Entbürokratisierung

Entbürokratisierung

Bürokratieabbau ist ein Schlagwort in der Politik, Wirtschaft und Verwaltung und bezeichnet den Prozess der Reduzierung der Überregulierung der durch das Bürokratiemodell von Max Weber geprägten Verwaltung.

Damit ist konkret der Abbau von Vorschriften und Gesetzen, aber auch die Schaffung einer erhöhten Transparenz behördlichen Handelns gemeint.

Inhaltsverzeichnis

Abgrenzung des Begriffs

Bürokratieabbau wird synonym mit Entbürokratisierung verwendet. Bürokratieabbau wird in der Regel allgemeiner als Deregulierung gebraucht, die sich lediglich auf den Abbau von Regeln bezieht. In der Schweiz ist meist von Bürokratiebefreiung die Rede. Die englische Entsprechung zu Bürokratieabbau lautet cutting red tape.

Wirtschaftlicher und politischer Aspekt

Der Begriff Bürokratieabbau beinhaltet, dass Menschen in ihrer Initiative durch Gesetze und weitere Vorschriften so eingeengt seien, dass sie ihre Freiheit nicht nutzen könnten. Dadurch werde die private und wirtschaftliche Entwicklung behindert. Der Begriff schließt aber auch Kritik an der Umsetzung dieser Vorschriften durch Beamte und Angestellte in den Verwaltungen ein.

Meldepflichten und Genehmigungsverfahren kosten Unternehmen einerseits Arbeitskraft und binden andererseits mögliche Investitionsmittel. Einige Großunternehmen beschäftigen Mitarbeiter, die sich nur mit diesen bürokratischen Pflichten beschäftigen. Kleinere Betriebe sind oft mit diesen Pflichten überlastet. Eine Studie des Instituts für Mittelstandsforschung ergab 2003, dass Kleinbetriebe mit weniger als zehn Mitarbeitern fast doppelt so hohe Bürokratiekosten (3.759 € pro Jahr und Mitarbeiter) hätten als Betriebe mit 20 bis 49 Mitarbeitern (1.976 €). Ziel des Bürokratieabbaus sei es daher, diese Belastungen zu reduzieren und dadurch neue Kräfte freizusetzen.

Innerhalb von Wirtschaftsunternehmen ist Bürokratieabbau ein Teil des Konzeptes „Schlanke Produktion“. Da die unternehmensinterne Bürokratie als „nicht wertschöpfender Overhead“ angesehen wird, ist es Ziel dieses Konzeptes, „organisatorische Schnittstellen“ zu verringern, „indem indirekte Tätigkeiten bzw. Funktionen in ... dezentrale Einheiten integriert werden“.

Wie schon Friedrich Engels hervorgehoben hat, sind der Erlass und die Änderung oder Abschaffung administrativer Reglementierung sowie die relative Machtposition staatlicher Bürokratien keineswegs klassen- oder interesseneutral.[1] So werden mit dem Effizienz- oder Kostenargument oft Regelungen angegriffen, die zwar der Allgemeinheit dienen, aber keine besondere, machtvolle Lobby hinter sich haben (Kinder, Verbraucher, Umwelt,...).

Formen von Bürokratieabbau

Folgende Möglichkeiten, Bürokratie abzubauen, werden häufig genannt:

  • Gesetze und Verordnungen könnten schon bei ihrer Einführung zeitlich befristet oder zumindest regelmäßig auf ihre Notwendigkeit überprüft werden.
  • Bearbeitungsfristen von Anträgen könnten klar definiert und möglichst eng begrenzt werden. Verwaltungen könnten durch die Nutzung des Internets und durch längere Arbeitszeiten zugänglicher werden.
  • Behördliche Antragsverfahren können vereinheitlicht gestaltet werden, so dass etwa für ein Bauprojekt nur ein einheitlicher Bauantrag zu stellen ist und keine Notwendigkeit besteht, verschiedene Genehmigungen getrennt voneinander zu beantragen.
  • Statistische Pflichten könnten ganz oder teilweise aufgehoben werden.
  • Aufgaben könnten möglichst delegiert werden, sodass bei Entscheidungen nicht immer Vorgesetzte zu befragen wären. Miteinander konkurrierende Behörden könnten zusammengelegt oder aufgelöst werden.

Pläne und Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene

Europäische Union

Auf EU-Ebene wird bei der Europäischen Kommission im Rahmen des Bürokratieabbaus seit 2003 ein neues Verfahren zur sog. Gesetzesfolgenabschätzung angewandt. Dabei werden Folgenabschätzungen als ex-ante Evaluation neuer EU-Regelungsvorhaben auf Grundlage der drei Dimensionen Wirtschaft, Soziales und Umwelt durchführt. Dieses Konzept ist Teil der Lissabon-Strategie. Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben sich auf dem Frühjahrsgipfel 2007 auf den Abbau der Verwaltungslasten, die aus EU Regelungen resultieren, um 25 % bis 2012 geeinigt. Außerdem wurde ein Aktionsprogramm zur Verringerung der Verwaltungslasten beschlossen. [2]

Bund-Deutschland

Bürokratieabbau wurde immer wieder in deutschen Parlamenten gefordert. Unabhängig von der parteipolitischen Ausrichtung der Regierungen konnte diese Forderung nur in Einzelfällen umgesetzt werden. Die Debatte hat in Deutschland und der EU durch die Anwendung des Standardkostenmodells neuen Schwung erhalten. Einen wesentlichen Anstoß erhielt die Debatte um den Bürokratieabbau 1997 durch die Berliner Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der die "Regulierungswut" in Deutschland anprangerte.

In Reaktion auf die nach den Terroranschlägen vom 11. September eilig und relativ zahlreich erlassenen Gesetze und Gesetzesänderungen stellten die Datenschutzbeauftragten fest, dass gerade bei Gesetzen, deren Zweckmäßigkeit nicht vorher abgeschätzt werden könne eine zeitliche Befristung oder zumindest eine Evaluationspflicht bestehen müsste. Dem kam der Gesetzgeber zum Teil nach.

Das Programm Agenda 2010 der Bundesregierung beinhaltet die Entlastung von Mittelstand und Wirtschaft durch den "Abbau bürokratischer Hemmnisse". Im Jahr 2003 rief die damalige Bundesregierung das Projekt Innovationsregionen für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung durch Deregulierung und Entbürokratisierung ins Leben. In ausgewählten Regionen (Bremen, Ostwestfalen-Lippe, Westmecklenburg) sollten Vorschläge zum Bürokratieabbau gesammelt werden. Infolge dieser Aktion wurden ungefähr eintausend Vorschläge zur Beseitigung solcher Vorschriften gemacht. Einige dieser Vorschläge flossen in das Gesetz zur Umsetzung von Vorschlägen zu Bürokratieabbau und Deregulierung aus den Regionen ein. Zwei Beispiele sollen den Charakter dieses Gesetzes illustrieren: Jugendliche können nun unter bestimmten Bedingungen schon ab 5 Uhr und bis 23 Uhr arbeiten. Hotelbetriebe müssen die Zimmerbelegung nicht mehr nachweisen.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend legte am 13. Juli 2005 Zehn Eckpunkte zur Entbürokratisierung im Heimrecht vor. Diese waren zuvor von einem Runden Tisch, der mit Pflegexperten besetzt war, erarbeitet worden und sehen unter anderem vor, dass Dokumentationspflichten in der Altenpflege entfallen sollen. Dadurch sollte das Entstehen neuer Wohn- und Betreuungsformen gefördert werden.

Am 25. April 2006 beschloss das Bundeskabinett fünf Maßnahmen zum Bürokratieabbau. Zum Beispiel sollten mit Hilfe des Standardkostenmodells die konkreten Kosten von Bürokratie durch den Normenkontrollrat gemessen werden. Darüber hinaus wurde im Koalitionsvertrag von 2005 das Programm Bürokratieabbau und Bessere Rechtsetzung[3] festgeschrieben.

Länder-Deutschland

Der brandenburgische Landtag hat 2005 als erstes Länderparlament einen Sonderausschuss zur Überprüfung von Normen und Standards eingerichtet. Ein erstes Bürokratieabbaugesetz wurde im Juni 2006 im Landtag verabschiedet und beinhaltet neben einzelnen Erleichterung insbesondere eine Standardöffnungsklausel, welche es den Kommunen auf Antrag ermöglicht, für einen begrenzten Zeitraum von landesrechtlichen Vorgaben abzuweichen und alternative oder selbständige Lösungen zu erproben.

In OstWestfalen-Lippe wurde die erste deutsche Pilotmessung nach dem niederländischen Standardkostenmodell durchgeführt, mit dessen Hilfe man Bürokratiekosten konkret ermitteln kann.

Im Jahr 1999 hat die Landesregierung des Saarlands eine „Verfallsautomatik“ für Verwaltungsvorschriften eingeführt. Vorschriften müssen seither ausdrücklich verlängert werden, um in Kraft bleiben zu können. Mit dieser Maßnahme wurden bis 2005 68% dieser Vorschriften abgeschafft.

In Sachsen hat das Justizministerium im Februar 2003 einen „Paragraphen-Pranger“ eingerichtet, bei dem Bürger sich über Rechtsvorschriften beschweren können. Im August 2005 erließ die Staatsregierung eine Verwaltungsvorschrift, mit der Beamte aufgefordert werden schriftlich Vorschläge zum Bürokratieabbau in der Verwaltung zu machen.

Problematik

  • Kritiker warnen vor dem populistischen Gebrauch des Begriffs "Bürokratieabbau". Dagegen steht die grundsätzliche Notwendigkeit von Bürokratie für den modernen Staat. Bei einer Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages erklärte Rechtsanwalt Ortlieb Fiedler 2004: "Der Verzicht des Rechtsstaates auf den Erlass von Gesetzen wäre gleichbedeutend mit dem Verzicht, auf bestimmten Gebieten Politik zu machen und diese umzusetzen."
  • Oppositionsparteien fordern radikaler als Regierungsparteien den Bürokratieabbau. Dies fällt ihnen umso leichter, als sie vorläufig keine konkreten Maßnahmen ergreifen können.
  • Regierungen versuchen Bürokratieabbau durch Bildung von Kommissionen zu erreichen. Diese Kommissionen sollen staatliche Regelungen auf deren Berechtigung überprüfen und Vorschläge zur sinnvollen Streichung von Regelungen erarbeiten. Dabei besteht die Gefahr, dass durch neue Kommissionen erst recht eine Ausweitung der Bürokratie bewirkt wird.
  • Finanzielle Aspekte thematisierte im Mai 2005 die damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Oppositionsführerin Angela Merkel. Sie kündigte an, im Falle der Regierungsübernahme sich vor allem auf Dinge zu konzentrieren, die "kein Geld kosten". Unter anderem nannte sie in diesem Zusammenhang den Bürokratieabbau. Dabei stellt sich die Frage, ob die Abschaffung von staatlichen Vorschriften und die Verkürzung von Bearbeitungszeiten ohne – zumindest kurzfristig – höhere Personalkosten zu erreichen sind.
  • Nach Meinung des Politologen Elmar Altvater ist das Funktionieren der Demokratie durch kürzere Planungszeiten infolge Bürokratieabbaus gefährdet. Alle Beschleunigungsversuche seien "Maßnahmen, mit denen die Beteiligung von Bürgern eingeschränkt wird." In der Folge würden sich "Sachzwänge hart durchsetzen". Als Beispiel nannte Altvater das Verkehrswege-Beschleunigungsgesetz.
  • In nachgeordneten Verwaltungen kann Bürokratie teilweise deshalb nicht abgebaut werden, weil diese an übergeordnetes Recht (Bundesrecht, Europarecht) gebunden sind.
  • Das Personal, das in staatlichen Behörden bürokratische Maßnahmen verantwortet, muss einerseits bestehende Gesetze aufgrund der Dienstpflichten anwenden, wird aber gerade wegen dieser Anwendung kritisiert.

Siehe auch

Literatur

  • Michael Faust, Peter Jauch, Karin Brünnecke, Christoph Deutschmann: Dezentralisierung von Unternehmen. Bürokratie- und Hierarchieabbau und die Rolle betrieblicher Arbeitspolitik. München und Mering 1999, ISBN 3-87988-383-1
  • Klaus-Peter Schmid: Jedes Gesetz hat seine Lobby. in der Wochenzeitung Die Zeit 02/2006 [2]
  • Jörg Steinhaus: Gesetze mit Verfallsdatum - ein Instrument des Bürokratieabbaus? Norderstedt 2008, ISBN 978-3-8370-7076-7
  • Peter Vogler: Entbürokratisierung von Unternehmen. Köln 1989, ISBN 3-88585-592-5

Weblinks

Einzelnachweise“

  1. Friedrich Engels: Der Status Quo in Deutschland'.' S. 31. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 10878 (vgl. MEW Bd. 4, S. 54)
  2. http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2007/com2007_0023de01.pdf
  3. [1]

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