Rudolf Degkwitz (senior)

Rudolf Degkwitz (senior)

Rudolf Degkwitz (* 19. Januar 1889 in Ronneburg; † 21. Mai 1973 in Emmendingen) war ein deutscher Ordinarius für Kinderheilkunde, der 1944 wegen seiner Kritik am NS-Regime vom Volksgerichtshof zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Rudolf Degkwitz entstammte einer wohlhabenden konservativen Kaufmannsfamilie in Thüringen, besuchte das Gymnasium in Altenburg und bestand 1909 sein Abitur in Stralsund. Er studierte an der Universität Lausanne zwei Semester Naturwissenschaften. Anschließend absolvierte er ein Militärdienstjahr. Ab 1911 belegte er in München das Studienfach Medizin. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges meldete sich Degkwitz als Freiwilliger, kam an der Westfront zum Einsatz und wurde in der Schlacht um Verdun schwer verwundet. Nach seiner Genesung setzte er sein Studium an der Universität München fort und schloss es 1916 mit dem medizinischen Staatsexamen ab. Er erhielt mehrere Kriegsauszeichnungen und wurde 1919 als Oberarzt der Reserve aus dem Heeresdienst entlassen.

Während der Novemberrevolution nahm er eine gegenrevolutionäre Haltung ein, verteilte in der München Garnison Flugblätter und wurde vom Arbeiter- und Soldatenrat einige Tage in Haft genommen. 1919 schloss er sich dem Freikorps Oberland unter dem Hauptmann Josef Römer an und nahm an einem Einsatz zur Bekämpfung der Münchner Räterepublik teil.

Über Rudolf Heß kam er Anfang der 1920er Jahre in Kontakt mit der NSDAP, nahm an Diskussionsabenden in Münchener Bierstuben teil und lernte Adolf Hitler kennen. Degkwitz, seit 1923 Mitglied der NSDAP, beteiligte sich am 9. November 1923 am Marsch auf die Feldherrnhalle.[1]

Mitte der 1920er Jahre kam es innerhalb des zum Bund Oberland umgewandelten Freikorps zum Umbruch, insbesondere Josef Römer stellte sich offen auf die Seite der Arbeiterbewegung und bekundete Sympathien für den Kommunismus. Auch Rudolf Degkwitz nahm Abstand von seiner ursprünglichen Position, setzte sich für die Weimarer Republik und die Parlamentarische Demokratie ein und vertrat schließlich „einen konsequent liberalen Standpunkt“.[2]

Ab 1919 war Degkwitz an der Universitätsklinik München als Kinderarzt tätig. Einen Namen machte er sich insbesondere durch die Erfindung der passiven Masernschutzimpfung. Degkwitz wurde 1925 Professor der Kinderheilkunde an der Universität Greifswald, ab 1932 Ordinarius für Kinderheilkunde an der Universität Hamburg und Chefarzt der Kinderklinik im Universitätskrankenhaus Eppendorf.

Im Dritten Reich

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nahm Degkwitz in seiner Vorlesung gegen das aggressive Auftreten des nationalsozialistischen Studentenführers Wolff Heinrichsdorff Stellung und wurde daraufhin im Mai 1933 für ein halbes Jahr vom Dienst suspendiert.[3] Gleichwohl unterzeichnete er am 11. November 1933 das Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und bemühte sich, obwohl er zwischenzeitlich aus der NSDAP ausgeschieden war, 1933 und 1937 erfolglos um einen Wiedereintritt in die Partei. Dennoch wandte er sich weiterhin öffentlich gegen die politische Entwicklung, er bezeichnete den Reichstagsbrandprozess im Herbst 1933 als makabres Schauspiel und sprach sich gegen Denunziantentum, Führerkult und die Militarisierung des Alltags aus. Er kritisierte die Reglementierung der Wissenschaft und der Kultur und engagierte sich als Christ und Humanist gegen Antisemitismus und die Verfolgung der Juden, wandte sich gegen die im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort praktizierte Kindereuthanasie und äußerte sich ab Kriegsbeginn offen gegen die sich „anbahnende europäische Katastrophe“.[4] Zugleich war der Verfasser eines Beitrages über Vererbung und Disposition bei Infektionskrankheiten des von Just 1940 herausgegebenen Handbuches der Erbbiologie des Menschen. Ab 1940 gehörte Degkwitz dem Senat der Kolonialärztlichen Akademie der NSDAP an.[1]

Er unterstützte die candidates of humanity, eine Gruppe junger Ärzte am UKE, die in Opposition zum NS-Regime standen, und von denen ab Sommer 1943 im Zusammenhang mit der Verfolgung der Weißen Rose Hamburg etliche von der Gestapo inhaftiert wurden. Er intervenierte mit Protestschreiben gegen Vernehmungen und Verhaftungen.

Degkwitz selbst wurde schließlich von seinem Kollegen, dem Dermatologen Paul Mulzer, nach regimekritischen Äußerungen angezeigt.[1] Am 22. September 1943 wurde er verhaftet, zunächst im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel untergebracht und dann als Untersuchungshäftling in die Strafanstalt Berlin-Tegel verlegt. Am 21. und 24. Februar 1944 fand die Hauptverhandlung gegen ihn vor dem Volksgerichtshof in Berlin statt, er wurde wegen Wehrkraftzersetzung zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Roland Freisler, berüchtigter Präsident des Volksgerichtshofs, verurteilte Degkwitz ausdrücklich deshalb nicht zum Tode, „weil er durch seine Masernprophylaxe 40 000 deutschen Kindern das Leben gerettet hat.“[5] Zur Verbringung der Haftstrafe wurde er in das Zuchthaus Celle eingewiesen; bei der Räumung am 8. April 1945 konnte er fliehen und bis Kriegsende untertauchen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Im Juni 1945 wurde Degkwitz von der englischen Militärregierung als Leiter der Hamburger Gesundheitsbehörde eingesetzt und nahm seine Arbeit als Chefarzt des Eppendorfer Kinderkrankenhauses wieder auf. Degkwitz sprach sich für eine rigorose Säuberung der Universität und des Hamburger Gesundheitswesens von (ehemaligen) Nationalsozialisten aus, konnte sich mit dieser Position aber nicht durchsetzen. Nach einem langen Aufenthalt in den USA, der von der Hochschulbehörde als Verletzung seiner dienstlichen Pflichten angesehen wurde, kam es zu heftigen Konflikten zwischen Degkwitz und dem Schulsenator Heinrich Landahl. Daraufhin entschloss Degkwitz sich 1948 zur Übersiedlung in die USA, wo er für die Firma Merck, Sharp and Dome tätig wurde. In einem Schreiben an den Hamburger Universitätssenat verwies er zur Begründung auf das Scheitern der Entnazifizierungspolitik: "Fast vollständig sind die ehemaligen Nationalsozialisten, die Ideenträger und Verkünder des Hitlerschen Evangeliums der Gewalt mit der Entschuldigung an die Universitäten zurückgesandt worden, dass sie nur 'Mitläufer' gewesen wären. Die Aufgaben der Universität und die Verantwortung der akademischen Lehrer sind aber so gross, dass es auch für 'Mitläufer' keine Entschuldigung geben kann."[6] Degkwitz kehrte erst Anfang 1973, kurz vor seinem Tod, in die Bundesrepublik zurück.

Gegen den an der Kinder-„Euthanasie“ beteiligten Kinderarzt Werner Catel erstattete Degkwitz 1949 und 1960 Anzeige, die Verfahren wurden jedoch eingestellt.[7]

Familie

Rudolf Degkwitz war verheiratet mit Eva Degkwitz. Sie hatten drei Söhne und eine Tochter: den Psychiater Rudolf Degkwitz jun. (1920 - 1990), den Graphikdesigner Hermann Degkwitz (1921 - 2007), den Mediziner Richard Degkwitz und die Biochemikerin Eva Degkwitz (geboren 1926).

Werke

  • Rudolf Degkwitz: Das alte und das neue Deutschland, Verlag Classen & Goverts, Hamburg 1947.

Literatur

  • Angela Bottin: Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Audimax der Universität Hamburg vom 22. Februar bis 17. Mai 1991. Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte Band 11, Hamburg 1992, ISBN 3-496-00419-3
  • Hendrik van den Bussche (Hrsg.): Medizinische Wissenschaft im „Dritten Reich“. Kontinuität, Anpassung und Opposition an der Hamburger Medizinischen Fakultät, Berlin/Hamburg 1989, S. 400-403, 408-418.
  • Ursel Hochmuth, Gertrud Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand. 1933 - 1945, Zweite Auflage, Frankfurt 1980, ISBN 3-87682-036-7, S. 292-302
  • Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. 2. Auflage. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-596-16048-8. 
  • Deutscher Wirtschaftsverlag, AG (Hg.): Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft, Band 1, Berlin, 1931

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main 2007, S. 103f.
  2. Ursel Hochmuth, Gertrud Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand. 1933-1945, S. 293.
  3. Hendrik van den Bussche (Hrsg.): Medizinische Wissenschaft im „Dritten Reich“. Kontinuität, Anpassung und Opposition an der Hamburger Medizinischen Fakultät, Berlin/Hamburg 1989, S. 33 f.
  4. Ursel Hochmuth, Gertrud Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand. 1933-1945, S. 296.
  5. Urteil gegen Prof. Degkwitz vom 24. Februar 1944, Az. 5 J 223/44, 1 L 23/44; zitiert nach: Ursel Hochmuth, Gertrud Meyer: Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand. 1933-1945, S. 300.
  6. Hendrik van den Bussche (Hrsg.): Medizinische Wissenschaft im „Dritten Reich“. Kontinuität, Anpassung und Opposition an der Hamburger Medizinischen Fakultät, Berlin/Hamburg 1989, S. 428 f.
  7. Norbert Jachertz: Medizinverbrechen: Erinnern und beherzigen. In: Deutsches Ärzteblatt vom 12. Dezember 2008, Jg. 105, heft 50, S. A2699f (pdf)

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