschreibung des Kaukasus, Gotha/St. Petersburg, 1796-1797
- ↑ Johann-Christoph Adelung, Mithridates, oder, Allgemeine Sprachenkunde mit den Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen und Mundarten. Berlin, Voss 1806, 441
- ↑ H. H. Howorth, On the Westerly Drifting of Nomades from the Fifth to the Nineteenth Century. Part IV, The Circassians and White Khazars. Journal of the Ethnological Society of London 1869-1870/2, 182-192
- ↑ Hyde Clarke, On the Settlement of Britain and Russia by the English Races. Transactions of the Royal Historical Society 7, 1878, 268
- ↑ http://www.parliament.ge/index.php?lang_id=ENG&sec_id=63&info_id=31806
- ↑ Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung Geschichte Zerfall, C.H. Beck, Berlin, 1993, S. 153
- ↑ Ülkü Bilgin: Azınlık hakları ve Türkiye. Kitap Yayınevi, Istanbul 2007; S. 85. ISBN 9756051809 (Türkisch)
- ↑ Hans-Joachim Hoppe: Die Tscherkessen – ein unbekanntes Volk erwacht, Eurasisches Magazin, Ausgabe 10-11, 2. Oktober 2011
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