- Canossagang
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Als Gang nach Canossa bezeichnet man den Italienzug König Heinrichs IV. vom Dezember 1077 von Speyer aus nach Rom, durch welchen er die Vereinigung des für Februar 1077 nach Augsburg zur Wahl eines neuen Königs eingeladenen und sich auf dem Weg befindenden Papstes Gregor VII. mit den deutschen Fürsten (Fürstenopposition) verhindern wollte. Der Papst suchte Zuflucht auf der Burg Canossa der papsttreuen Markgräfin Mathilde von Tuszien, vor welcher Heinrich dann die Lösung seiner Person vom Kirchenbann (dem Anathem) zu erlangen versuchte. (Ob es aber tatsählich zu dem für Laien vorgesehene Ritual der Kirchenbuße kam, ist umstritten, da alle Überlieferungen von Parteigängern des Papstes stammen.)
Im heutigen Sprachgebrauch wird bisweilen auch ein als erniedrigender Bittgang im übertragenen Sinne als ein „Gang nach Canossa“ bezeichnet.
Inhaltsverzeichnis
Die Vorgeschichte
Der „Gang nach Canossa“ war ein wichtiger Meilenstein im Investiturstreit. Im 11. und 12. Jahrhundert stritten Kaiser und Papst um das Verhältnis von weltlicher zur geistlichen Macht und um die Rolle der Reichskirche. Vordergründig ging es dabei um das Recht der Investitur, also um das alleinige Recht der Einsetzung von Bischöfen und Äbten in ihre Kirchenämter, deren Inhaber höchste Funktionen im Staatsapparat des Kaiserreiches ausübten.
Papst Gregor VII. bannt König Heinrich IV.
Der italienische Papst Gregor VII. (der unter Missachtung des Papstwahldekrets von 1059 ins Amt kam und auf welchen dessen Opposition am Weihnachtstag 1075 einen missglückten Anschlag verübte) verhängte im Verlaufe des Investiturstreits über König Heinrich IV. den Kirchenbann. Dieser hatte in einer für ihn sehr günstigen politischen Lage am 24. Januar 1076 auf der Reichssynode in Worms ein in scharfem Ton abgefasstes Mahnschreiben des Papstes (vom 8.12.1075 wegen der „Mailänder Angelegenheit“) mit einer Gehorsamsaufkündigung der deutschen Bischöfe beantwortet und vom Papst, der ganz bewusst mit seinem Taufnamen Hildebrand angeredet wurde, dessen eigene Abdankung verlangt.
„Ich, Heinrich, durch die Gnade Gottes König, sage dir mit allen meinen Bischöfen: Steige herab, steige herab, du auf ewig zu Verdammender“
Auf der römischen Fastensynode wurde das Schreiben des deutschen Königs unter großer Entrüstung der Anwesenden verlesen, und Gregor VII. reagierte umgehend mit der Exkommunikation und Suspendierung Heinrichs, die er in Form eines Gebets an den Apostelfürsten Petrus verkündete:
„spreche ich König Heinrich (...) die Herrschaft über das Reich der Deutschen und Italiens ab, löse alle Christen vom Eid, den sie ihm geleistet haben (...) und untersage, dass ihm irgendjemand fortan als König diene (... und) binde ich ihn als Dein [i.e. Gottes] Stellvertreter mit der Fessel des Kirchenbannes“
Dies bedeutete aus mittelalterlicher Sicht sowohl in spiritueller als auch politischer Hinsicht ein großes Maß an Handlungsunfähigkeit bzw. Vogelfreiheit. In spiritueller Hinsicht waren Heinrich alle kirchlichen Sakramente wie z.B. Heirat, Absolution, Krankensalbung und ein Begräbnis auf einem kirchlichen Friedhof verwehrt. Dabei muss beachtet werden, dass die hohen Geistlichen, Bischöfe und Äbte in Heinrichs Umfeld durchaus anders dachten, speziell, da sie überwiegend diesen Papst nicht als obersten Bischof anerkannten. Aus Rom kam also der normative Bann, von Heinrich und seinen Beratern wurde dies negiert, da man auch den Papst ablehnte.
Gleichzeitig bedeutete das Ausstoßen eines Menschen aus der römisch-katholischen Kirche im Mittelalter das Aufkündigen aller persönlichen und rechtlichen Bindungen zwischen der gebannten Person und seinen Untergebenen, solange diese den Papst als oberste Autorität sahen. Mit diesem Anspruch muss man jedoch vorsichtig sein, da sich ein Vasall vom König nur dann lossagen würde, wenn er in sicherem, also dem papstnahen Umfeld ist. Die Macht wurde Heinrich also nicht mit einem Paukenschlag, sondern Stück für Stück und unter Mitwirkung innerstaatlicher Unruhen entzogen. Der papstnahe Bonizo von Sutri fasste die Bedeutung des Bannes in folgende Worte:
„Als die Nachricht von der Bannung des Königs an die Ohren des Volkes drang, erzitterte unser ganzer römischer Erdkreis“
Die Reichsversammlung von Tribur
Durch den Partikularismus im deutschen Reichsteil hatte der weltliche Adel gegenüber Heinrich IV. Machtpositionen aufgebaut, die weit über seine Lehnsrechte hinausgingen. Eine wie auch immer geartete Schwächung Heinrichs IV. hätte aus ihrer Sicht eine weitere Schwächung der Zentralgewalt dargestellt und partikulare Interessen vorangetrieben. In diesem Sinn ist der Investiturstreit auch ein Meilenstein in der jahrhundertelangen Auseinandersetzung zwischen Zentralgewalt und den „zentrifugalen Kräften”, d.h. dem Adel, der beharrlich daran arbeitete, sich in den ihm vom König zu Lehen (Fahnenlehen) gegebenen Herzogtümern auf Dauer festzusetzen, um so die Lehnsherrschaft des Königs abzuschütteln. Der Adel baute im Laufe der Zeit die Gebiete, mit welchen er als finanzielle Grundlage ihrer Ämter eigentlich nur zeitlich begrenzt belehnt wurde, durch die Installierung einer eigenen Verwaltung und Bürokratie mit Ministerialen zu dynastischen Territorien (siehe auch Territorialisierung bei Norbert Elias) aus und entzog diese Amtsgebiete und die mit ihnen verbundenen Ämter dem eigentlichen Lehnsherren, dem König. (D.h. Verlust der Gewalt über die freie Vergabe der höchsten Staatsämter sowie Verlust der Finanzen und der sicheren militärischen Gefolgschaft aus diesen Gebieten.)
Der Investiturstreit zwischen König und Papst um das in Deutschland vorherrschende sogenannte Reichskirchensystem (d.h. Einsetzung gebildeter und zölibatärer, also somit nicht dynastisch orientierter Adliger in hohe Staats-/Kirchenämter sowie die Zepterlehen, aus welchen diese sich finanzierten) bot ihnen die Gelegenheit, mit einem Schlag ihre Interessen sehr weit voranzutreiben.
Dennoch räumten die Fürsten auf der Reichsversammlung von Tribur im Oktober 1076 König Heinrich die damals übliche Frist von einem Jahr und einem Tag ein, um sich vom Bann zu lösen. Bis zum 2. Februar 1077 (ursprünglich schon am 6. Januar) sollte Heinrich sich vom Bann befreien und sich in Augsburg dem Urteil des Papstes unterwerfen.
Die Bußhandlung auf der Burg Canossa
Um seine volle Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen, zog der damals 26-jährige Heinrich dem Papst nach Italien entgegen. Die südlichen Herzöge versperrten ihm allerdings die von ihnen kontrollierten einfachen Alpenübergänge, so dass Heinrich den weiten und gefährlichen Umweg über Burgund und den Mont Cenis nehmen musste. Der anstrengende Alpenübergang wurde von dem Geschichtsschreiber Lampert von Hersfeld, einem Anhänger des Papstes, in seinen Annalen (zum Jahr 1077) wie folgt beschrieben:
- Sie krochen bald auf Händen und Füßen vorwärts, bald stützten sie sich auf die Schultern ihrer Führer; manchmal auch, wenn ihr Fuß auf dem glatten Boden ausglitt, fielen sie hin und rutschten ein ganzes Stück hinunter; schließlich gelangten sie doch unter großer Lebensgefahr in der Ebene an. Die Königin und die anderen Frauen ihres Gefolges setzten sie auf Rinderhäute, und (...) zogen sie darauf hinab.
Heinrich und Gregor trafen schließlich auf der Burg Canossa der Mathilde von Tuszien aufeinander. Lampert von Hersfeld beschrieb die Bußhandlung des Königs so:
- (...) hier stand er nach Ablegung der königlichen Gewänder ohne alle Abzeichen der königlichen Würde, ohne die geringste Pracht zur Schau zu stellen, barfuß und nüchtern, vom Morgen bis zum Abend (...). So verhielt er sich am zweiten, so am dritten Tage. Endlich am vierten Tag wurde er zu ihm [Gregor] vorgelassen, und nach vielen Reden und Gegenreden wurde er schließlich (...) vom Bann losgesprochen.
Das Ausharren vor der Burg im Büßerhemd, mehrere Tage (25.–28. Januar 1077) auf der Erde, um den Papst zur Aufhebung des kirchlichen Bannes zu bewegen, stellt aus mittelalterlicher Sicht nur eine formale Bußhandlung dar, welche gebräuchlich und streng formalisiert war. Die sehr drastische und bildhafte Darstellung in der einzigen ausführlichen Quelle bei Lampert von Hersfeld wird allerdings von der neueren Forschung als tendenziös und propagandistisch bewertet, da Lampert Parteigänger des Papstes und der Adelsopposition war. Die zweite wichtige Quelle zum Gang nach Canossa stammt von Papst Gregor VII. selbst. Dieser verbreitete seine Version von den Ereignissen in einem Brief an alle Erzbischöfe, Bischöfe und sonstigen geistlichen Funktionsträger des Reiches. Nach der Darstellung Lamperts war der ganze Akt im Voraus langwierig ausgehandelt und sein Ablauf festgelegt worden, eine bei der deditio durchaus gängige Praxis der politischen Kommunikation im Mittelalter.
Heinrich IV. erlangte durch die Aufhebung des Bannes einen Großteil seiner Handlungsfreiheit zurück, hatte letztendlich also sein Ziel erreicht.
Neudeutung durch Fried
Erst jüngst hat der angesehene Mittelalterhistoriker Johannes Fried eine radikale Neudeutung des Gangs nach Canossa vorgeschlagen (Fried, Der Pakt von Canossa). Durch die Berücksichtigung vernachlässigter Quellen stellte Fried die These auf, dass die lange Zeit gültige Chronologie der Ereignisse falsch sei. Demnach hätte Heinrich bereits seit dem Spätsommer 1076 (also vor Tribur) Kontakt zum Papst gesucht, um zu einer Verständigung zu gelangen und so seine innenpolitisch angespannte Lage zu entschärfen. Der Papst ging darauf auch ein, um so eine friedliche konsensuelle Lösung zu erzielen. Da Heinrich aber nicht als Gebannter nach Augsburg reisen wollte und der Papst sich mit der Reise nach Norden Zeit ließ, reiste er direkt nach Italien, wo der Papst den gebannten König willkommen hieß und ihn nach einem rein formellen Bußakt am 25. Januar 1077 vom Bann löste. Nach Fried hatte es also nie einen für den König eventuell demütigen Bußgang gegeben, sondern ein Treffen zwischen König und Papst, das längere Zeit vorbereitet worden war. Heinrich und Gregor hätten auch am 28. Januar 1077 einen Vertrag abgeschlossen, dessen genauer Inhalt aber unbekannt ist; ein damit zusammenhängender Pakt trat nicht mehr in Kraft, da die Gegner des Papstes und des Königs die Einigung hintertrieben. Nach Frieds Interpretation zeigt der Gang Heinrichs nach Canossa die Bereitschaft von König und Papst, nicht im Konflikt, sondern im Konsens und auf die Vernunft bedacht zu handeln, was in der Folgezeit verzerrt dargestellt wurde. Dieser mit den Quellenzeugnissen nur schwer in Einklang zu bringenden Position haben jüngst die Mediävisten Gerd Althoff und Stefan Weinfurter entschieden widersprochen.[1]
Spätere Interpretationen des Bußganges
Im 19. Jahrhundert wurde Canossa zum Sinnbild kirchlicher Anmaßung und deutscher Schande. Die Künstler der Zeit entdecken die Dramatik der Situation und interpretieren sie in einen neu erwachten Nationalstolz um.
Am 14. Mai 1872 wurde der Bußgang vom damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck in seiner Rede vor dem Reichstag mit dem Satz „Seien Sie außer Sorge, nach Canossa gehen wir nicht – weder körperlich noch geistig” aufgegriffen. Dem war ein Streit mit der katholischen Kirche vorausgegangen, der so genannte Kulturkampf, in dem der Papst den deutschen Gesandten beim Heiligen Stuhl abgelehnt hatte. Deshalb wird heute der „Gang nach Canossa“ im übertragenen Sinne als Bezeichnung für einen erniedrigenden Bittgang verwendet. Allerdings entspricht diese Bewertung nicht den historischen Tatsachen, was in heutiger Sicht den wahren Sinngehalt des Canossa-Ganges Heinrichs IV. verstellt. Diese spätere Interpretation war eher anachronistisch, da die Probleme der eigenen Zeit in das Mittelalter projiziert wurden. Auch die Redewendung „in Sack und Asche“ für einen reuigen, demütigen Menschen wird auf dieses geschichtliche Ereignis zurückgeführt, da Heinrich sein Bitten um Vergebung, um Aufhebung der Acht auch durch sein äußerlich demutsvolles Auftreten unterstrich.
Quellen
- Lampert von Hersfeld: Annalen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, ISBN 3-534-00176-1 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 13; Text lateinisch-deutsch)
Literatur
- Frederik Berger: Canossa. Rütten und Loening, Berlin 2004, ISBN 3-352-00713-6
- Egon Boshof: Die Salier. Kohlhammer, Stuttgart 2000, ISBN 3-17-016475-9
- Johannes Fried: Der Pakt von Canossa. Schritte zur Wirklichkeit durch Erinnerungsanalyse. In: Die Faszination der Papstgeschichte. Neue Zugänge zum frühen und hohen Mittelalter. Hrsg. v. Wilfried Hartmann, Klaus Herbers (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii, Bd. 28). Böhlau, Köln-Weimar-Wien 2008, S. 133ff.
- Vito Fumagalli: Mathilde von Canossa. Wagenbach, Berlin 1998, ISBN 3-8031-2305-4
- Christoph Stiegemann, Matthias Wemhoff (Hrsg.): Canossa 1077 - Erschütterung der Welt. Hirmer, München 2006, ISBN 3-7774-2865-5 (zweibändiger Ausstellungskatalog)
- Stefan Weinfurter: Canossa. Die Entzauberung der Welt. Beck, München 2006, ISBN 3-40-653590-9
- Harald Zimmermann: Heinrich IV. (1056–1106). In: Helmut Beumann (Hrsg.): Kaisergestalten des Mittelalters. Beck, München 1984, ISBN 3-406-30279-3, S. 116–134
Weblinks
- Canossa – Erschütterung der Welt. Geschichte, Kunst und Kultur am Aufgang der Romanik. Ausstellung vom 21. Juli bis zum 5. November 2006 in Paderborn
- Der Gang nach Canossa und die Erschütterung der Welt von Christiane Ruhmann - Heimatpflege in Westfalen, 19. Jahrgang – 2/2006, PDF
- Der König kniet..., Artikel aus: Die Zeit, 20. Juli 2006
- Während der zweiwöchigen Fürstenversammlung, die ab 16. Oktober 1076 in Tribur gehalten wurde, entschloss sich König Heinrich IV. über die schneebedeckten Alpen nach Canossa zu reisen, Artikel aus: VinMET
- Johannes Fried, Art. Wir sollten nach Canossa gehen und die Legende vergessen, FAZ Nr. 23/2009 vom 28. Januar 2009, S. N4.
- Im Büßergewand vor Canossa
Einzelnachweise
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