- Ernst Heinrich Ernesti
-
Die Physiker ist eine groteske Tragikomödie des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt, die 1961 geschrieben und am 21. Februar 1962 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde (Regie: Kurt Horwitz). Darin weist der Autor auf potenzielle Gefahren hin, welche die Wissenschaft in sich birgt. Die gesamte Handlung, bestehend aus zwei Akten, spielt in einem Irrenhaus für gesellschaftlich besser gestellte Menschen. Dabei symbolisieren die verschiedenen Insassen und das Personal die damaligen Machtblöcke des Kalten Krieges.
Kurzfassung des Inhalts
Im Zentrum der Komödie in zwei Akten stehen drei Physiker, die sich mit unterschiedlicher Motivation als Geisteskranke ausgeben. Zwei von ihnen behaupten Albert Einstein bzw. Sir Isaac Newton zu sein. Johann Wilhelm Möbius, der Dritte im Bunde, hat die revolutionäre Weltformel entdeckt, die in den falschen Händen zur Vernichtung der gesamten Welt führen könnte. Er behauptet, ihm erscheine der König Salomo, mit dem Ziel, sich selbst unglaubwürdig zu machen und so den Missbrauch seiner Entdeckung zu verhindern. Newton und Einstein hingegen sind Spione, die an Möbius' Erkenntnisse herankommen und sein Genie für ihre Zwecke instrumentalisieren wollen. Jeder der drei Physiker ermordet eine Krankenschwester, um sein jeweiliges Geheimnis zu wahren, das durch deren Bemühen zeitweise bedroht erscheint. Als deshalb die Polizei eintrifft, vernichtet Möbius seine Formeln. Mathilde von Zahnd, die Besitzerin und Chefärztin des Irrenhauses, gleichzeitig auch die einzige wirklich Irre, hat jedoch sämtliche Aufzeichnungen bereits zuvor kopiert (wobei sie ernsthaft im Auftrag König Salomos zu handeln glaubt) und will nun die Weltherrschaft an sich reißen. Sie hat auch den Physikern die Krankenschwestern auf den Hals gehetzt, damit deren öffentliche Glaubwürdigkeit unterminiert und das Vorhaben der Ärztin gesichert ist.
Werkgeschichte
1956 erschien von Robert Jungk das Buch Heller als tausend Sonnen, das sich mit der Entwicklung der Atombombe (dem Manhattan-Projekt) und dem Schicksal der daran beteiligten Forscher befasste. Dürrenmatt verfasste 1957 eine Rezension dieses Buchs für Die Weltwoche, in der er schrieb, es gebe keine Möglichkeit, „Denkbares geheim zu behalten. Jeder Denkprozess ist wiederholbar.“ Das Problem der Atombombe könne nur international gelöst werden „[d]urch Einigkeit der Wissenschaftler.“ Denken werde in Zukunft immer gefährlicher, es sei aber unmöglich, „die Pflicht, ein Dummkopf zu bleiben, als ethisches Prinzip aufzustellen.“ Nachdem die Resolutionen der Wissenschaftler zu spät gekommen seien, „verfügen nun die [über die Atomkraft], die sie nicht begreifen.“[1] Diese Gedanken baute er später in Die Physiker ein.
Über die Frage, warum die ursprünglich männliche Rolle des Anstaltsleiters auf eine Frau umgeschrieben wurde, und welche Rolle dabei die von ihm verehrte Schauspielerin Therese Giehse spielte, der das Stück gewidmet ist, gibt es von Dürrenmatt selbst verschiedene Antworten. Gegenüber Jürg Ramspeck berichtete er: „Ich habe in der Tat der Giehse den Entwurf der Physiker gezeigt, worauf die Giehse sagte, den Irrenarzt möchte sie spielen. So wurde eben eine Frau daraus.“[2] In einem Interview mit Urs Jenny betonte er dagegen: „Eigentlich ist nicht einmal die hübsche Anekdote wahr, ich hätte Therese Giehse zuliebe in den Physikern den Irrenarzt in eine Ärztin verwandelt. Die Änderung gab einen entscheidenden Kontrast, eine Spannung, die ich lange gesucht hatte.“[3] In einem Gespräch mit Fritz J. Raddatz führte er weiter aus: „Zuerst hatte ich einen Irrenarzt konzipiert. Dann begriff ich, daß der streng logischen Welt der drei Physiker nur eine verrückte Frau gegenüberstehen kann. Wie ein verrückter Gott, der sein Universum gestaltet“.[4]
Chronologische Interpretation
Akt 1
Einführung in den Ort der Handlung
Die Kleinstadt, in der die Handlung angesiedelt ist, müsste durch ihre ruhige Lage und die „blauen Berge“ in der Umgebung eine idyllische Situation erzeugen. Die dort befindliche „bescheidene“ Universität, Justizvollzugsanstalt und das „verlotterte“ Irrenhaus erzeugen aber einen kleinbürgerlich dekadenten Gesamteindruck, was den Leser bereits auf den Unterschied zwischen dem äußeren Schein und den dahinterliegenden Problemen einstimmt. Das Stück spielt komplett in der „Villa“ des Irrenhauses „Les Cerisiers“ (zu deutsch „Die Kirschbäume“), einem Block, in dem nur noch die drei Physiker als die Patienten Newton, Einstein und Möbius behandelt werden.
Gespräch zwischen Inspektor Voß und Oberschwester
Das Stück beginnt damit, dass Inspektor Voß ins Sanatorium kommt, um die Umstände des Todes einer Krankenschwester zu klären. Sie ist von Einstein, für den sie zuständig gewesen war, erdrosselt worden. Der Inspektor befragt nun die Oberschwester zu dem Vorfall und möchte auch mit Einstein sprechen. Die Schwester weist den Inspektor aber ständig barsch zurück, da es sich nicht um einen Mörder, sondern um einen Verrückten handle. Die Bewertungsmaßstäbe des Inspektors passen demnach gar nicht zu denen der Oberschwester, die Grenzen zwischen richtig und falsch werden verwischt. Die Oberschwester versucht sogar, die Situation so zu verdrehen, dass der Inspektor als Störenfried erscheint, der in die geregelten Abläufe des Irrenhauses einbricht. Den Tod der Krankenschwester stellt die Oberschwester als nicht weiter beunruhigend dar, der Mörder dagegen wird bedauert und „muss sich beruhigen“. Der Inspektor darf nur zuschauen, aber nicht rauchen.
Gespräch zwischen Inspektor Voß und Newton
Bereits drei Monate zuvor hatte Newton seine Pflegerin auf ähnliche Weise getötet, auch seiner konnte der Inspektor aufgrund der vorgetäuschten Verrücktheit nicht habhaft werden. Gemeinsam ist beiden, dass sie von ihrer jeweiligen Krankenschwester geliebt worden sind und diese mit ihnen wegziehen wollte. So kommt es dazu, dass sich der Inspektor mit Newton unterhält. Der Inspektor als Repräsentant des Staates und seiner Macht müsste das Gespräch lenken und in seinem Interesse führen. Newton jedoch dreht den Spieß einfach um und verteilt die Rollen neu. Er bringt das ganze Gespräch auf ein völlig anderes Niveau und bringt den Inspektor so in eine Situation, der er augenscheinlich nicht gewachsen ist. Der Inspektor wird somit zum „Täter“, der mit verrückten Befragungen völlig aus seinem Konzept kommt. Außerdem weist Newton den Inspektor zurecht, als dieser sich eine Zigarette genehmigen will, und erklärt ihm paradoxerweise, dass nur die Patienten rauchen dürften, Besucher jedoch nicht. Diese groteske Situation zeigt wieder den verrückten Ordnungsbegriff. Die Beschwerde Newtons darüber, dass ein kleiner Mörder verurteilt würde, der Erfinder der Atombombe jedoch nicht, passt in die Deutung des Gesamtwerkes, es zeigt die vornehmlichen paradoxen Begebenheiten und Widersprüche der bürgerlichen Weltordnung.
Gespräch zwischen Inspektor Voß und Fräulein Mathilde von Zahnd
Voß erzählt der Anstaltsleiterin zunächst, dass sich Newton auch für Einstein halte, diese entgegnet aber „für wen sich meine Patienten halten, bestimme ich“. Die Parallele zu Görings Aussage „Wer bei mir Jude ist, bestimme ich“, ist dabei von Dürrenmatt möglicherweise nicht ganz zufällig gewählt, denn sie zeigt die Machtstellung der Anstaltsärztin und ihre Manipulationsfähigkeit, sie wird zur Inkarnation des Bösen. So suggeriert sie dem Inspektor, die Morde an den Krankenschwestern seien eine Folge der Deformation der Gehirne durch Radioaktivität, als der Inspektor ihr klarmachen will, dass nach dem nunmehr zweiten Mord an einer Krankenschwester Sicherheitsmaßnahmen erforderlich sind. Da der dritte Insasse nicht mit Radioaktivität in Verbindung gekommen sei, ginge von ihm demnach keine Gefahr mehr aus. Außerdem versucht sie, die Irren-Welt mit der normalen Welt zu verquicken, sie behauptet „Gesunde morden auch und bedeutend häufiger“.
Besuch von Frau Rose
Der Physiker Möbius bekommt nach 15 Jahren wieder Besuch von seiner Frau Lina Rose, die sich inzwischen von ihm hat scheiden lassen. Sie wird begleitet von ihrem neuen Mann, Missionar Oskar Rose, und Möbius' drei Kindern Adolf-Friedrich, Wilfried-Kaspar und Jörg-Lukas. Der erste Auftritt der Familie Rose dient als Einführung in die eigentliche Handlung und gibt Hintergrundinformationen zu seiner Familie und seinem beruflichen Werdegang. Seine scheinbare Verrücktheit bekräftigt Möbius zum einen durch sein äußeres Verhalten: Er setzt sich in einen umgedrehten Tisch, um einen Psalm des „König Salomo“ zu rezitieren, und schreit seine Frau hinaus. Außerdem tut er so, als ob er seine Familie zunächst nicht erkennen würde. Der von ihm gespielte barsche Umgang mit seiner Familie verdeutlicht, welche Opfer Möbius und seine Familie bringen mussten und müssen, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse Möbius' zu schützen. Die Familie versucht dagegen besonders harmonisch zu wirken, obwohl Frau Rose ein schlechtes Gewissen wegen ihrer erneuten Heirat und daher Angst vor der Begegnung hat. Sie scheint sich für Möbius besonders aufgeopfert zu haben: Sie finanzierte sein Studium und jetzt seinen Sanatoriumsaufenthalt, weil sie besorgt ist, er könnte in eine staatliche Heilanstalt kommen. Der überzeichnete, gekünstelte Auftritt der ganzen Familie gibt sie in den Augen des Lesers der Lächerlichkeit preis. So führen die Kinder in vornehmer Schüchternheit ein Flötenstück vor und Frau Rose spricht Möbius mit „Johann Wilhelmlein“ an. Diese unbedingte Wahrung des idyllischen äußeren Scheins und der bürgerlichen Konventionen entlarvt deren Starrheit. Durch ihre übertriebene Hingabe für ihren Mann (Finanzierung des Studiums usw.) und ihre scheinbar selbstlose Aufopferung für ihren neuen Mann, Missionar Rose, der weitere Kinder und somit weitere Aufopferungen für Frau Rose mit sich bringt, pervertiert sie die christliche Nächstenliebe. Sie will von allen bedauert werden. Schließlich vertreibt Möbius seine Familie mit einem gespielten Anfall, um den Kontakt zu seiner Familie komplett abzubrechen und ihr damit den Abschied nicht unnötig schwer zu machen. Er will damit seine gespielte Verrücktheit verdeutlichen und die Welt vor seinen eigenen Erfindungen beschützen.
Gespräch zwischen Möbius und Schwester Monika
Nun findet eine Wendung im Drama statt: Die Krankenschwester Monika Stettler verrät Möbius, dass sie an ihn und den König Salomo, der ihm erscheint, glaubt und ihn liebt. Zunächst versucht er noch, sie dazu zu bringen von ihm abzuhalten doch als er erfährt, dass sie sogar schon ein gemeinsames bürgerliches Leben vorbereitet hat und so Möbius' Geheimhaltung seiner Erkenntnisse gefährdet ist, erdrosselt er sie mit der Vorhangkordel. Die Szene hat vorwiegend eine dramatische Funktion, denn der Tod der dritten Krankenschwester ist Voraussetzung für die folgende Handlung: Der weitere Mord dient Fräulein Doktor von Zahnd dazu, Möbius vor der ganzen Welt unglaubwürdig zu machen.
Akt 2
Die ersten zwei Szenen des zweiten Akts sind eine Wiederholung der Untersuchungsszenen des ersten Akts, jedoch mit „umgekehrten Verhältnissen“ – die äußere Handlung stimmt mit der des ersten Akts überein, die Meinungen und Dialoge sind jedoch fast gespiegelt. Die toten Krankenschwestern wurden nun durch männliche Pfleger ersetzt, die allesamt Meister des Kampfsports sind.
Gespräch zwischen Inspektor Voß und Fräulein Mathilde von Zahnd
Der Inspektor, der zur Befragung erschienen ist, steht nun über allen und allem. Er berichtigt nun Fräulein von Zahnd – sie spricht von Möbius als „Mörder“, er von einem „Täter“. Indem er also die Ordnungsprinzipien des Irrenhauses akzeptiert und verinnerlicht, kann er alle zurückweisen. Die Ärztin von Zahnd dagegen spielt nun die Verwirrte, indem sie sich von dem Mord Möbius' überrascht zeigt. Der Inspektor weist damit die Verantwortung für die Aufklärung zurück, er kapituliert vor einer Situation, die er ohnehin nicht verändern kann. Dieses kann als Spiegel der Gesellschaft verstanden werden: Man zieht die Anpassung dem Widerstand vor, um sich dadurch freier zu fühlen.
Gespräch zwischen Möbius und Fräulein Mathilde von Zahnd
Möbius redet sich wie üblich auf den König Salomo heraus, der ihm angeblich erscheine, ihm Anweisungen erteile und so zu seiner Genialität verhelfe. Auch wenn diese Verrücktheit nur gespielt ist, glaubt ihm Fräulein von Zahnd – die Regieanweisung „Schwerfällig. Bleich.“ und ihre Wiederholung „Seine Majestät ordnete den Mord an“ belegen dieses. Hier zeigt sich dem aufmerksamen Leser bereits ihre Verrücktheit.
Gespräch zwischen den drei Physikern
Dieses Gespräch beim Abendessen stellt den inneren und äußeren Höhepunkt des Stücks dar.
1. Gesprächsteil: Die drei Physiker geben gegenüber ihren Mitbewohnern zu, dass sie in Wahrheit nicht verrückt sind. Newton heißt eigentlich Alec Jasper Kilton, ist der Begründer der „Entsprechungslehre“ und hat sich als Agent (vermutlich der CIA) verpflichtet, er steht für den Westblock (zum Beispiel USA), genauso Einstein, der in Wirklichkeit Joseph Eisler heißt und den „Eisler-Effekt“ entdeckt hat, er steht für den Ostblock (möglicherweise UdSSR). Beide sind hinter den Arbeiten von Möbius her, der die sogenannte „Weltformel“ entdeckt zu haben glaubt und versucht diese zu schützen, indem er sich als Irrer hat einliefern lassen – vergeblich. Jeder der beiden Agenten will nun Möbius' Forschungsergebnisse für sein Land beanspruchen. Beide ziehen ihre Pistolen, erkennen jedoch die Sinnlosigkeit eines Duells und legen sie wieder beiseite, da beide gleich gut mit einer Waffe umgehen können.
2. Gesprächsteil: Der Diskurs zwischen den Physikern über die Möglichkeit des wissenschaftlichen Forschens in der heutigen Welt ist der gedankliche Höhepunkt des Stücks. Dabei vertreten die Physiker folgende Positionen:
Einstein (Eisler) Newton (Kilton) wollen Möbius für ihre jeweilige Regierung gewinnen - mahnt Möbius an seine Pflicht als Wissenschaftler, seine Entdeckungen der Menschheit zu übergeben
- hat jedoch keinen wirklichen Einfluss auf seine politische Obrigkeit
- fordert die Entscheidung für ein politisches System
→ kann keine Garantie für die Verwendung der wissenschaftlichen Ergebnisse übernehmen
- lockt mit Nobelpreis
- Wissenschaftler sind nicht zuständig für die Verwendung ihrer Erkenntnisse
→ lehnt jegliche Verantwortung ab
Möbius will im Irrenhaus bleiben - entlarvt scheinbare Möglichkeiten einer freien Entscheidung als Sackgasse
- Kiltons und Eislers Wege können nur in die Katastrophe führen
- Risiko des Untergangs der Menschheit darf nicht eingegangen werden
→ seine Lösung: Zurücknahme der wissenschaftlichen Erkenntnisse
Als Möbius bekannt gibt, dass er seine Aufzeichnungen bereits verbrannt hat, erkennen die Agenten, dass ihr erneut fast begonnener Kampf keinen Sinn ergibt und legen abermals die Waffen nieder. Möbius versucht nun, die anderen zunächst mit Gründen der Vernunft von der Notwendigkeit des Verbleibens in der Irrenanstalt zu überzeugen: Die Wissenschaft sei schrecklich geworden, die Forschung gefährlich, die Erkenntnisse tödlich. Als einzige Möglichkeit sieht er die Kapitulation vor der Wirklichkeit und daher eine Zurückhaltung der Erkenntnisse. „Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.“ Diese Überzeugungsarbeit fruchtet jedoch bei den Agenten nicht, sie wollen trotzdem das Irrenhaus verlassen. Daher überzeugt er sie mit ihren Morden: Wenn sein Wissen an die Öffentlichkeit käme, wären die Morde umsonst gewesen und aus der Opferung zum Schutze der Menschheit würden ganz normale Morde, aus ihnen als Täter würden normale Mörder. Damit kann er sie überzeugen, ihre Gefangenschaft als Sühne für die begangenen Morde anzusehen und einen Beitrag zur Rettung der Menschheit zu leisten. Somit scheint das Stück zunächst positiv auszugehen: Die Helden opfern sich, die persönliche Schuld wird gesühnt, die gestörte Weltordnung scheint wiederhergestellt. Die Physiker gehen auf ihre Zimmer.
Ende
Fräulein von Zahnd, die Besitzerin des Irrenhauses, lässt die drei Physiker von ihren Zimmern holen und entwaffnet die beiden Agenten. Sie erzählt, dass auch ihr der König Salomo seit Jahren erschienen sei. Sie ist die einzig tatsächlich verrückte (im Sinne von: geistig gestörte) Person im Haus (Interpretation 1). Sie gibt zu, dass sie die Krankenschwestern mit Absicht auf sie gehetzt hat, so dass sie sterben mussten. Dadurch sind die Physiker in der Anstalt festgehalten, da sie außerhalb als „Mörder“ gelten würden, als Irre sind sie dagegen nur „Täter“. Fräulein von Zahnd hat sämtliche Aufzeichnungen von Möbius bereits vor der Vernichtung kopiert und so für sich erhalten können. Damit bewahrheitet sich die Aussage „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“ So schlägt sie daraus riesige Gewinne und bedenkt nicht, welche großen Gefahren in den Technologien liegen – Technologien, die die ganze Menschheit vernichten könnten. Die drei Physiker aber nehmen ihre Tarnung als Verrückte wieder auf und bleiben (vermutlich) bis zum Ende ihres Lebens im Irrenhaus. Die Offenbarung Fräulein von Zahnds stellt die von Dürrenmatt in seinen 21 Punkten erwähnte schlimmstmögliche Wendung dar, die nach Punkt 3 das Ende einer Geschichte darstellt. Sie ist zufällig (Punkt 4), da keiner der Physiker voraussehen konnte, was die Irrenärztin vorhatte, und auch der Zuschauer im Dunkeln gelassen wurde.
Gesamtinterpretation
Das Stück kann als Frage nach der Ethik in der Wissenschaft verstanden werden und greift ferner die Problematik auf, dass einmal Gedachtes oder Entdecktes nicht rückgängig gemacht werden kann.
Von Möbius unbemerkt, bekommt die Chefärztin, Fräulein Mathilde von Zahnd, dessen Formeln in ihre Hände und ist daher in der Lage, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Das Stück könnte aber auch auf einer höheren Ebene verstanden werden: Zum einen stehen Newton und Einstein für zwei unterschiedliche Etappen der Wissenschaft, die nicht unbedingt auf die politischen Machtblöcke projiziert werden sollten. Newton repräsentiert die „reine Wissenschaft“, die um ihrer selbst willen betrieben wird, während Einstein ein Vertreter der pragmatisch angewandten Wissenschaft ist. Aus beiden resultiert Wissen, das letztendlich tötet. Beide sind somit gescheitert. Möbius will dem entgehen und steht dabei teilweise zwischen diesen beiden Ansätzen, wobei er teilweise einen neuen eigenen Ansatz entwickelt: Isolation und Zurückziehung. Dass er letztendlich genau wie seine beiden „Vorgänger“ scheitert, ließe wieder auf die Schlussfolgerung kommen, die Wissenschaft führe zwangsläufig zum Negativen. Man könnte vermuten, dass Fräulein Doktor von Zahnd selbst Insassin des Irrenhauses ist und nur die Ärztin spielt, aber es wird zu Anfang deutlich gesagt, dass sie das Irrenhaus von ihrer Familie geerbt hat und ihr Geld in das Sanatorium investiert. Also ist sie wirklich die Besitzerin und Leiterin, obwohl sie trotzdem als verrückt gelten darf. Schließlich sagt sie, dass ihr der König Salomo erscheine und dass sie die Weltherrschaft an sich reißen will. Auch ob Newton und Einstein nun verrückt, Geheimdienstagenten oder verrückte Agenten sind, ist von sekundärer Bedeutung. Primär ist die Erkenntnis, dass Wissenschaft immer auch in die falschen Hände gerät. Außerdem zeigt die Komödie, dass gemeinsame Probleme nur gemeinsam gelöst werden können. So ist die von Möbius gedachte Lösung, sich zu isolieren, zwecklos, da er durch Fräulein von Zahnd überlistet wird. Die drei Physiker allein können das Problem nicht lösen. Dürrenmatt spricht im 1. Akt auch die Notwendigkeit der Erde als Überlebensraum des Menschen an. Als Möbius den Weltraumfahrerpsalm, der ihm vom König Salomo überliefert wurde, beim Besuch seiner Familie verkündet wird deutlich, dass die Erde der einzige Lebensraum des Menschen ist, die Wissenschaft soll sich also davor hüten die Erde mit gefährlichen Erfindungen zu zerstören (im Falle der Physiker sind es die Errungenschaften des Möbius, die die Erde bedrohen). Geschieht dies nicht werden die flüchtenden Menschen in „den Wüsten des Mondes … im Staub versinken“ oder „in den Bleidämpfen des Merkurs verkochen“ oder „sich in den Ölpfützen der Venus auflösen“ usw. [5]
Charakterisierung der wichtigsten Personen
- Johann Wilhelm Möbius
- Er ist ein Physiker, der mehrere große Entdeckungen gemacht hat (zum Beispiel „das System aller möglichen Erfindungen“ und die einheitliche Feldtheorie als Weltformel). Da er sich der Folgen seiner Erfindungen bewusst ist und die Verantwortung dafür übernehmen will, stellt er sich verrückt, um die Menschheit nicht zu gefährden. Sehr bald befindet er sich daher im Irrenhaus. Er gibt beispielsweise vor, seine Erfindungen von König Salomo offenbart zu bekommen. Allerdings wurde der ehemals weise König Salomo zum „armen König der Wahrheit“, der „nackt und stinkend […] in [s]einem Zimmer [kauert]“; der Psalm, den Möbius in einem umgedrehten Tisch hockend vorträgt, zeichnet ein düsteres Bild von den möglichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnis. Außerdem gibt Möbius bei einem Abschiedsbesuch seiner Ex-Frau Lina (die nun mit dem Missionar Rose verheiratet ist) vor, sie und die drei gemeinsamen Buben nicht zu erkennen. Wie sehr Möbius sich zur Rettung der Menschheit aufopfert, wird auch darin deutlich, dass er das Heiratsgesuch der Schwester Monika ablehnt, die sein Spiel durchschaut hat; obwohl er sie ebenfalls liebt, bringt er sie um, um nicht in die „Freiheit“ zu kommen, um somit die Menschheit zu retten.
Allerdings wird er von verschiedenen Mächten ausspioniert. Er beginnt seine Unterlagen zu verbrennen, ohne jedoch zu wissen, dass Frl. Doktor von Zahnd sich heimlich Kopien angefertigt hat. - Herbert Georg Beutler, genannt Newton, eigentlich Alec Jasper Kilton
- Er ist ein weiterer der drei Physiker, die noch im alten Gebäude des Sanatoriums betreut werden. Später stellt sich heraus, dass er nicht verrückt ist, sondern ein Agent eines nicht näher benannten westlichen Geheimdiensts ist. Um Möbius bespitzeln zu können, musste er extra Deutsch lernen und sich verrückt stellen (er gibt sich als Sir Isaac Newton aus). Er versucht Möbius zu überreden, für die Landesverteidigung seines westlichen Staates zu arbeiten. Er verspricht ihm den Nobelpreis und mahnt ihn an seine Pflicht, seine Entdeckungen der Menschheit zu übergeben. Eine Verantwortung des Wissenschaftlers für seine Entdeckungen lehnt er ab, stattdessen schiebt er die Verantwortung „den Menschen“ zu.
- Ernst Heinrich Ernesti, genannt Einstein, eigentlich Joseph Eisler
- Er ist der Dritte der drei angeblich „verrückten“ Physiker. Auch er ist Agent und repräsentiert den zweiten großen Machtblock des Kalten Kriegs. Auch er bespitzelte Möbius und will mit ihm fliehen. Er fordert die Entscheidung für ein politisches System und den Dienst für dieses System. Er gibt zu, dass der Wissenschaftler in seinem System ebenfalls nicht frei ist und keine Möglichkeit der Einflussnahme auf die politische Obrigkeit hat, er kann daher als Wissenschaftler keine Garantie für die Verwendung der wissenschaftlichen Ergebnisse geben. Letztlich schiebt er die Verantwortung also auf die politischen Machthaber ab.
- Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd
- Die 55 Jahre alte bucklige Irrenärztin – eine alte Jungfer – ist Besitzerin des Sanatoriums und das letzte Mitglied einer alten Adelsdynastie von reichen bedeutenden Irren, die zu Beginn der Handlung die einzig normale Person ihrer Familie zu sein scheint. Zunächst spielt sie eine großzügige, menschliche Ärztin. Am Schluss des letzten Akts fällt jedoch diese Charakterfassade als scheinbar sorgsame und mütterliche Samariterin. Sie ist eine machtbesessene, skrupellose Frau und die einzige wirklich Verrückte in dem Stück. Mithilfe ihrer Planungs- und Manipulationskunst hat sie sich der genialen und zugleich gefährlichen Manuskripte des Möbius bemächtigt. Sie stellt die unkontrollierbare und bedrohliche dritte Macht dar.
- Der Kommissar, Richard Voß
- Er ist nicht mehr ganz jung, da er schon einige Zeit in seinem Beruf arbeitet und eine Menge Erfahrung hat. Er ist ein gebildeter Mensch, ist aber manchmal sehr überarbeitet und daher müde in seinem Beruf. Er trägt Mantel und Hut. Er versucht im ersten Akt zunächst, Gerechtigkeit durch die Bestrafung der Mörder herzustellen, scheitert aber dabei immer wieder an den verrückten Ordnungsbegriffen des Irrenhauses. Im zweiten Akt hat er die irren Maßstäbe akzeptiert und kann so ganz entspannt sein, den Mörder nicht verhaften zu müssen.
- Schwester Monika Stettler
- Jung, naiv und voller Visionen; ist sie die perfekte Krankenschwester. Sie kann sich gut einfühlen und versteht die Irren. Trotzdem fühlt sie sich in ihrem Beruf ausgenutzt: sie opfert sich für Menschen auf, die ihr nicht wichtig sind. Romantisch wie sie ist, möchte sie nur für Menschen da sein, die sie liebt. Sie pflegt seit einiger Zeit den fast 20 Jahre älteren Johann Wilhelm Möbius, durchschaut schnell seine Tarnung als „Irrer“ und verliebt sich. Sie hält ihn für ein verkanntes Genie und erträgt nicht, wie er ihrer Meinung nach sein Potential ungenutzt lässt. Für ihn will sie ihre Stelle aufgeben. Sie hat schon ihr gemeinsames Leben und seine Karriere vorbereitet und geplant. In ihrer Vorfreude und Zufriedenheit bemerkt Monika nicht, wie wenig Möbius von ihren Plänen begeistert ist. So muss er sie schließlich ermorden, um seine Erfindungen geheim zu halten.
- Die Buben, Adolf-Friedrich, Wilfried-Kaspar, Jörg-Lukas
- Die Buben treten im 1. Akt des Buches auf. Ihr plötzlicher und grausamer Abschied von ihrem leiblichen Vater Möbius, ist ein wichtiger Hinweis auf den ebenso grausamen Realitätsverlust von Fräulein Mathilde von Zahnd. Sie symbolisieren gewissermaßen einen der letzten Kontaktpunkte für Möbius außerhalb des Sanatoriums. Genau wie Möbius die Buben im 1. Akt für immer verliert, wird im Laufe des Buches deutlich, wie Fräulein von Zahnd ebenso den Kontakt zur Außenwelt verloren hat und keinen Ausweg mehr aus ihrer Geisteskrankheit findet. Daher spielt diese kurze Begegnung Möbius' mit den Buben eine wichtige Rolle im Verlauf des Buches und stellt eine Epische Vorausdeutung dar.
Anwendung von Dürrenmatts Dramentheorie
Im zweiten Akt wendet Dürrenmatt seine Dramentheorie an: „Die schlimmstmögliche Wendung, die eine Geschichte nehmen kann, ist die Wendung in die Komödie“. Über die Probleme der modernen Gesellschaft könne man sich seiner Meinung nach nur noch lustig machen – da das Sterben zur Massenerscheinung geworden sei, wäre die Tragödie nicht mehr interessant. Komisch sind dabei nicht die Dialoge, sondern die groteske Situation. Diese grotesken Ereignisse legt er an den wichtigsten Stellen im Buch dar (Irrenärztin ist die einzige Irre im Alten Bau; eine gepflegte kleinbürgerliche Stadt neben einer Strafanstalt im Sumpf).
Aufbau
Dürrenmatt teilt das Theaterstück bewusst in 2 Akte auf. Hierbei stellt der zweite Akt eine Umkehrung des ersten Aktes dar. Diese Beobachtung kann man an mehreren Aspekten belegen. Zum einen weisen die Anfangsszenen von Akt 1 sowie 2 eine Reihe von Parallelen auf. Die Situation der erdrosselten Krankenschwester ist dieselbe, das Leitmotiv des Rauchens und Trinkens wird wieder aufgegriffen und dieselben Handlungen treten auf (das Photographieren des Tatbestandes). Die Umkehrfunktion des zweiten Aktes wird durch die veränderte Charakterzeichnung der agierenden Charaktere deutlich. Der Inspektor, der zu Anfang des Stückes keine Wertevorstellungen besaß (Leitmotiv des Rauchens), hat diese Werte nun auswendig gelernt. Er verkörpert sie jedoch nicht und entzieht sich der Verantwortung, die der Staat für den Patienten Möbius hat, indem er sein Schicksal Doktor Zahnd überlässt. Auch Fräulein Doktor von Zahnd ist verkehrt gezeichnet. Die Philanthropin, als die sie im ersten Akt beschrieben wurde, wird von ihrem wahren Ich ersetzt. Dadurch leitet der Akt auf den Enthüllungsmonolog der Zahnd hin, der die „schlimmstmögliche Wendung“ einleitet. Die Paradoxie der verrückten Ärztin und der genialen Patienten wird ironisch herausgestellt und unterstreicht die Groteske der eintretenden Katastrophe. Hier ruft Dürrenmatt seinen Leser zur kritischen Reflexion, vor allem über den ersten Akt, auf und bereitet die „schlimmstmögliche Wendung“ vor. Er zeichnet verschiedene Repräsentanten, sowie Frau Rose (repräsentativ für das Bildungsbürgertum), Missionar Rose (repräsentativ für die Kirche), sowie den Inspektor (repräsentativ für den Staat), die sich der Verantwortung entziehen. Im zweiten Akt wird die Situation umgekehrt und die wahren Umstände werden deutlich, die zur Katastrophe führen.
Die Schlussmonologe
In den drei Schlussmonologen am Ende finden Kilton, Eisler und Möbius wieder in ihre anfänglichen Rollen als Physiker zurück. Die Geheimagenten stellen sich als Newton und Einstein vor und Möbius identifiziert sich voll und ganz mit dem König Salomon (S. 86: „Ich bin Salomo. Ich bin der arme König Salomo.“). Der Schluss erweckt den Eindruck einer Gerichtsszene, denn Newton, Einstein und Möbius geben zunächst persönliche Daten wie Name, Geburtsdatum und Wohnort an und beschreiben dann ihren Lebenslauf und wissenschaftlichen Werdegang, was wie ein Geständnis ihrer Taten klingt („Aber meine Weisheit zerstörte meine Gottesfurcht“).
Newton steht in seinem Schlussmonolog für das Ideal einer alles umgreifenden Wissenschaft, da er seine Wissenschaft zum Erlangen politischer Macht („Ich bin Präsident der Royal Society“) verwendet hat, die er aber in den Hintergrund stellt („Aber es braucht sich deshalb keiner zu erheben“) und dadurch Weisheit zeigt. Außerdem hat er „die mathematischen Grundlagen der Naturwissenschaft“ geschrieben und drückte durch „Hypotheses non fingo“ seine begründete Gewissheit aus. In vielen weiteren Gebieten wie zum Propheten Daniel und zur Johannes-Apokalypse arbeitete er Manuskripte aus und verkörpert daher ein Genie in fast allen Gebieten und ist mit allen Wassern gewaschen. Jedoch spricht er in seinem Abschiedsmonolog eine Wissenslücke an, nämlich die Frage nach dem Wesen der Schwerkraft, die er offen lassen musste.
In Einsteins Aussage steigert sich das von Newton personifizierte Ideal einer alles umgreifenden Wissenschaft zum Versagen des Wissenschaftlers vor ethischer Herausforderung, an der er trotz seiner Menschenliebe gescheitert ist. Auf seine Empfehlung hin wurde die Atombombe entwickelt und eingesetzt, um tausende Menschen zu töten („aber auf meine Empfehlung hin baute man die Atombombe.“). Obwohl er an derartig zerstörerische Folgen und Ausmaße für die Menschheit wahrscheinlich nicht gedacht hatte, war es doch er, der solch eine grausame Waffe erst ermöglichte und ethische Maßstäbe sprengte.
In Möbius' Schlussmonolog, der sich vollkommen mit König Salomo identifiziert, wird der zuvor gescheiterte Wissenschaftler und Mensch ins Endzeitstadium versetzt. Das durch Newton vermittelte, stolze, weise und alles umgreifende Bild des Wissenschaftlers und Menschen wirkt, durch Salomo symbolisiert, nun kläglich und erbärmlich. Einst unermesslich reich, weise und gottesfürchtig, vernichtet Salomo sich durch die Umsetzung seiner eigenen Weisheit in mehr und mehr Macht und dem daraus resultierenden Größenwahn selbst („Aber meine Weisheit zerstörte meine Gottesfurcht und als ich Gott nicht mehr fürchtete, zerstörte meine Weisheit meinen Reichtum.“). Sein Reich wurde durch die Folgen seiner Wissenschaft in eine blauschimmernde Wüste verwandelt. Die Sonne wird als namenloser Stern beschrieben („…und irgendwo um einen kleinen, gelben, namenlosen Stern…“), da alles Leben auf der Erde vernichtet ist und kein Mensch mehr lebt, der ihn „Sonne“ nennen kann und der von der verseuchten, radioaktiven Erde umkreist wird. Salomo (Möbius), hat die Menschheit durch sein Wissen ins Verderben geführt, da er seine Verantwortung zu spät erkannt hat, um dementsprechend verantwortungsbewusst zu handeln. („…mein Reich leer, das mir anvertraut worden war,…“).
Im Anhang der Komödie finden sich 21 Thesen. Die wichtigsten davon sind:
- Die schlimmstmögliche Wendung ist nicht voraussehbar. Sie tritt durch Zufall ein.
- Träger einer dramatischen Handlung sind Menschen.
- Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall treffen.
- Ein Drama über die Physiker muss paradox sein.
- Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen.
- Was alle angeht, können nur alle lösen.
- Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.
- Im Paradoxen erscheint die Wirklichkeit.
Rezeption
Die Uraufführung der Physiker wurde zum „Theatererfolg der Saison“.[6] Unter der Regie von Kurt Horwitz spielten Hans Christian Blech, Gustav Knuth und Theo Lingen die drei Physiker sowie Therese Giehse die Mathilde von Zahnd. Bereits der Andrang des Premierenpublikums war so groß, dass die „Uraufführung“ am Schauspielhaus Zürich an drei Abenden gegeben wurde, beginnend mit der eigentlichen Premiere am 21. Februar 1962 (in manchen Publikationen wird auch der 20. Februar 1962 genannt) [7]. Das ehemalige „Enfant terrible“ Friedrich Dürrenmatt war nach Auffassung Rudolf Stickelbergers in der Schweiz salonfähig geworden und in Mode gekommen, und es herrschte ein starkes Bedürfnis, den im Ausland bereits ausgezeichneten Dramatiker auch in seiner Heimat Anerkennung zu gewähren. „[S]eine Physiker wären am Zürcher Schauspielhaus nicht einmal durchgefallen, wenn sie es verdient hätten.“[8]
Irma Voser urteilte über die Premiere: „Blickt man auf den Abend zurück, so gewinnt man den Eindruck, ein erstaunliches Werk kennengelernt zu haben. […] Eine Folge von Szenen spielt sich vor uns ab, in denen Dämonisches und Groteskes, kühle Argumentation und skurrile Effekte, vordergründige Kreatürlichkeit und beängstigende Spekulationen in reichster Stufung wechseln und ineinandergreifen. Was Dürrenmatt hier aus den Markierungen gewinnt, wie er etwa das Geigenspiel Einsteins einsetzt, wie er die Positionen fortlaufend vertauscht: das ist nicht nur virtuos, es ist einzigartig.“[9] Ivan Nagel befand, die Handlung überrolle den Zuschauer: „Was in einem Augenblick trivial oder geschmacklos klingt […], wird im nächsten mit verblüffender Vehemenz aufgehoben. […] Der Abend schließt als eine Bestätigung von Dürrenmatts extravaganter Kraft und Originalität.“[10]
Trotz des großen Publikumserfolges erntete Dürrenmatt auch Kritik. Joachim Kaiser sah zwar in einem Thema, „wo mit vernünftigen Leitartikeln wenig zu erreichen ist, […] des Autors wagemutige Brillanz“ triumphieren. Doch er bezweifelte die langfristige Bedeutung der Physiker: „Dürrenmatts Atomstück ist weitergekommen, als irgendein Atomstück vorher. Daß es trotzdem nur ein lustig, skurriles Zeitstück blieb, nur ein Versuch, nur eine Komödie für ein paar Jahre, sollte man ihm nicht vorwerfen.“[11] Noch weiter ging Friedrich Lufts Kritik, die sich vor allem gegen die tragische Wendung des zweiten Aktes richtete: „Dürrenmatt, sonst dem Klischee fleißig Hiebe verteilend, verfällt dem Klischee. Er entwertet seine Moral, indem er plötzlich direkt moralisiert. Er tut es nunmehr ohne die Verkleidung des Ulkes. Und siehe, der Spaß weicht von der Bühne. Aber ernst wird es eigentlich auch nicht. Der Stückschreiber gerät unter sein listiges Niveau. […] Das große wirre Gelächter, das er anstimmen wollte, erstirbt ihm selbst. Das so grandios aufgeworfene Stück Theater vermindert sich, weil Dürrenmatt den Mut zum letzten Übermut doch nicht findet. […] Schade!“[12]
Von solcher Kritik unbeeindruckt wurden Die Physiker nach der deutschen Erstaufführung in München am 22. September 1962 in der Spielzeit 1962/63 mit insgesamt 1598 Aufführungen zum meistgespielten Stück an deutschsprachigen Bühnen vor Max Frischs Andorra mit 934 Aufführungen. Noch Jahrzehnte nach seiner Entstehung gehören Die Physiker neben Der Besuch der alten Dame und Der Meteor zu den am häufigsten aufgeführten Stücken Dürrenmatts. So waren Die Physiker in den Spielzeiten 1982/83 und 1983/84 das meistgespielte Stück an Theatern der Bundesrepublik Deutschland.[6]
Auch im nicht-deutschsprachigen Ausland wurde das Stück zum Publikumserfolg. In London feierte die Übersetzung The Physicists von James Kirkup in einer Inszenierung von Peter Brook im Aldrych Theatre der Royal Shakespeare Company am 9. Januar 1963 Premiere und wurde ein großer Bühnenerfolg.[6] Am New Yorker Broadway wurde das Stück am 13. Oktober 1964 erstmals aufgeführt. Zwar empfahl die amerikanische Theaterkritik den Besuch des „zu komplexen“ Stückes lediglich „dem intellektuellen Publikum“, doch wurden The Physicists auch in New York zum Publikumserfolg der Saison.[13]
1973 inszenierte Friedrich Dürrenmatt sein Stück selbst in einer Produktion des Schweizer Tournee-Theaters. Das Publikum feierte Dürrenmatts Inszenierung mit Ovationen.[13] Irma Voser urteilte über Dürrenmatts Regie allerdings: „Die Inszenierung erntete zwar reichen Beifall, der vor allem Charles Regnier auszeichnete, aber sie blieb hinter Dürrenmatts Partitur zurück: eine sorgfältige, jedoch mäßige Adaption […]“.[14]
In der Rezeption der Literaturwissenschaft wurden Die Physiker oft mit Bertolt Brechts Leben des Galilei verglichen. Manfred Durzak sah Dürrenmatts Stück als eine „Zurücknahme von Brechts Galilei“: „Die Zukunftsperspektive, die in Brechts Galilei dadurch hineinkommt, daß´die objektive Weiterentwicklung der Wissenschaft garantiert ist, weicht bei Dürrenmatt völliger Hoffnungslosigkeit.“[15] Auch Franz-Norbert Mennemeier zog diesen Vergleich, und er sah in Dürrenmatts Stück „[d]as Ende einer Epoche. […] Was der Stolz des 19. Jahrhunderts war: die Naturwissenschaft mitsamt dem Fortschrittsglauben, das dankt hier in aller Form ab.“[16] Für Urs Jenny hat Dürrenmatt in Die Physiker „jenen Dramentypus gefunden, der der ausweglosen Situation der Physik adäquat ist, weil er erlaubt, diese Auswegslosigkeit spannungsvoll zu enthüllen: die Situations-Komödie.“[17]
Adaptionen
1964 produzierte der Süddeutsche Rundfunk ein von Friedrich Dürrenmatt nach seiner Theatervorlage bearbeitetes Fernsehspiel. Die Regie führte Fritz Umgelter. Die Hauptrollen übernahmen Therese Giehse, Wolfgang Kieling, Gustav Knuth und Kurt Ehrhardt.[18]
Andreas Pflüger komponierte nach dem Bühnenstück Die Physiker eine gleichnamige Oper, die im Jahr 2000 uraufgeführt wurde.
Literatur
Textausgaben
- Erstausgabe 1962
- F. Dürrenmatt: Die Physiker. Diogenes Verlag, Neufassung 1980, ISBN 978-3-257-23047-5
Sekundärliteratur
- Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme. 3. Auflage. Zürich: Verlag Die Arche 1955.
- Gerhard P. Knapp: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker. Frankfurt am Main: Diesterweg 1997, ISBN 3-425-06079-1
- Alexander Ritter: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 1991, ISBN 3-15-008189-0
- Heinz Ludwig Arnold: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker. Materialien. Stuttgart: Klett 1980, ISBN 3-12-356100-3
- Hans Mayer: Brecht und Dürrenmatt oder Die Zurücknahme. In: Manfred Brauneck (Hrsg.): Das deutsche Drama vom Expressionismus bis zur Gegenwart. Interpretationen. Zweite, erweiterte Auflage. Bamberg: C.C.Buchners Verlag 1972.
- Bernd Matzkowski: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 368). Hollfeld: Bange Verlag 2000. ISBN 3-8044-1712-4
- F.-J. Payrhuber: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker. Lektüreschlüssel. Stuttgart: Reclam 2001. ISBN 3-15-015302-6
Einzelnachweise
- ↑ Friedrich Dürrenmatt: „Heller als tausend Sonnen“. Zu einem Buch von Robert Jungk. In: Ritter: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 89–91
- ↑ Zitiert nach: Ritter: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 101
- ↑ Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Friedrich Dürrenmatt: Der Klassiker auf der Bühne. Gespräche 1961–1970. Diogenes, Zürich 1996, ISBN 3-257-06111-0, S. 206
- ↑ Fritz J. Raddatz: Ich bin der finsterste Komödienschreiber, den es gibt. In: Die Zeit vom 16. August 1985
- ↑ Zitate: S.41 Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker, Diogenes Verlag, ISBN 978-3-257-23047-5
- ↑ a b c Knapp: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 41
- ↑ Im Folgenden sind einige Werke gelistet, die das Datum der Uraufführung angeben.
21. Februar 1962:- Lutz Tantow: Friedrich Dürrenmatt: Moralist und Komödiant. Heyne, München 1992, ISBN 3-453-05335-4, S. 156
- Christian Markus Jauslin: Friedrich Dürrenmatt: Zur Struktur seiner Dramen. Juris-Verlag, 1964, S. 148
- Alexander Ritter: Friedrich Dürrenmatt, die Physiker: Die Physiker. P. Reclam, 1991, ISBN 3-15-008189-0, S. 1027
Georg Hensel: Spielplan: Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart. Propyläen, 1966, S. 1027 - Friedrich Dürrenmatt, Michael Haller: Friedrich Dürrenmatt: Über die Grenzen. Pendo-Verlag, 1990, ISBN 3-85842-254-1, S. 137 (Auf S. 159 ist der 20. Februar angegeben)
- Franz Norbert Mennemeier: Modernes deutsches Drama. W. Fink, 1973, ISBN 3-7705-1216-2, S. 184
- Gerhard Peter Knapp, Friedrich Durrenmatt: Friedrich Dürrenmatt, die Physiker: Die Physiker. M. Diesterweg, 1979, ISBN 3-425-06079-1, S. 41
- Friedrich Dürrenmatt, Franz Josef Görtz, Georg Hensel: Gesammelte Werke. Diogenes, 1988, S. 813
- Armin Arnold: Zu Friedrich Dürrenmatt. Ernst Klett, 1982, ISBN 3-12-397500-2, S. 97
- Günther Rühle: Theater in unserer Zeit. Suhrkamp, 1976, S. 153
- Urs Jenny: Friedrich Dürrenmatt. Friedrich Verlag, 1965, S. 10 u. S. 120
- Elisabeth Brock-Sulzer: Friedrich Dürrenmatt: Stationen seines Werkes. Verlag der Arche, 1970, S. 324
- ↑ Rudolf Stickelberger: Weltsensation des Theaters? Friedrich Dürrenmatt, seine „Physiker“, seine Lobredner und sein Publikum In: Ritter: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 178
- ↑ Irma Voser: … kein Zuschauer entzieht sich tiefster Betroffenheit …. In: Ritter: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 156
- ↑ Ivan Nagel: Banalität als Keule. In: Ritter: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 160
- ↑ Joachim Kaiser: Die Welt als Irrenhaus. In: Ritter: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 165
- ↑ Friedrich Luft: Letzter Ernst – dargeboten als Ulk. In: Knapp: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 44–45
- ↑ a b Knapp: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 42
- ↑ Irma Voser: … eine sorgfältige, jedoch mäßige Adaption …. In: Knapp: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 51
- ↑ Manfred Durzak: „Die Physiker“ – „Zurücknahme“ von Brechts „Galilei“?. In: Arnold: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 36
- ↑ Franz-Norbert Mennemeier: Optimistische und pessimistische Zeitkritik. In: Arnold: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 41
- ↑ Urs Jenny: Die Physiker. In: Arnold: Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, S. 35
- ↑ Die Physiker in der deutschen und englischen Version der Internet Movie Database
Weblinks
Wikimedia Foundation.