- Idiopathische Chemikaliensensitivität
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Klassifikation nach ICD-10 T 78.4 sonstige Unverträglichkeit ICD-10 online (WHO-Version 2006) Die Multiple Chemikalienunverträglichkeit – auch als Chemikalien-Intoleranz, multiple Chemikaliensensitivität, chemische Mehrfachempfindlichkeit, idiopathische Chemikaliensensitivität oder MCS von engl. Multiple Chemical Sensitivity bezeichnet – ist eine Gesundheitsstörung (Krankheit), deren Symptome durch Umweltfaktoren ausgelöst werden. Eine Umwelt-Assoziierung psychischer Symptome reicht nicht aus. Die korrekte medizinische Bezeichnung in Deutschland lautet: "Multiple-Chemical-Sensitivity"
Sie wurde erstmals im Jahr 1948 von dem Allergologen Theron Randolph festgestellt und wird bis heute kontrovers diskutiert.
Inhaltsverzeichnis
Definition
Laut der Arbeitshypothese nach MR Cullen ist MCS eine erworbene Störung, die charakterisiert ist durch rezidivierende Symptome an mehreren Organsystemen. Verursacht wird MCS nach Cullen durch nachweisbare Expositionen gegenüber verschiedenen chemischen Stoffen, die bei Dosen auftreten, die von der klassischen toxikologischen Dosis-Wirkungs-Beziehung erheblich abweichen.
Folgende Kriterien nannte eine Studie des Robert-Koch-Instituts im Auftrag des Umweltbundesamtes im Jahr 2003 für das MCS:
- Initiale Symptome im Zusammenhang mit einer belegbaren Expositionssituation (jedoch ggf. auch einschleichender Beginn)
- Die Symptome werden bei der gleichen Person durch unterschiedliche chemische Stoffe bei sehr geringen Konzentrationen, auf die andere Personen im Allgemeinen nicht mit Gesundheitsbeschwerden reagieren, ausgelöst
- Die Symptome stehen mit der Exposition in erkennbarem Zusammenhang (Symptome durch Exposition reproduzierbar; Besserung bei Expositionskarenz)
- Die Symptome treten in mehr als einem Organsystem auf (nicht in allen Falldefinitionen gefordert)
- Es handelt sich um eine chronische Gesundheitsstörung
- Die Beschwerden sind nicht auf bekannte Krankheiten zurückzuführen.
Diagnoseschlüssel T78.4
Laut ICD10-Klassifikation der WHP wird die MCS in der ICD10-Liste unter die Hauptkategorie S00-T99 „Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen“ dem Diagnoseschlüssel T78.4 („sonstige Allergien und Unverträglichkeiten“) zugeordnet und fällt somit bei der medizinischen Bewertung nicht in den Bereich der psychischen oder somatoformen Erkrankungen.
Symptome und Beschwerden
Es werden Leitsymptome, Allgemeinsymptome, uncharakteristische zentralnervöse Beschwerden, neuropsychiatrische Störungen, periphernervöse Beschwerden, Hypoxie-Intoleranz, Magen-Darm-Beschwerden, Herz-Kreislauf-Symptome, Hautstörungen und Gelenk- und Muskelbeschwerden unterschieden.
- Leitsymptome
- Allgemeinsymptome
- uncharakteristische zentralnervöse Beschwerden
- neuropsychiatrische Störungen
- periphernervöse Beschwerden
- Hypoxie-Intoleranz
- Magen-Darm-Beschwerden
- Refluxösophagitis (Sodbrennen)
- Übelkeit
- Appetitmangel
- Stuhlunregelmäßigkeiten
- Herz-Kreislauf-Symptome
- Herzrasen (Tachykardie)
- Hautstörungen
- verschiedene Hautveränderungen
Es ist jedoch zu beachten, dass alleine aufgrund des Vorliegens der unspezifischen Allgemein-Symptome keine Diagnose MCS möglich ist. Solche können naturgemäß durch ganz andere Krankheiten bedingt sein, wie Infektionen, Allergien vom Typ I - IV, Autoimmunkrankheiten, Migräne usw.
MCS kann seit 1996 in Deutschland als Behinderung anerkannt und mit der Kennung "DIMDI- IDT 10 T 78.4" als "sonstige Unverträglichkeit" von Ärzten diagnostiziert werden. MCS ist, wie alle seltenen Gesundheitsstörungen, nur in dem "Offiziellen Alphabetischen Verzeichnis IDT 10" zur Deutschen Ausgabe der "ICD 10 2006 GM" enthalten.
Ursachen
Die multiple Chemikalienunverträglichkeit ist ein umstrittenes, in medizinischen Fachkreisen nicht allgemein anerkanntes Krankheitskonzept. So zeigen wissenschaftliche Studien eine hohe psychosomatische bzw. psychiatrische Komorbidität von MCS-Patienten.[1][2][3][4] Allerdings treten Angststörungen, Anpassungsstörungen, Depressionen oder psychosozialer Stress auch nicht häufiger auf als bei anderen chronischen Erkrankungen wie z. B. Diabetes Mellitus oder Asthma, aber häufiger als in der Bevölkerung allgemein.[5] Unter kontrollierten Bedingungen durchgeführte Provokationstests erlauben keine auf spezifische Chemikalieneinwirkung zurückgehende Unterscheidung zwischen subjektiv von MCS betroffenen Patienten und Vergleichspopulationen.[6][7]
Zu den Ursachen von MCS gibt es im Wesentlichen zwei Positionen:
- MCS als arbeits- oder umweltbedingte Störung (mit möglicher genetischer Beteiligung), wie: Vergiftung, Entgiftungsstörung, Fehlfunktion von Nerven-, Immun-, Hormonsystem oder Atemwegen, Herabsetzung nervlicher Auslöseschwellen für Missempfindungen, Schmerzen und Fehlfunktionen. Chemische Auslöser von MCS können u. a. Lösungsmittel, Pestizide, bestimmte Metalle und ihre Legierungen, Verbrennungsprodukte und andere Schadstoffgemische sein (Ashford/Miller 1998). Vor allem eine Beteiligung genetischer Varianten der Cytochrom-P450-Enzyme scheinen eine wichtige Rolle zu spielen; eine neue Studie (2007) die in Zusammenarbeit mit der „Universität Bremen, Abteilung Humangenetik und Genetische Beratungsstelle“ sowie dem „Kinderkrankenhaus Hannover, Abteilung Hematologie und Onkologie“ entstand, zeigt erste Hinweise hierzu. [8]
- MCS als psychosomatische oder psychiatrische Störung, z. B.: Depression, Zwangsneurose, Ökochondrie oder Chemophobie. Zahlreiche psychosomatisch orientierte Untersucher sehen die Symptome als Ausdruck einer Panikattacke oder das Krankheitsbild als eine Somatoforme Störung an. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich die Diagnose der Umweltbezogenheit ausschließlich auf die Überzeugung des Betroffenen, unabhängig vom objektiven Nachweis einer Exposition bezieht. Die klinische, umweltmedizinische, laborchemische Untersuchung erbringt nach dieser Auffassung keinen Nachweis einer Exposition, eines Kausalzusammenhangs zwischen Exposition und Ausmaß der Beschwerden und/oder von organisch begründbaren Erkrankungen, die die Beschwerden ausreichend erklären können. Was gegen diese Position spricht, ist die Tatsache, dass durch Psychotherapien bei MCS-Kranken bisher praktisch keine nennenswerte Heilungserfolge erzielt wurden. Laut WHO und ICD10-Klassifikation wird MCS jedoch offiziell in der ICD10-Liste dem Schlüssel T78.4 "Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen" zugeordnet und fällt somit bei der medizinischen Bewertung nicht in den Bereich der psychischen oder somatoformen Erkrankungen.
- Auf dem Hintergrund eines „Bio-psycho-sozialen“ Krankheitsmodells, sind Schadstoffe in Kombination mit psychischen oder körperlichen Vulnerabilitätsfaktoren (wie z. B. starker Stress, allergische Disposition, Asthma u. Ä.) als Risikofaktoren für MCS anzusehen. [9]
Bei einer zweiphasigen Gesundheitsstörung ist zu unterscheiden zwischen a) der Ätiologie und b) den symptomauslösenden Ursachen.
Die Aufklärung der Ätiologie wird im Einzelfall in vielen Fällen nicht gelingen, denn es gibt keine validierten differenzialdiagnostischen Methoden, die es erlauben würden, zwischen umweltbedingten oder psychogen bedingten psychischen Störungen zu differenzieren.
Ob andere Krankheiten, wie psychosomatische, psychiatrische oder andere organisch bedingte Gesundheitsstörungen, überhaupt zur MCS zu rechnen sind, ist nach der Literatur leider unklar. In Deutschland gilt für die Diagnose der MCS das Prinzip der Ausschlussdiagnostik. Die genannten anderen Krankheiten sind von Ärzten bei der Diagnose ganz anderen Kategorien der deutschen Ausgabe der ICD-10 zuzuordnen. Die Patienten klagen über Symptome entzündlichen Charakters (ZNS-Vaskulitis) und ihnen ist eine unnötige Stigmatisierung durch eine Diagnose auf der Basis einer psychogenen Hypothese und der damit verbundene Stress, nicht zumutbar.
Folgen und Komplikationen
Die vielfältigen Beschwerden einer Multiplen Chemikalienunverträglichkeit schränken die Lebensqualität, das Berufsleben, die Leistungsfähigkeit und das Alltagsleben des Betroffenen stark ein. Die Kopfschmerzen und die anderen Schmerzsyndrome sowie die Allgemeinsymptome können zu häufigen Arztbesuchen und Krankschreibungen, zu häufigen Fehlzeiten, zur Arbeitsunfähigkeit, zum Missbrauch von Schmerztabletten und zur Medikamentenabhängigkeit führen.
Oft können diese Patienten schon ganz alltägliche Belastungen mit Chemikalien nicht vertragen. Duftstoffe in Parfüms, Seifen und Rasierwässern, die Ausdünstungen von Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen oder Desinfektionsmittel in Arztpraxen und Krankenhäusern machen den Patienten das Leben schwer. Diese chronische Erkrankung führt zu Konflikten in der Familie, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz, in schwersten Formen zu sozialer Isolation.
Gelegentlich fühlen Betroffene sich nicht Ernst genommen oder stigmatisiert, weil aus ihrer Sicht Angehörige, Kollegen und Ärzte ihre Beschwerden bagatellisieren oder als psychisch bedingt erklären.
Behandlung
Bei MCS können hilfreich sein:
- Schulungsmaßnahmen, die den Umgang mit der Erkrankung verbessern
- Schulungsmaßnahmen, die den Wissensstand über die Erkrankung verbessern
- psychotherapeutische Unterstützung
Ein Positionspapier des Arbeitskreises „Klinische Umweltmedizin“ der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin aus dem Jahr 2002 empfiehlt zur Behandlung von MCS Psychotherapie und kognitive Verhaltenstherapie. Eine stützende psychiatrische oder psychologische Behandlung sei sinnvoll, wenn sie die Vermittlung von Bewältigungsstrategien zum Ziel habe. (Vgl.: Deutsches Ärzteblatt 99, Ausgabe 38 vom 20. September 2002).
Literatur
- Martin L. Pall: Explaining "Unexplained Illnesses". Disease Paradigm for Chronic Fatigue Syndrome, Multiple Chemical Sensitivity, Fibromyalgia, Post-Traumatic Stress Disorder, Gulf War Syndrome, ans Others. Harrington Park Press/ Haworth Press New York, London, 2007. ISBN 978-0-7890-2388-9
- Nicholas Ashford & Claudia Miller: Chemical Exposures; John Wiley & Sons Inc; 1998; ISBN 0471292400
- William J. Rea: Chemical Sensitivity Volume 1-4; Lewis Publishers; Volume 1 ISBN 0873715411 ; Volume 2 ISBN 0873719638 ; Volume 3 ISBN 0873719646 ; Volume 4 ISBN 0873719654
Einzelnachweise
- ↑ Zucco G.M. et al.: Discriminating between organic and psychological determinants of multiple chemical sensitivity: A case study. Neurocase. 2008;14(6):485-93.
- ↑ Eis D. et al.: The German Multicentre Study on Multiple Chemical Sensitivity (MCS). Int J Hyg Environ Health. 2008 Oct;211(5-6):658-81.
- ↑ Hausteiner C. et al.: Dysfunctional cognitions in idiopathic environmental intolerances (IEI)--an integrative psychiatric perspective. Toxicol Lett. 2007 Jun 15;171(1-2):1-9.
- ↑ Osterberg K. et al.: Personality, mental distress, and subjective health complaints among persons with environmental annoyance. Hum Exp Toxicol. 2007 Mar;26(3):231-41.
- ↑ Anke Bauer, Eberhard Schwarz, F. Oliver Hauf und Christoph Mai. Multiple Chemical Sensitivity / MCS: Ein Update. Umwelt, Medizin, Gesellschaft 21, 4/2008 PDF
- ↑ Das-Munshi J. et al.: Multiple chemical sensitivities: A systematic review of provocation studies. J Allergy Clin Immunol. 2006 Dec;118(6):1257-64.
- ↑ Bornschein S. et al.: Double-blind placebo-controlled provocation study in patients with subjective Multiple Chemical Sensitivity (MCS) and matched control subjects. Clin Toxicol (Phila). 2008 Jun;46(5):443-9.
- ↑ E. Schnakenberg, K.-R. Fabig; "A cross-sectional study of self-reported chemical-related sensitivity is associated with gene variants of drug-metabolizing enzymes"; Full Text
- ↑ Bauer, Schwarz, Martens, umwelt medizin gesellschaft 17/1:151-159, 2004
Verwandte Themen
Weblinks
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