Gottlieb Schnapper-Arndt

Gottlieb Schnapper-Arndt

Gottlieb Schnapper-Arndt (* 2. Oktober 1846 in Frankfurt am Main; † 2. März 1904 in Halberstadt) war ein deutscher Privatgelehrter und Dozent für Statistik.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Schnapper-Arndt war körperlich leicht behindert und besuchte früh bei Kuraufenthalten gemeinnützige Institutionen. Er arbeitete wissenschaftlich gründlich und war sozial engagiert. Er nutzte auch Reportageelemente: ein Stil, der dazu dienen kann, sich neben dem Natur- und Medizin-Wissenschaftsjournalismus besser zu etablieren.

Beim Forschen begleitete ihn eine „gleichgesinnte Gattin“, deren Geburtsnamen Arndt er mit königlicher Erlaubnis angenommen hatte.

Im Alter von 55 Jahren wurde er von der neuen Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt am Main als Dozent für Statistik berufen. In der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg lagern bis heute viele seiner handschriftlichen Recherchen, wie auch ausgefüllte Fragebögen.

Fach- und Wirkungsgeschichtliches

Gottlieb Schnapper-Arndt ist bis heute als anwendungsorientierter wissenschaftlicher Pionier methodisch richtungsweisend für auf gründlicher sozialwissenschaftlicher Recherche und Dokumentation beruhendem Sozialwissenschaftsjournalismus. Wenn auch typischerweise ohne ausdrückliche Rückbezüge, Verweise und Zitate – so greifen doch auch heute noch alle Formen des Sich-Einbohrens in das „soziale Milieu“, die bei ihren qualitativen Datenerhebungen und -präsentationen „Wert auf die Erhaltung des plastischen Charakters des Materials“ legen (Erwin K. Scheuch), auf zuerst von Schnapper-Arndt entwickelte und erprobte sozialwissenschaftliche Methoden der empirischen Feldforschung zurück.

Im Gegensatz zum Begründer der wissenschaftlichen Disziplin, die jahrzehntelang „Volkskunde“ hieß und heute ´empirische Kulturwissenschaft´ genannt wird - dem ´Sozialromantiker´ Wilhelm Heinrich Riehl -, bezog sich Schnapper-Arndt stärker auf die sich seinerzeit rapide entwickelnden (natur-) wissenschaftliche Methoden im allgemeinen und (Sozial-) Statistik im speziellen. In der deutschen und österreichischen Soziologie der späten 1920er und frühen 1930er Jahre wird selbstbewusst an diese sozialwissenschaftlichen Ansätze und ihre Zugangsformen zur sozialen Wirklichkeit angeschlossen: beispielsweise kleinräumig in weniger bekannten „Dorf“studien von Leopold von Wiese (1928) und in der bis heute breit rezipierten, von Paul F. Lazarsfeld angeregten und bevorworteten Marienthalstudie von Marie Jahoda und Hans Zeisel (1933) über Wirkungen langanhaltender Arbeitslosigkeit in einem niederösterreichischen Industriedorf der Uniformen- und Tuchmacherei südlich von Wien, oder in mittelflächig-transnationaler Sicht in Adolf Günthers siedlungssoziologischer Forschungsarbeit zur „alpenländischen Gesellschaft als sozialer und politischer, wirtschaftlicher und kultureller Lebenskreis“ (1930), oder in Theodor Geigers gesamtgesellschaftlicher, damals richtungsweisender, Studie zur sozialen Schichtung des deutschen Volkes als ´soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage´ (1932).

In den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) wurde in den 1920er Jahren die soziologische Chicago-Schule mit führenden Repräsentanten wie Robert E. Park, Ernest W. Burgess, Louis Wirth, George Herbert Mead und William I. Thomas in empirischer Sozialforschung zeitweilig forschungsdominant. Hier verbanden sich besondere Zugangsweisen zur sozialen Wirklichkeit, insbesondere des dynamischen „Großstadtlebens“ (Georg Simmel), und zu Bereichen der versteckten Gesellschaft („hidden society“ (Vilhelm Aubert)) als ´nosing ´round´ (deutsch etwa: sich umschauen, rumstromern) genannte ethnographisch-deskriptive Forschungstechniken der teilnehmenden Beobachtung in Feldstudien mit journalistischem Aufklärungsethos der damals weitverbreiteten Tagespresse („muckracking“), etwa in Studien zu sozialen Problemen mit Titeln wie ´The Hobo´, ´Delinquency Areas´, ´The Gang´, ´Street Corner Society´, ´The Gold Coast and the Slum´, ´The Ghetto´ oder ´Brothers in Crime´. Angesichts sich zunehmend durchsetzender demoskopischer Massenbefragungen („polls“) mit quantitativen Methoden, großflächiger Auswertung und politikrevanter Präsentation wurden ethnographisch-qualitative Studien mit ihren besonderen Zugängen zu unterschiedlichen Sozialmilieus und sozialen Wirklichkeiten zunehmend weniger nachgefragt und auch in der akademischen Sonderwelt subdominant-minoritär. Gleichwohl gab es bedeutsame herkömmlich-ethnographische Forschungen im Sinne Schnapper-Arndts in der US-Soziologie und -Sozialpsychologie bis in die 1960er Jahre und, im Anschluss an Einzelstudien wie Richard Hoggarts ´The Uses of Literacy: Aspects of Working Class Life´ (1957) seit den 1970er Jahren in England (UK): etwa Howard S. Beckers 1951/55 erstpublizierte delinquenz- und karriere-soziologische Milieustudien zu Marihuana-Rauchern („Marihuana user“) und Unterhaltungsmusikern oder Eric Hoffers zuerst 1951 veröffentlichte sozialliterarische Berichte („social writings“) über Unterschichtsfanatiker („true believer“) und andere gesellschaftliche Außenseiter („outsiders“) der US-amerikanischen Massengesellschaft und ihres nachhaltigen Konformitätsdrucks oder britische Cultural Studies wie etwa Paul Willis´ "Learning Labour"-Ansatz zur Beschreibung und Deutung von Widerständigkeit junger Arbeiterburschen gegenüber den Lernerfordernissen in einer von der ´middle class´ und ihrer ideologischen Praxis-geprägten Schule als sozialer Institution.

Abgesehen von wissenschaftlichen Außenseitern (wie Norbert Elias) im sich höchst selten auf Schnapper-Arndt beziehenden akademischen und Wissenschaftsbetrieb sind ethnographische Feldstudien wie beispielsweise zu zeitgenössisch-multiplen Bastelbiographien (Peter Gross, St. Gallen), zu Wiener Prostituierten, Berufskriminellen, Obdachlosen („Sandler“), Kellner(inne)n und dem niederen austrischen Landadel (Roland Girtler), oder, generell-theoriebezogener, verschiedene Beiträge zur Ethnologie kleiner Alltags- und Lebenswelten in (West-) Deutschland (Ronald Hitzler und Anne Honer) heute, im beginnenden 21. Jahrhundert, eher Ausnahme als Regel und insofern minoritäre und exotische Projekte zugleich.

So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass ein real existierender ethnographischer deutschsprachiger Bestseller (R.W.B. McCormack: „Tief in Bayern. Eine Ethnographie“ [Erstauflage 1991]) als ganz unakademische Satire daherkommt, obwohl der Autor, inzwischen emeritierter Amerikanist (Gerd Raeithel), als kulturwissenschaftlich-ethnographisch ambitionierter Publizist in den letzten fünfunddreißig Jahren wichtige Studien zum (Minderheiten-) Witz (in) der US-amerikanischen Gegenwartsgesellschaft und zu witzigen Wortspielen ("puns") der US-Provinzpresse im mittleren Westen veröffentlichte.

Schriften

  • Beschreibung der Wirthschaft und Statistik der Wirthschaftsrechnungen der Familie eines Uhrschildmalers im bad. Schwarzwald [1882/83]; Reprint: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, 1990
  • Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus. Eine socialstatistische Untersuchung über Kleinbauernthum, Hausindustrie und Volksleben, (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, Bd 4, H. 2), Leipzig: Duncker & Humblot 1883, XIII, 322 S. (37,2 MbB) (Online Version als PDF)
  • Hoher Taunus. Eine sozialstatistische Untersuchung in fünf Dorfgemeinden [1883]; bearb. von Erich Peter Neumann, Allensbach: Verlag für Demoskopie, ³1975, XXXVIII/249 p.(= Klassiker der Umfrageforschung Bd. 3) (ISBN 3-87848-001-6)
Posthum
  • Vorträge und Aufsätze, Tübingen 1906 (hgg. v. Leon Zeitlich)
  • Sozialstatistik. (Vorlesungen über Bevölkerungslehre, Wirtschafts- und Moralstatistik. Ein Lesebuch für Gebildete insbesondere für Studierende. Hrsg. v. Leon Zeitlin. Mit 10 Abb. im Text u. 22 Taf., Leipzig: Klinkhardt 1908, XXII, 642 S. (115,2 MB) (Online Version als PDF)
  • Studien zur Geschichte der Lebenshaltung in Frankfurt a.M. während des 17. und 18. Jahrhunderts. Auf Grund des Nachlasses von Gottlieb Schnapper-Arndt hrsg. von Karl Bräuer, Teil 1-2, (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Stadt Frankfurt a.M.. 2,1-2), Frankfurt a.M.: Baer 1915, XXXII, 405; XL, 433 S. (144,2 MB) (Online Version als PDF)
  • Wissenschaftsfernsehen HR, Halbstundenfilm über GSAs Studie im Hohen Taunus.../ Sendung Strukturen am 9. März 1988.

Weblinks


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