Vertragsrevision

Vertragsrevision

Vertragsrevisionismus (von lat. revidere – erneut ansehen, überprüfen) bezeichnet in der Geschichte der Politik das Bestreben, bestimmte, häufig in der Folge von Kriegen zu vertraglichem Recht gewordene Fakten rückgängig zu machen. Hauptsächlich sucht der Revisionismus, bestimmte, zum Territorium eines anderen Landes gehörende, Gebiete als legitimen und ursprünglich eigenen Besitz darzustellen, und deren (Rück)-Erwerb zu erreichen.

Inhaltsverzeichnis

Frankreich

Die Annexion von Elsass-Lothringen 1870/71 durch das Deutsche Reich, die wiederum die Ende des 17. Jahrhunderts erfolgte Annexion durch Frankreich rückgängig machte, war Gegenstand des französischen Revisionismus. So wurde etwa die Statue der Stadt Straßburg auf der Place de la Concorde in Paris verhüllt, als Symbol des Bestrebens, den 1871 geschlossenen Friedensvertrag zu revidieren.

Ungarn

Die mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges verbundenen Gebietsabtretungen an die Tschechoslowakei und Rumänien schürten in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg den ungarischen Revisionismus.

Weimarer Republik

An der Aushandlung des Versailler Vertrags hatten die Vertreter des Deutschen Reiches nicht teilnehmen dürfen, seine Ratifizierung erfolgte am 22. Juni 1919 im Reichstag unter der ultimativen Drohung der Siegermächte, andernfalls einzumarschieren. Daher wurde der Vertrag von der deutschen Bevölkerung nahezu ausnahmslos als illegitimer Diktatfrieden angesehen. Das Ziel, ihn zu revidieren, wurde von allen im Parlament vertretenen Parteien der Weimarer Republik getragen. Jedem Schulkind wurde neben der Weimarer Reichsverfassung eine entsprechend gestaltete Ausgabe des Versailler Vertrags übereignet. In der Öffentlichkeit wehrten sich allein kleine pazifistische Gruppen wie die Radikaldemokratische Partei und linke Zeitschriften mit geringer Auflage wie die Weltbühne oder Das Andere Deutschland gegen diesen endemischen Revisionismus.

Der Weimarer Revisionismus richtete sich insbesondere gegen die im Art. 231 des Versailler Vertrags und in seiner Mantelnote vertraglich getroffene Feststellung, Deutschland sei verantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Reparationsverpflichtungen, die im Friedensvertrag mit eben dieser These begründet wurden, waren ebenso zentraler Gegenstand der Revisionsbestrebungen. Weil diese Verantwortung von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wurde, erschienen auch die Reparationen als ungerecht. Zu diesem Eindruck trug auch die Kapitalsumme von 132 Milliarden Goldmark (ohne Zinsen) bei, die 1921 festgelegt wurde: Der letzte Reichshaushalt vor Beginn der kriegsbedingten Inflation hatte 1914 dagegen nur Einnahmen von 2,35 Milliarden Goldmark enthalten. Auch dass die Alliierten die Zahlung dieser als astronomisch empfundenen Summe wiederholt mit militärischen Maßnahmen zu erzwingen suchten (Londoner Ultimatum 1921, Ruhrbesetzung 1923), trug gleichfalls zur Delegitimierung der Reparationen bei. Zwar wurden die deutschen Zahlungsverpflichtungen im Dawes-Plan 1924 und im Young-Plan 1929/30 gesenkt, doch änderte das weder die öffentliche Meinung noch das Ziel aller Regierungen der Weimarer Republik, die als ungerecht empfundenen Reparationen noch weiter zu mindern oder ganz abzuschaffen. In der nationalistischen Propaganda wurden sie daher als Tribute bezeichnet und als Ursache aller nur denkbaren Wirtschaftsprobleme hingestellt: von der Inflation der Jahre bis 1923, über die harte Sparpolitik während der Währungsstabilisierung 1924, den Berliner Börsenkrach vom 13. Mai 1927 (Schwarzer Freitag) bis zur Massenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise. In Wahrheit waren die Reparationen mit diesen Problemen allenfalls nur leicht ursächlich verknüpft.

Die Neugestaltung der deutschen Ostgrenze, die durch den Polnischer Korridor Westpreußen ohne Volksabstimmung vom Reich abgeschnitten hatte, wodurch Ostpreußen zur Exklave wurde, war wahrscheinlich der Punkt, der die tiefsten Ressentiments auslöste und die deutsch-polnischen Beziehungen während der gesamten zwanziger Jahre vergiftete. Erst der Deutsch-polnische Nichtangriffspakt von 1934 entspannte einstweilen das Verhältnis der beiden Länder.

Ein weiteres Argumentationsmuster der revisionistischer Agitation war, dass der Anschluss, für den die österreichische Nationalversammlung sich mit übergroßer Mehrheit bereits im November 1918 ausgesprochen hatte, durch den Vertrag von Saint-Germain und den von Versailles unmöglich geworden war. Die Gegner der Weimarer Republik bezogen sich hier auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Ankündigungen des amerikanische Präsidenten Woodrow Wilson in dieser Frage. Andere Punkte des Versailler Vertrags wurden kaum zur revisionistischen Agitation genutzt. Das betraf vor allem die Änderungen der West- und der Nordgrenze, die Rüstungsbeschränkungen und den Verlust des Kolonialreichs.

Der in der Gesellschaft weit verbreitete Revisionismus begünstigte die rechtsradikalen Parteien der Republik, insbesondere die NSDAP. Mittels der Dolchstoßlegende nutzten rechtsextreme Kräfte den Versailler Vertrag für ihre Agitation gegen die Weimarer Republik und das Ausland, indem sie verschwörungstheoretisch die demokratischen Parteien und vor allem die SPD für mitverantwortlich an der Niederlage im Weltkrieg und damit auch am Versailler Vertrag erklärten. Insbesondere von der NSDAP wurde diese Verschwörungstheorie zusätzlich antisemitisch aufgeladen, indem behauptet wurde, der Versailler Vertrag sei das Werkzeug von Hochfinanz und Weltjudentum zur Ausbeutung deutscher Arbeiter. Zentrales Motto all dieser Gruppen war die kompromisslose Radikalforderung: „Weg mit Versailles!“. Die von der SPD und den gemäßigten bürgerlichen Parteien getragene Verständigungspolitik Gustav Stresemanns war dagegen auf Kompromisse in der Außenpolitik angelegt und wurde deshalb von den Rechtsradikalen als „Erfüllungspolitik“ und „Vaterlandsverrat“ denunziert.

Auch die Kommunisten agitierten für eine radikale Revision des Versailler Vertrags und gegen seine angeblichen Erfüllungsgehilfen von der SPD und den gemäßigt-bürgerlichen Parteien. 1923 deutete zum Beispiel Karl Radek den Friedensvertrag als Werkzeug des „Ententekapitals“, also des französischen und angloamerikanischen Finanzkapitals zur Ausbeutung deutscher Arbeiter. Clara Zetkin argumentierte im gleichen Jahr, der Sturz der Regierung diene „zur Befreiung des Vaterlands“ von den französischen Besatzungstruppen. 1930 verkündete Die Rote Fahne eine „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des Deutschen Volkes“, woraufhin der sozialdemokratische Vorwärts verwundert konstatierte: „Die KPD wird nationalistischer als Hitler“.[1]

Dennoch war diese Politik der demokratischen und halbdemokratischen Regierungen der Weimarer Republik recht erfolgreich: Ihnen gelang es in den Jahren 1925 bis 1932, die französische Besetzung des Rheinlands fünf Jahre früher zu beenden, als im Versailler Vertrag festgeschrieben, die Reparationen bis auf einen symbolischen Restbetrag streichen zu lassen und die Zusicherung zu erhalten, dass Deutschland rüstungspolitisch mit den ehemaligen Siegermächten gleichberechtigt war.

Die Früchte der revisionistischen Propaganda erntete 1933 dann die NSDAP, die ab 1929 außenpolitische Themen in den Mittelpunkt ihrer Agitation gerückt hatte. An die Macht gelangt, drosselte Hitler dann das Revisionstempo teils, teils aber erhöhte er es erheblich: 1935 begann die deutsche Aufrüstung, 1936 marschierte die Wehrmacht ins entmilitarisierte Rheinland, 1938 kamen Österreich und das Sudetenland „heim ins Reich“. Diese spektakulären Erfolge der nationalsozialistischen Revisionspolitik, die auch auf die diplomatischen Vorarbeiten vor allem Stresemanns und Heinrich Brünings basierte, trug mit bei zur begeisterten Massenzustimmung der deutschen Bevölkerung zum Nazi-Regime, wie sie sich in den – zum großen Teil nicht gefälschten – Volksabstimmungen von 1933, 1936 und 1938 zeigte.

Bundesrepublik Deutschland

Nach 1945 wurde die Oder-Neiße-Linie, die im Zuge des Potsdamer Abkommens durch die Alliierten als polnische Westgrenze festgelegt wurde, von der Bundesrepublik Deutschland lange Jahre nicht anerkannt. Insbesondere die Vertriebenenverbände wollten die Oder-Neiße-Linie auch nach 1970 nicht als deutsche Ostgrenze akzeptieren. Erst im Zuge der Wiedervereinigung 1990 wurde die Oder-Neiße-Linie vom deutschen Bundestag als deutsch-polnische Grenze akzeptiert. Mittlerweile vertritt nur noch eine kleine Minderheit in Deutschland öffentlich revisionistischen Standpunkte. Die Vertriebenenverbände haben ihre Anliegen mittlerweile auf persönliche Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht reduziert, was definitionsgemäß nicht als Revisionismus bezeichnet wird.

Einzelnachweise

  1. Christian Striefler, Kampf um die Macht. Kommunisten und Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik, Propyläen Verlag Berlin 1993, S. 96 und 398

Siehe auch


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