Heinrich Tillessen

Heinrich Tillessen

Heinrich Tillessen (* 27. November 1894 in Köln; † 12. November 1984 in Koblenz) war einer der Mörder von Matthias Erzberger, dem Schriftsteller und Politiker im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Zentrumspartei), dem Leiter der Waffenstillstandskommission 1918, Unterzeichner des Waffenstillstandsabkommens von Compiègne und späteren Reichsfinanzminister. Sein Bruder war Karl Tillessen, der Stellvertreter von Hermann Ehrhardt in der Organisation Consul. Der Mittäter war Heinrich Schulz.

Inhaltsverzeichnis

Überblick

Das Gerichtsverfahren gegen Heinrich Tillessen war eines der von Öffentlichkeit und juristischer Fachwelt am meisten und intensivsten beachtete Gerichtsverfahren im Nachkriegsdeutschland, in dem sich plakativ vielzählige Probleme der gerichtlichen Aufarbeitung von Verbrechen vor und während der Nazi-Zeit darstellen, insbesondere das Weiterwirken nazistischen Unrechts.

Jugend und erste Militärzeit

Heinrich Tillessens Vater Karl Tillessen war Artillerieoffizier, zuletzt im Range eines Generalleutnants. Die Mutter Karoline war Holländerin. Heinrich Tillessen wuchs zusammen mit 10 Geschwistern (3 Brüder und 7 Schwestern) in Köln, Metz und Koblenz – den Garnisonsstandorten seines Vaters – auf. Die Familie galt als streng katholisch. Der Vater wurde 1904 in den Ruhestand versetzt. Die Familie zog darauf nach Koblenz. Nach dem Tod von Vater und Mutter (1910 und 1911) verließ Heinrich Tillessen das Gymnasium mit der so genannten Primarreife und trat am 1. April 1912 als Seekadett in den Dienst der kaiserlichen Marine ein. Am 12. April 1914 wurde er zum Fähnrich zur See, am 22. März 1915 zum Leutnant zur See befördert.

Während des Ersten Weltkrieges tat er zunächst Dienst als Wachoffizier auf kleineren Einheiten. Am 13. Juli 1917 wurde er zur 17. Torpedoboot-Halbflottille versetzt, wo er unter dem Kommandanten Hermann Ehrhardt als Wachoffizier auf dem Führerboot eingesetzt wurde. Im Rahmen der Auslieferung der deutschen Kriegsflotte überführte er verantwortlich ein Torpedoboot nach Scapa Flow. Nach der Selbstversenkung der Flotte dort musste er bis Ende Juli 1920 in englischer Kriegsgefangenschaft bleiben. Am 30. Juli 1920 wurde er auf eigenen Wunsch aus der Marine entlassen.

Der Mord

Heinrich Tillessen gelang es danach nicht, in einem bürgerlichen Beruf Fuß zu fassen. Er wurde Mitglied der Marine-Brigade Ehrhardt seines früheren Kommandanten und nahm im März 1920 am Kapp-Putsch teil. Nach der Auflösung der Marine-Brigade Ehrhardt, die bereits am 29. Februar 1920 von den Siegermächten angewiesen worden war, begab sich Heinrich Tillessen in die Münchner Zentrale der Nachfolgegruppierung Organisation Consul, die ebenfalls von Hermann Ehrhardt geführt wurde und deren erklärtes Ziel die Durchführung von Fememorden war (siehe hierzu auch Fememorde in der Weimarer Republik). Der Operationschef in der Münchner Zentrale war Manfred Freiherr von Killinger, ebenfalls früherer Torpedoboot-Kommandant. Von diesem erhielten Heinrich Tillessen und Heinrich Schulz im August 1921 den persönlichen Auftrag, Matthias Erzberger zu ermorden. Am 26. August 1921 vormittags trafen die beiden an einsamer Stelle im Schwarzwald bei Bad Griesbach auf Erzberger, der dort mit seinem Parteifreund Carl Diez spazieren ging. Die Täter gaben mehrere Pistolenschüsse ab und verletzten beide schwer. Erzberger versuchte, bergab zu fliehen, brach aber nach 10 Metern zusammen. Die Täter stiegen ihm nach und töteten ihn mit Kopfschüssen aus nächster Nähe.

Die Flucht

Die Täter begaben sich zunächst zurück nach München. Die Ermittlungsbehörden konnten jedoch sehr schnell ihre Identität ermitteln, die sie kaum zu verbergen versucht hatten, und lösten eine steckbriefliche Fahndung mit Bildern der Täter aus. Diese verließen München am 31. August 1921. Heinrich Tillessen versteckte sich zunächst in den Alpen, wechselte dann über Salzburg ins Burgenland. Im November und Dezember 1921 leben beide Täter unter falschem Namen in Budapest. Sie wurden dort aber erkannt, verließen die Stadt, zogen durch Ungarn und verdingten sich schließlich als Gärtner in der Nähe von Budapest, wo sie später wieder erkannt wurden. Ein Auslieferungsersuchen Deutschlands wurde von Ungarn mit dem Hinweis auf das Fehlen eines entsprechenden Abkommens abgelehnt. Von seinen politischen Freunden in Deutschland nochmals mit einem falschen deutschen Pass ausgestattet, begab sich Heinrich Tillessen Ende 1925 nach Spanien. In Madrid fand er Arbeit und lebte jahrelang in bescheidenen bürgerlichen Verhältnissen. Den Kontakt zu anderen Deutschen mied er.

Rückkehr und zweite Militärzeit

Im Dezember 1932 kehrte Heinrich Tillessen nach Deutschland zurück und fand in Köln bei Geschwistern Unterschlupf. Nachdem am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, unterzeichnete Hindenburg bereits am 21. März 1933 die so genannte Straffreiheitsverordnung von 1933, in deren ersten Absatz es heißt:

„Für Straftaten, die im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes, zu ihrer Vorbereitung oder im Kampfe für die deutsche Scholle begangen sind, wird Straffreiheit (…) gewährt.“

Als Konsequenz dieses Erlasses wurden alle Fememörder der vorausgehenden Jahre straffrei gestellt. Für einzelne begann geradezu eine Heldenverehrung (vergleiche hierzu Walther Rathenau und Burg Saaleck). Tillessen musste sich nicht weiter verstecken. Er fand wieder Arbeit, baute eine gut bürgerliche Existenz auf, heiratete und lebte in Düsseldorf, Mannheim und Heidelberg. Am 4. September 1939 wurde Tillessen zum Kriegsdienst eingezogen, kurz darauf aber für borddienstunfähig erklärt. Er verbrachte die Kriegsjahre an Land im Dienste der deutschen Admiralität und wurde Ende 1944 im Range eines Korvettenkapitäns aus der Marine entlassen. Er begab sich zu seiner Familie nach Heidelberg.

Verhaftung und erstes Verfahren

In Heidelberg wurde Heinrich Tillessen – nach der Besetzung der Stadt durch amerikanische Truppen – als Nationalsozialist denunziert und am 4. Mai 1945 von der amerikanischen Militärpolizei festgenommen und verhört. Er bekannte von sich aus – ohne direkt danach gefragt worden zu sein – Mittäter am Mord von Matthias Erzberger zu sein. Heinrich Tillessen blieb daraufhin in Haft. Am 15. August 1945 wurde förmlicher Haftbefehl erlassen.

Am 13. Mai 1946 wurde er nach Freiburg verlegt, um sich vor den zuständigen badischen Gerichten zu verantworten. Am 26. August 1946, genau 25 Jahre nach der Tat, wurde Klage beim Landgericht Offenburg zur Verhandlung vor der Strafkammer eingereicht. Die Kammer lehnte jedoch mit Beschluss vom 10. September 1946 die Eröffnung der Hauptverhandlung ab, da nach ihrer Ansicht Straffreiheit nach der Straffreiheitsverordnung von 1933 bestand. Die Anklage legte hiergegen am 13. September 1946 Beschwerde beim Oberlandesgericht in Freiburg ein und argumentierte, die Straffreiheitsverordnung von 1933 sei nazistisches Unrecht, das durch den alliierten Kontrollrat und die Militärregierungen für nichtig erklärt worden sei.

Die zuständige Kammer des Oberlandesgerichtes hob am 30. September 1946 den Beschluss vom 10. September 1946 auf und ordnete die Eröffnung der Hauptverhandlung an. Allerdings folgte die Kammer des Oberlandesgerichts nicht in allen Punkten der Argumentation der Anklage: Ausdrücklich verwies sie darauf, dass sie die Straffreiheitsverordnung von 1933 für anwendbar halte. Andererseits meinte sie, es sei eine Verurteilung der Tat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 zu prüfen. Die Hauptverhandlung fand im November 1946 statt. Die Anklage forderte die Todesstrafe, die Verteidigung Freispruch unter Berufung auf die Straffreiheitsverordnung von 1933. Das Urteil wurde bereits am 29. November 1946 vom Kammervorsitzenden Göring verkündet: Freispruch unter Anwendung der Straffreiheitsverordnung von 1933. Die Anklage legte sofort Revision ein und verhinderte damit die Rechtskraft des Urteils.

Intervention der Besatzungsmacht und zweites Verfahren

Das Echo auf dieses Urteil war enorm: Die Presse verdammte es als „Schandurteil“, und die in Freiburg versammelte verfassungsgebende Versammlung des Landes Baden protestierte in einer spontanen Resolution auf das „entschiedenste“.

Am konsequentesten reagierten aber die französischen Besatzungsorgane: Heinrich Tillessen wurde am Tage seiner Haftentlassung vom französischen Geheimdienst abgefangen, nach Frankreich verbracht und dort interniert. Der Vorsitzende der urteilenden Kammer, Landgerichtsdirektor Göring, wurde abberufen, dann beurlaubt und zeitnah in den Ruhestand versetzt.

Das französische Tribunal Général mit Sitz in Rastatt bei Baden-Baden als damals oberstes Gericht für alle Zivilsachen in Baden zog das Verfahren an sich. Dieses Gericht war ausschließlich mit französischen Richtern besetzt; auch die Anklage wurde von einem französischen Juristen vertreten. Bereits am 7. Januar 1947 wurde sein Urteil verkündet: Das Urteil des Landgerichts Offenburg wurde aufgehoben und das Verfahren zur neuerlichen Verhandlung an das Landgericht in Konstanz verwiesen unter der Auflage, dass die Straffreiheitsverordnung von 1933 nicht angewandt werden dürfe. Diese sei nazistisches Unrecht, soweit sie dazu diene, Straftaten aus nazistischem Geist straffrei zu stellen. Heinrich Tillessen wurde eine nazistische Gesinnung zugesprochen. Weiter entschied das Tribunal Général, das Kontrollratsgesetz Nr. 10 sei anzuwenden.

Die zweite Hauptverhandlung fand vom 25. bis 28. Februar 1947 in Konstanz statt unter Vorsitz des Landgerichtsdirektors Anton Henneka, der später von 1951 bis 1968 Richter am Bundesverfassungsgericht war.[1] Die Anklage forderte die Todesstrafe, die Verteidigung plädierte nun – um diese abzuwenden – auf Totschlag. Das Gericht sprach Heinrich Tillessen schuldig des Mordes und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10. Das Strafmaß war 15 Jahre Freiheitsentzug. Das Urteil war rechtskräftig.

Die Begnadigung

Bald nach der Urteilsverkündung wurden von der Ehefrau und dem Verteidiger Gnadengesuche gestellt. Im Mai 1952 erhielt Heinrich Tillessen Haftverschonung, im Dezember 1952 wurde die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. Im März 1958 wurde die Strafe auf dem Gnadenwege erlassen. Matthias Erzbergers Witwe hatte sich für eine Begnadigung ausgesprochen.[2]

Heinrich Tillessen fand wieder Arbeit, lebte in Heidelberg und Frankfurt sowie im hohen Alter in Konstanz. Er verstarb im 90. Lebensjahr.

Literatur

  • Cord Gebhardt: Der Fall des Erzberger-Mörders Heinrich Tillessen. Ein Beitrag zur Justizgeschichte nach 1945. Mohr, Tübingen 1995 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Band 14), ISBN 3-16-146490-7.
  • Reiner Haehling von Lanzenauer: Der Mord an Matthias Erzberger. Verlag der Gesellschaft für Kulturhistorische Dokumentation, Karlsruhe 2008 (Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe, Band 14). ISBN 3-922596-71-1.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Kurzbiografie Anton Henneka: [1]
  2. Badisches Tagblatt Nr.267 vom 15. Dezember 1952

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