- Migräne
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Klassifikation nach ICD-10 G43.0 Migräne ohne Aura (Gewöhnliche Migräne) G43.1 Migräne mit Aura (Klassische Migräne) G43.2 Status migraenosus G43.3 Komplizierte Migräne G43.8 Sonstige Migräne G43.9 Migräne, nicht näher bezeichnet ICD-10 online (WHO-Version 2011) Die Migräne (von altgriechisch ἡμίκραιρα hēmíkraira ‚halber Kopf‘)[1] ist eine neurologische Erkrankung, unter der etwa 10 % der Bevölkerung leiden. Sie tritt bei Frauen etwa dreimal so häufig auf wie bei Männern und hat ein vielgestaltiges Krankheitsbild. Dieses ist bei Erwachsenen typischerweise durch einen periodisch wiederkehrenden, anfallartigen, pulsierenden und halbseitigen Kopfschmerz gekennzeichnet, der von zusätzlichen Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen, Lichtempfindlichkeit (Photophobie) oder Geräuschempfindlichkeit (Phonophobie) begleitet werden kann. Bei manchen Patienten geht einem Migräneanfall eine Migräneaura voraus, während der insbesondere optische oder sensible Wahrnehmungsstörungen auftreten. Es sind aber auch motorische Störungen möglich. Die Diagnose wird nach Ausschluss anderer Erkrankungen als Ursachen üblicherweise mit Hilfe einer Anamnese gestellt.
Epidemiologie
In Deutschland leiden etwa acht Millionen Menschen an einer Migräne.[2] Statistisch gesehen sind Frauen (Prävalenz 18 %) häufiger als Männer (Prävalenz 6 %) betroffen. Dabei wird die Störung vor allem bei Personen im Alter zwischen 25 und 45 Jahren festgestellt. Die Krankheit kann schon im Kindesalter beginnen. Im letzten Grundschuljahr klagen bis zu 80 % aller Kinder über Kopfschmerzen. Etwa 12 % von ihnen berichten über Beschwerden, die mit der Diagnose einer Migräne vereinbar sind.[3] Bis zur Pubertät erhöht sich der Anteil auf 20 %. Vor der Geschlechtsreife besteht statistisch gesehen kein Unterschied zwischen den Geschlechtern in Bezug auf das Erkrankungsrisiko. Erst mit der Pubertät und synchron zur Entwicklung der Sexualfunktion steigt die Prävalenz beim weiblichen Geschlecht an. Allerdings wird insbesondere bei Männern, die häufiger an nichtklassischen Migräneformen leiden, eine höhere Dunkelziffer angenommen.[4][5] Die obengenannten Prävalenzraten sind daher kritisch zu betrachten.
Auf Grund ihrer Häufigkeit besitzt die Migräne eine nicht zu unterschätzende volkswirtschaftliche Bedeutung. Jährlich werden in Deutschland etwa 500 Mio. Euro als direkte Kosten von Patienten und Krankenversicherungen für die ärztliche und medikamentöse Behandlung der Migräne ausgegeben. Die durch Arbeitsausfall und Produktivitätseinschränkungen zusätzlich entstehenden indirekten Kosten werden auf über das 10-fache dieser Summe geschätzt.[6]
Symptome
Während eines Migräneanfalls können verschiedene Phasen mit unterschiedlichen charakteristischen Symptomen durchlaufen werden. Oft kündigt sich ein Anfall durch eine Vorboten- oder Prodromalphase mit Vorbotensymptomen an. Dieser kann eine Phase mit Wahrnehmungsstörungen, die sogenannte Migräneaura, folgen, die insbesondere das Sehen betreffen. In der Kopfschmerzphase bestehen neben den Kopfschmerzen unterschiedliche weitere Symptome, wie Übelkeit, Erbrechen, Licht-, Lärm- und Geruchsempfindlichkeit. Bei manchen Patienten überdauert der Migräneanfall das Abklingen der Kopfschmerzen. Diese Phase wird als Rückbildungsphase bezeichnet.
Vorbotenphase
Bei mindestens 30 % der Migränepatienten kündigt sich eine Migräneattacke bereits frühzeitig in Form von Vorbotensymptomen an. Die Vorbotenphase kann wenige Stunden bis zwei Tage einer Migräneattacke vorausgehen und dauert bei den meisten Patienten ein bis zwei Stunden an.[7] Während der Vorbotenphase treten insbesondere psychische, neurologische und vegetative Symptome auf, die sich von denen der Auraphase unterscheiden. Am häufigsten sind Müdigkeit, Geräuschempfindlichkeit und häufiges Gähnen.[8] Vielfach zeigen sich auch Störungen im Magen-Darm-Trakt, die Verstopfungen einschließen können. Charakteristisch ist bei vielen Patienten ein Heißhunger auf bestimmte Nahrungsmittel, der meist als Migräneauslöser fehlinterpretiert wird. Viele Patienten erkennen keinen kausalen Zusammenhang zwischen diesen Symptomen und einer deutlich später folgenden Migräneattacke. Daher wird die Häufigkeit dieser Symptome als Vorboten einer Migräneattacke möglicherweise deutlich unterschätzt.[8]
Auraphase
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Fortifikation mit an ein Fort erinnernden Zickzack-Strukturen
Migräne geht in ca. 15 bis 20 % der Fälle mit einer Aura einher. Es werden in der Auraphase meist visuelle Störungen, wie Skotome, Fortifikationen, Verlust des räumlichen Sehens und Unschärfe, oder Sensibilitätsstörungen, wie der Verlust der Berührungsempfindung oder Kribbelempfindungen in den Armen, Beinen und im Gesicht, empfunden, die langsam einsetzen und wieder vollständig abklingen. Zusätzlich können Störungen des Geruchsempfindens, Gleichgewichtsstörungen, Sprachstörungen oder andere neurologische Ausfälle auftreten. Die Aura wird von Patient zu Patient anders wahrgenommen und beschrieben. Auren mit stark visueller Ausprägung, wie sie im Rahmen einer Migräne auftreten können, werden auch als Alice-im-Wunderland-Syndrom bezeichnet.[9] Einige berühmte Migränepatienten ließen sich von visuellen Erscheinungen während der Auraphase für ihr künstlerisches Werk inspirieren.[10]
Charakteristisch für Migräneauren ist die Dynamik des Prozesses, das heißt, beispielsweise das „Wandern“ des Flimmerskotoms im Gesichtsfeld oder Wandern des Kribbelgefühls im Arm oder durch die einzelnen Finger. Auch eine Verschiebung der Aurasymptome, beispielsweise von Sehstörungen über Sensibilitätsstörungen bis hin zu Sprachstörungen und Lähmungserscheinungen, kann beobachtet werden. Diese Dynamik zeigt sich bei Messungen im Gehirn in Form einer wandernden Störungsfront (Streudepolarisierung). Die Dynamik der Symptome sowie deren langsames Einsetzen und Abklingen sind ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu anderen neurologischen Erkrankungen, insbesondere gegenüber dem Schlaganfall. Die Aura hat keinerlei schädigende Auswirkungen auf das Hirngewebe, ihre Anzeichen sind lediglich vorübergehend und dauern in der Regel bis zu 60 Minuten.
Auren können in Einzelfällen auch alleine, ohne eine nachfolgende Kopfschmerzphase, auftreten.
Kopfschmerzphase
Der Kopfschmerz tritt in der Kopfschmerzphase meistens halbseitig (etwa 70 % der Fälle), insbesondere im Bereich von Stirn, Schläfe und Auge, auf. Er ist meist pulsierend und nimmt bei körperlicher Betätigung an Intensität zu, während Ruhe und Dunkelheit zur Linderung der Kopfschmerzen beitragen. Die Kopfschmerzen des Migräneanfalls werden oft von zusätzlichen Symptomen wie Appetitlosigkeit (> 80 %), Übelkeit (80 %), Erbrechen (40–50 %) sowie Photophobie (60 %), Phonophobie (50 %) und seltener Osmophobie (Geruchsempfindlichkeit, < 10–30 %) begleitet.[11] Der Kranke ist blass und erträgt äußere Einflüsse wie Licht und Lärm schlecht, da diese seine Beschwerden noch verstärken. Die Dauer der Kopfschmerzphase variiert zwischen 60 Minuten und bis zu drei Tagen in Abhängigkeit von Patient und Migräneform. Kinder haben kürzere Migräneattacken mit eher beidseitiger Lokalisation in der Stirn-Schläfenregion. Als Begleitsymptom treten bei Kindern und Jugendlichen häufiger Geruchsempfindlichkeit, Schwindel und Gleichgewichtsstörungen auf.[3] Einige Sonderformen der Migräne können ohne Kopfschmerz auftreten.
Rückbildungsphase
In der Rückbildungsphase nehmen der Migränekopfschmerz und die Begleitsymptome bis zur vollständigen Erholung langsam ab. Der Patient fühlt sich müde und abgespannt. Diese Phase kann bis zu 24 Stunden dauern.
Auslösende Faktoren
Da die Prävalenz der Migräne in den Industrieländern in den letzten 40 Jahren um den Faktor zwei bis drei zugenommen hat, kann angenommen werden, dass Umweltfaktoren und Lebensstil eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der Migräne spielen. Migräne kann bei empfindlichen Personen durch spezielle Situationen oder Substanzen, sogenannte Trigger (Schlüsselreize), ausgelöst werden. Dazu zählen insbesondere hormonelle Faktoren, Schlaf, Stress, Lebensmittel und Umweltfaktoren.[12] Diese Auslösefaktoren sind jedoch individuell sehr unterschiedlich und können mit Hilfe eines Kopfschmerztagebuchs in Erfahrung gebracht werden.
Zu den häufigsten Auslösern einer Migräne zählen Stress, unregelmäßiger Biorhythmus mit Schlafmangel oder zu viel Schlaf und Umweltfaktoren.[12] Bei einigen Migränepatienten folgt ein Migräneanfall erst in der Poststress-Entspannungsphase („Wochenendmigräne“). Neben Geruchsreizen werden oft Wetterschwankungen als äußere Faktoren genannt, die eine Migräneattacke auslösen können.
Einer der wichtigsten Triggerfaktoren bei Frauen sind hormonelle Schwankungen. Über die Hälfte aller weiblichen Migränepatienten gibt den Menstruationszyklus als Auslöser einer Migräne an. Ein Migräneanfall kann insbesondere während der späten lutealen Phase des Zyklus oder während der einnahmefreien Zeit bei der Empfängnisverhütung mit oralen Kontrazeptiva auftreten.[13]
Etwa zwei Drittel aller Migränepatienten sehen einen Zusammenhang zwischen dem Konsum bestimmter Lebens- und Genussmittel und dem Auslösen eines Migräneanfalls. Als wichtigster Migränetrigger dieser Gruppe gilt Alkohol. Darüber hinaus werden insbesondere glutamat-, tyramin-, histamin- und serotoninhaltige Lebens- und Genussmittel, wie Rotwein, Schokolade und Käse als Auslösefaktoren genannt. Auch Kaffee wird häufig als ein Auslösefaktor empfunden.[12] Von vielen Patienten wird jedoch ein gesteigerter Appetit auf bestimmte Lebensmittel, der ein bekannter Vorbote einer bereits sich anbahnenden Migräneattacke ist, als Auslösefaktor fehlinterpretiert. Somit werden viele der ernährungsbedingten Faktoren als Ursache überbewertet. Wichtiger erscheint eine regelmäßige Ernährung ohne Auslassen von Mahlzeiten.
Auch einige Arzneimittel, insbesondere Stickstoffmonoxid freisetzende, gefäßerweiternde Substanzen (Vasodilatatoren), können einen Migräneanfall induzieren.[14]
Einteilung und Klassifikation
Klassifikation der Migräne
gemäß der Richtlinie der IHS[15]1. Migräne ohne Aura (Gewöhnliche Migräne) 2. Migräne mit Aura (Klassische Migräne) 2.1. Typische Aura mit Migränekopfschmerz 2.2. Typische Aura mit Nicht-Migränekopfschmerz 2.3. Typische Aura ohne Kopfschmerz 2.4. Familiäre hemiplegische Migräne 2.5. Sporadische hemiplegische Migräne 2.6. Migräne vom Basilaristyp 3. Periodische Syndrome in der Kindheit, die im
allgemeinen Vorläufer einer Migräne sind3.1. Zyklisches Erbrechen 3.2. Abdominelle Migräne 3.3. Gutartiger paroxysmaler Schwindel in der Kindheit 4. Retinale Migräne 5. Migränekomplikationen 5.1. Chronische Migräne 5.2. Status migränosus 5.3. Persistierende Aura ohne Hirninfarkt 5.4. Migränöser Infarkt 5.5. Zerebrale Krampfanfälle, durch Migräne getriggert 6. Wahrscheinliche Migräne (migräneartige Störung) 6.1. Wahrscheinliche Migräne ohne Aura 6.2. Wahrscheinliche Migräne mit Aura 6.3. Wahrscheinliche chronische Migräne Die Migräne ist wie der Spannungskopfschmerz und der Clusterkopfschmerz eine primäre Kopfschmerzerkrankung. Das heißt, sie ist nicht die offensichtliche Folge anderer Erkrankungen wie Hirntumoren, Hirntraumata, Hirnblutungen oder Entzündungen.
Die Klassifikation der Migräne und migräneartiger Erkrankungen gemäß der Richtlinien der International Headache Society (IHS) erfolgt primär anhand des Auftretens oder der Abwesenheit einer Migräneaura.[15]
Migräne ohne Aura (Gewöhnliche Migräne)
Die Migräne ohne Aura ist mit etwa 80–85 % der Migräneanfälle die häufigste Form der Migräne. Von einer Migräne ohne Aura kann gesprochen werden, wenn in der Krankengeschichte mindestens fünf Migräneattacken auftraten, bei denen mindestens zwei der vier Hauptkriterien erfüllt sind und der Kopfschmerzphase keine Aura vorausging:
- Hemikranie (einseitiger Kopfschmerz), Seitenwechsel ist möglich
- mittlere bis starke Schmerzintensität
- pulsierender oder pochender Schmerzcharakter
- Verstärkung durch körperliche Aktivität
Zusätzlich muss mindestens ein vegetatives Symptom, also Übelkeit und optional Erbrechen oder Phono- und Photophobie, vorhanden sein.[15] Wenngleich eine Auraphase fehlt, können Vorboten wie Unruhe, Erregungszustände und Stimmungsveränderungen auftreten. Diese zeigen sich einige Stunden bis zwei Tage vor der eigentlichen Attacke. Der Kopfschmerz ist in 2/3 der Fälle halbseitig und pulsierend, verstärkt sich bei körperlicher Aktivität und kann unbehandelt zwischen 4 Stunden und 3 Tagen andauern. Begleitsymptome wie Übelkeit oder Erbrechen (80 %), Lichtempfindlichkeit (60 %), Geräuschempfindlichkeit (50 %) und Geruchsempfindlichkeit (< 30 %) können auftreten.[16] Bei Kindern kann die Migränedauer verkürzt sein. Dafür ist bei ihnen der Kopfschmerz meist beidseitig lokalisiert. Bei Frauen weist die Migräne ohne Aura oft eine strenge Beziehung zur Menstruation auf. Neuere Leitlinien unterscheiden daher zwischen einer nicht-menstruellen, einer menstruationsassoziierten und einer rein menstruellen Migräne ohne Aura.[17]
Migräne mit Aura (Klassische Migräne)
Eine Migräne mit Aura ist durch reversible neurologische Symptome, die Sehstörungen mit Gesichtsfeldausfällen, Skotomen, Lichtblitzen oder Wahrnehmen von bunten, schillernden, gezackten Linien oder Flimmern, Gefühlsstörungen mit Kribbeln oder Taubheitsgefühl und Sprachstörungen einschließen, geprägt. Gelegentlich (6 %) kommt es auch zu motorischen Störungen bis hin zu Lähmungserscheinungen. Diese Aurasymptome halten im Durchschnitt 20–30 Minuten, selten länger als eine Stunde an. Während der Aura bis spätestens 60 Minuten danach tritt zumeist eine Kopfschmerzphase ein, die der Migräne ohne Aura entspricht und von Begleitsymptomen, wie Übelkeit, Erbrechen, Lichtempfindlichkeit und Geräuschempfindlichkeit begleitet sein kann. Diese Kopfschmerzphase kann, wie im Falle der typischen Aura ohne Kopfschmerz, vollständig fehlen.
Nach den Kriterien der IHS wird von einer Migräne mit Aura gesprochen, wenn die folgenden Kriterien erfüllt sind:[15]
- vollständig reversible Sehstörungen, Gefühlsstörungen oder Sprachstörungen
- sich langsam entwickelnde oder ablösende Aurasymptome mit einer Dauer von 5–60 min.
Typische Aura mit Migränekopfschmerz
Die typische Aura mit Migränekopfschmerz ist die häufigste Form der Migräne mit Aura. Daneben folgt bei vielen Patienten der Aura ein Kopfschmerz, der nicht den Kriterien eines Migränekopfschmerzes entspricht. Die Kopfschmerzen sind dann nicht pulsierend, halbseitig und von zusätzlichen Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit begleitet.[15]
Typische Aura ohne Kopfschmerz
Während die meisten Migräneauren von einem Kopfschmerz gefolgt werden, tritt bei einer Minderheit an Patienten eine Aura, die oben genannten Kriterien entspricht, ohne Kopfschmerz auf. Dieser Migränetyp ist besonders bei Männern verbreitet. Darüber hinaus kann bei Migränepatienten mit zunehmenden Alter eine typische Aura mit Migränekopfschmerz in eine typische Aura ohne Migräne übergehen.[15]
Familiäre hemiplegische Migräne
Neben den oben genannten typischen Symptomen einer Migräne mit Aura sind bei der seltenen, aber familiär gehäuft auftretenden familiären hemiplegischen Migräne oft motorische Störungen zu beobachten. Auch Symptome, die charakteristisch für eine Migräne vom Basilaristyp sind, sowie Bewusstseinsstörungen bis zum Koma, Fieber und Verwirrtheitszustände auftreten. Das wichtigste Kriterium für die Diagnose ist, dass wenigstens ein Verwandter ersten oder zweiten Grades ebenfalls Migräneattacken mit den Symptomen einer familiären hemiplegischen Migräne aufweist.[15] Als eine Ursache für die familiäre hemiplegische Migräne konnten bisher drei Gendefekte mit Lokalisation auf den Chromosomen 1, 2 und 19 gefunden werden. Anhand der Lage der Gendefekte kann zwischen den Typen I (FMH1), II (FMH2) und III (FMH3) der familiären hemiplegischen Migräne unterschieden werden.[18]
Sporadische hemiplegische Migräne
Die sporadische hemiplegische Migräne gleicht in ihren Symptomen der familiären hemiplegischen Migräne. Das wichtigste Unterscheidungskriterium gegenüber der familiären hemiplegischen Migräne ist das Fehlen von vergleichbaren Fällen in der Verwandtschaft ersten und zweiten Grades. Auch können der sporadischen hemiplegische Migräne keine Gendefekte als Ursache zugeordnet werden. Von einer sporadischen hemiplegische Migräne sind insbesondere Männer betroffen und ihre Häufigkeit ist mit der der familiären hemiplegischen Migräne vergleichbar.[15]
Migräne vom Basilaristyp
Die Migräne vom Basilaristyp, auch Basilarismigräne genannt, tritt gehäuft bei jungen Erwachsenen auf. Die neurologischen Symptome einer Migräne vom Basilaristyp können von den zuvor genannten Aurasymptomen abweichen. Charakteristische Symptome sind Sprachstörungen, Schwindel, Tinnitus, Hörminderung, Doppelbilder, Sehstörungen gleichzeitig sowohl im temporalen als auch im nasalen Gesichtsfeld beider Augen, Ataxie, Bewusstseinsstörung oder gleichzeitige beidseitige Parästhesien.[15] In Einzelfällen kommt es zu einem locked-in-Syndrom: vollständige Bewegungslosigkeit bei wachem Bewusstsein für die Dauer von 2 bis 30 Minuten, gelegentlich sind noch vertikale Augenbewegungen möglich (Bickerstaff-Syndrom). Sowohl die Aurasymptome als auch der Migränekopfschmerz werden meist beidseitig wahrgenommen. Eine Beteiligung der namensgebenden Arteria basilaris wird zwar vermutet, ist aber nicht gesichert.
Retinale Migräne
Charakteristisch für eine retinale Migräne sind obligatorisch einseitige auraähnliche visuelle Phänomene, wie Skotome, Flimmern oder Blindheit, die sich auf die Zeit der Migräneattacke beschränken. Während dieser Sehstörungen oder bis zu 60 Minuten danach setzt die Migränekopfschmerzphase ein.[15]
Wahrscheinliche Migräne
Von einer wahrscheinlichen Migräne wird gemäß IHS gesprochen, wenn mit Ausnahme von einem Kriterium alle Kriterien für die Diagnose einer Migräne ohne Aura oder einer Migräne mit Aura erfüllt sind. Eine Einstufung als eine wahrscheinliche Migräne sollte auch erfolgen, wenn die zuvor genannten Kriterien einer Migräne mit oder ohne Aura erfüllt wurden, aber auch akut Medikamente in einer Menge eingenommen wurden, die einen medikamenteninduzierten Kopfschmerz nicht ausschließen.[15]
Migränekomplikationen
Chronische Migräne
Leidet ein Patient an mehr als 15 Tagen im Monat über mehrere Monate (≥ 3) hinweg unter einer Migräne, so spricht man von einer chronischen Migräne. Die chronische Migräne ist oft eine Komplikation der Migräne ohne Aura und wird in zunehmenden Fällen beobachtet. Von einer chronischen Migräne abzugrenzen ist der ebenfalls chronische Kopfschmerz bei Medikamenteneinnahme, der beispielsweise durch einen Übergebrauch von Analgetika induziert wird.[15]
Status migränosus
Bei einem Status migränosus geht ein Migräneanfall unmittelbar in den nächsten über oder die Migränesymptome nehmen nach 72 Stunden nicht ab.[15] Dem Patienten bleibt kaum Erholungszeit und der Leidensdruck ist dementsprechend hoch.
Migränöser Infarkt
Der migränose Infarkt ist eine Komplikation einer Migräne mit Aura, wobei die Aurasymptome länger als 60 Minuten andauern. Während eines migränösen Infarktes kann es zu einer Minderdurchblutung bestimmter Gehirnteile und zu dauerhaften Schäden kommen, die mit Hilfe bildgebender Verfahren nachweisbar sind.[15] Betroffen sind vor allem Frauen unter 45 Jahren mit Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht oder Pilleneinnahme, dazu liegt meistens eine Migräne mit Aura vor.
Persistierende Aura ohne Infarkt
Die seltene persistierende Aura ohne Infarkt ist gekennzeichnet durch Aurasymptome, die länger als eine Woche anhalten, ohne dass ein Hirninfarkt radiologisch nachgewiesen werden kann. Die Aurasymptome werden meist beidseitig wahrgenommen.[15] Im Gegensatz zum migränösen Infarkt wird das Gehirn nicht dauerhaft geschädigt.
Migralepsie
Unter Migralepsie werden zerebrale Krampfanfälle verstanden, die durch eine Migräne getriggert werden. Sie ist eine Komplikation einer Migräne mit Aura, bei der die komplexen Verbindungen zwischen Migräne und Epilepsie deutlich werden. Ein epileptischer Anfall wird während oder innerhalb von 60 Minuten nach einer Auraphase ausgelöst.[15]
Diagnose
Die Migräne ist eine Erkrankung, die auf Basis der Beschwerden diagnostiziert wird. Die Diagnose einer Migräne erfolgt durch eine Befragung des Patienten mit Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese). Zu diesem Zweck kann auch ein Kopfschmerztagebuch geführt und der Grad der Beeinträchtigung (Migraine Disability Assessment Score) dokumentiert werden. Eine allgemeine körperliche Untersuchung trägt über den Ausschluss anderer Erkrankungen als Kopfschmerzursache ebenfalls der Diagnosefindung bei und spielt eine wichtige Rolle bei der Auswahl der Medikation. Laboruntersuchungen und apparative Untersuchungsmethoden tragen in der Praxis nicht zur direkten Migränediagnose bei, sondern sind nur dann erforderlich, wenn eine andere Erkrankung zweifelsfrei ausgeschlossen werden soll.
In erster Linie muss zwischen der Diagnose eines sekundären Kopfschmerzes und einer primären Kopfschmerzerkrankung unterschieden werden. Ein sekundärer Kopfschmerz, der Folge anderer Erkrankungen ist und häufig im Zusammenhang mit Tumoren, Traumata, Blutungen und Entzündungen beobachtet werden kann, muss auf jeden Fall dann in Betracht gezogen werden, wenn Alarmzeichen auftreten. Dazu zählen beispielsweise erstmaliges und plötzliches Auftreten, insbesondere bei kleinen Kindern oder bei Patienten im fortgeschrittenen Alter, kontinuierliche Zunahme der Beschwerden oder Fieber, Hypertonie oder Krampfanfälle als Begleitsymtome. Zu diesem Zweck können neben allgemeinen körperlichen Untersuchungen auch Laboruntersuchungen und apparative Untersuchungen durchgeführt werden. Ist eine sekundäre Ursache ausgeschlossen, kann im Anschluss mit Hilfe der Anamnese zwischen einer Migräne und anderen primären Kopfschmerzformen, wie Spannungskopfschmerz und Cluster-Kopfschmerz, unterschieden werden. Beispielsweise ist eine Verstärkung der Symptome durch körperliche Aktivität ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen einer Migräne und einem Clusterkopfschmerz.
Pathophysiologie
Migräneanfall
Der Pathomechanismus des Migräneanfalls ist nicht völlig aufgeklärt. Mit Hilfe von verschiedenen sich ergänzenden Hypothesen wird versucht, die Entstehung einer Migräne zu beschreiben. Die Neurotransmitter Serotonin (5-HT) und Glutamat, das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) und Stickstoffmonoxid (NO) nehmen in diesen Theorien eine wichtige Rolle ein.
Vaskuläre Hypothese
Die vaskuläre Hypothese beruht auf der klassischen Beobachtung, dass Blutgefäße des Kopfes während eines Migräneanfalls erweitert sind.[19] Die beobachtete Erweiterung der Blutgefäße wird als ein Bestandteil eines Reflexes angesehen (trigeminovaskulärer Reflex).[20] In den Wänden dieser Blutgefäße befinden sich Schmerz- und Dehnungsrezeptoren (freie Nervenendigungen) des Nervus trigeminus, die im Falle eines Migräneanfalles aktiviert werden. Eine Projektion der Reizung des Nervus trigeminus über Dehnungsrezeptoren oder Chemorezeptoren der Blutgefäße im unteren Abschnitt des Nucleus spinalis nervi trigemini und darüber hinaus in die Großhirnrinde wird für das Schmerzempfinden verantwortlich gemacht. Für die beobachteten Begleitsymptome der Migräne wird eine Projektion in den Hypothalamus (Photophobie, Phonophobie) und in die Chemorezeptoren-Triggerzone (Übelkeit, Erbrechen) diskutiert.
Der pulsierende Charakter des Migränekopfschmerzes lässt sich am besten mit der vaskulären Hypothese erklären. Gestützt wird sie auch durch die Beobachtung, dass sich je nach Prädisposition durch Blutgefäße erweiternde Substanzen (Vasodilatatoren), wie Glyceroltrinitrat, eine Migräne oder ein migräneartiger Kopfschmerz auslösen lässt.[21] Eine mechanische Kompression der Blutgefäße hingegen führt zu einer Reduktion der Migränesymptome.[19] Auch die Migränewirksamkeit aller spezifischen Migränetherapeutika, einschließlich der Mutterkornalkaloide, Triptane und CGRP-Rezeptorantagonisten, wird zumindest zum Teil mit einer Kontraktion der Blutgefäße des Kopfes erklärt. Mutterkornalkaloide und Triptane führen über eine Aktivierung von Serotonin-Rezeptoren des Typs 5-HT1B an der Oberfläche der Blutgefäße direkt zu einer Gefäßkontraktion. CGRP-Antagonisten hemmen über eine Kompetition an CGRP-Rezeptoren die blutgefäßerweiternden Eigenschaften des Calcitonin Gene-Related Peptides.
Da die Aurasymptome und die Begleitsymptome der Migräne durch die vaskuläre Hypothese nicht oder nur unzureichend erklärt werden können, wird die Migräne heute nicht mehr als eine ursächlich vaskuläre Erkrankung angesehen.
Übererregbarkeitshypothese
Die Beobachtung, dass Patienten, die regelmäßig an Migräne leiden, eine erhöhte Erregbarkeit der Hirnrinde des Hinterhauptslappens (occipitaler Cortex) zeigen, führte zur Postulierung einer weiteren Hypothese (Übererregbarkeitshypothese). Diese Übererregbarkeit ist an eine Freisetzung von Kaliumionen in den Extrazellularraum gekoppelt. Kaliumionen führen zu einer Depolarisation, die sich über einen Bereich der Hirnrinde ausbreitet (Streudepolarisierung oder Cortical spreading depression). Eine Ausbreitung dieser Depolarisation in das Sehzentrum wird mit der Entstehung einer visuellen Migräneaura in Verbindung gebracht. Der Migränekopfschmerz wird nach dieser Hypothese im einfachsten Fall mit einer Projektion in bestimmte Anteile des sogenannten sensorischen Trigeminuskerns erklärt.[22] Alternativ dazu können hohe Konzentrationen freigesetzter Kaliumionen sowie Glutamat und Stickstoffmonoxid direkt einen Migränekopfschmerz auslösen.
Die auffälligen Parallelen zwischen der Entstehung und Ausbreitung einer Migräne und der Pathophysiologie eines epileptischen Anfalls werden am besten durch die Übererregbarkeitshypothese beschrieben.
Hypothese der neurogenen Entzündung
Die Hypothese der neurogenen Entzündung beruht auf der während eines Migräneanfalls nachgewiesenen Freisetzung von entzündungsvermittelnden Botenstoffen (Entzündungsmediatoren) wie Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP), Substanz P und Neurokinin A aus Nervenendigungen des fünften Hirnnerves (Nervus trigeminus).[23] Insbesondere das CGRP, das während einer Migräneattacke vermehrt im Blutplasma nachgewiesen werden kann,[24] spielt eine zentrale Rolle und bewirkt eine sogenannte „sterile neurogene Entzündung“ mit einer Aktivierung von Mastzellen. Als Folge können eine Erweiterung der Blutgefäße (Vasodilatation), eine Rekrutierung von Leukozyten und eine Gefäßpermeabilitätserhöhung mit Ödembildung beobachtet werden.[25] Eine Aktivierung von Matrixmetalloproteasen kann zusätzlich die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke für Proteine und Peptide steigern.[26] Sowohl die Vasodilatation als auch die Permeabilitätserhöhung mit Ödembildung werden als Ursachen des Migränekopfschmerzes diskutiert.
Genetische Ursachen
Da einige Formen der Migräne familiär gehäuft auftreten, liegt die Vermutung nahe, dass bei der Migräne Gendefekte eine Rolle spielen können. Im Falle der familiären hemiplegischen Migräne wurden mindestens drei verschiedene Gendefekte als mögliche Ursachen identifiziert. Beim Typ I der familiären hemiplegischen Migräne (FHM1) finden sich Mutationen im CACNA1A Gen auf Chromosom 19. Dieses Gen codiert eine Untereinheit des spannungsabhängigen L-Typ-Calciumkanals. Mutationen im ATP1A2 Gen auf dem Chromosom 1, welches eine Untereinheit der Natrium-Kalium-ATPase, eine Ionenpumpe, codiert, sind die genetische Ursache für den Typ II (FHM2). Die Ursache für den Typ III der familiären hemiplegischen Migräne (FHM3) ist ein durch Mutationen im SCN1A-Gen auf dem Chromosom 2 verursachter Defekt eines spannungsabhängigen Natriumkanals.[18] Alle drei beschriebenen Gendefekte werden auch mit dem Auftreten einer Epilepsie assoziiert.[27]
Für ein gehäuftes Auftreten der Migräne mit Aura bei Patienten mit einem persistierenden Foramen Ovale werden ebenfalls genetische Defekte als Ursachen beider Krankheiten diskutiert. Gendefekte werden auch als Ursachen für eine Komorbidität von Migräne und Depression vermutet.[28]
Behandlung und Vorbeugung
Die Migräne ist eine Erkrankung, die derzeit durch medizinische Maßnahmen nicht heilbar ist. Die Intensität der Migräneanfälle und die Anfallshäufigkeit kann durch geeignete Maßnahmen reduziert werden.
Akuttherapie
Nach Empfehlung der Deutschen Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft (DMKG) können zur Akutbehandlung des Migränekopfschmerzes einerseits unspezifisch Schmerz- und Entzündungsprozesse hemmende Schmerzmittel aus der Gruppe der Nichtopioid-Analgetika (zum Beispiel Acetylsalicylsäure, Paracetamol und Ibuprofen) und andererseits spezifische Migränetherapeutika aus den Gruppen der Triptane (zum Beispiel Sumatriptan, Naratriptan und Eletriptan) als Mittel der ersten Wahl eingesetzt werden.
Nichtopioid-Analgetika
Die Nichtopioid-Analgetika Acetylsalicylsäure, Ibuprofen, Naproxen, Diclofenac und Paracetamol sind insbesondere bei einer leichten bis mittelschweren Migräne indiziert und gelten dafür als Mittel der ersten Wahl. Auch eine Kombination aus Acetylsalicylsäure, Paracetamol und Coffein, die wirksamer ist als die Einzelsubstanzen[29] oder Ibuprofen,[30] wird von der DMKG als Mittel der ersten Wahl empfohlen.[11] Die Migränewirksamkeit von Phenazon und Metamizol gilt hingegen als weniger gut dokumentiert. In klinischen Studien haben sich darüber hinaus die COX-2-Hemmer Valdecoxib und das auf Grund seiner Herz-Kreislauf-Nebenwirkungen vom Markt genommene Rofecoxib als effektiv zur Behandlung akuter Migräneattacken erwiesen.[31][32] Eine arzneimittelrechtliche Zulassung für die Verwendung als Migränetherapeutika besteht jedoch nicht. Generell besteht bei länger andauernder oder gar dauerhafter Anwendung von Nichtopioid-Analgetika die Gefahr eines medikamenteninduzierten Kopfschmerzes.
Um schnell zu wirken und die ohnehin bei Migräne oft bestehende Übelkeit nicht zusätzlich zu verstärken, werden viele Nichtopioid-Analgetika in einer schnell verfügbaren und als magenfreundlich geltenden Darreichungsform angeboten. Dazu zählen beispielsweise gepufferte Brausetabletten. Ist eine orale Anwendung eines Nichtopioid-Analgetikums nicht möglich, so steht beispielsweise Paracetamol als Zäpfchen (Suppositorium) zur rektalen Anwendung zur Verfügung. Metamizol, Acetylsalicylsäure sowie Paracetamol sind darüber hinaus auch als intravenöse Infusion erhältlich.
Triptane
Seit den 1990er Jahren stehen 5-HT1B/1D-Rezeptoragonisten aus der Gruppe der Triptane für die Therapie der Migräne zur Verfügung. Deren Vertreter unterscheiden sich voneinander in ihrer Pharmakokinetik, insbesondere in ihrer Bioverfügbarkeit, ihrer ZNS-Gängigkeit und ihrer Halbwertzeit. Darüber hinaus werden Triptane in unterschiedlichen Darreichungsformen, wie beispielsweise als Schmelztabletten, Suppositorien, Nasensprays und Injektionen zur subkutanen Anwendung, angeboten. Triptane sollten rechtzeitig während eines Migräneanfalls eingenommen (und gegebenenfalls nachdosiert) werden, da sich sonst ihre Wirksamkeit verringert. Bei Daueranwendung hingegen besteht die Gefahr der Entwicklung eines arzneimittelinduzierten Kopfschmerzes. Bei Nichtansprechen auf ein Triptan kann ein anderer Vertreter dieser Gruppe dennoch wirksam sein.[11]
Mutterkornalkaloide
Mutterkornalkaloide, wie Ergotamin, die mit der Einführung der Triptane ihre frühere Bedeutung verloren haben, können ebenfalls in der Akuttherapie der Migräne eingesetzt werden. Die Migränewirkung der Mutterkornalkaloide wird, wie im Falle der Triptane, über einen Agonismus am 5-HT1B/1D-Rezeptor erklärt. Ihre Migränewirksamkeit ist zwar seit über einem Jahrhundert dokumentiert, jedoch lässt sie sich auf Grund eines weitgehenden Mangels moderner prospektiver klinischer Studien schlecht einschätzen.[33] Im Vergleich zu Triptanen sind Mutterkornalkaloide weniger wirksam.[34] Darüber hinaus besitzen sie ein deutlich breiteres Nebenwirkungsspektrum, das insbesondere vaskuläre Ereignisse, wie Durchblutungsstörungen, aber auch Muskelkrämpfe und arzneimittelinduzierten Kopfschmerz umfassen. Daher gelten Mutterkornalkaloide als Mittel der zweiten Wahl, deren Anwendung bei länger andauernden Migräneattacken und bei bereits erfolgreicher Anwendung von Mutterkornalkaloiden in der Krankengeschichte angezeigt sein kann.[11]
Antiemetika
Eine Kombination von Analgetika oder spezifischen Migränetherapeutika mit einem Antiemetikum oder Prokinetikum wie Metoclopramid oder Domperidon kann sinnvoll sein, da durch diese nicht nur die gastrointestinalen Begleitsymptome der Migräne (Übelkeit, Erbrechen) beseitigt werden, sondern auch die Aufnahme des Analgetikums gefördert wird. Die Wirksamkeit von Metoclopramid ist in diesem Zusammenhang besser belegt als die von Domperidon.[11]
Sonstige Therapeutika
Erfolgreiche Therapieversuche und Hinweise auf eine Wirksamkeit in kleineren klinischen Studien wurden auch für andere Therapeutika dokumentiert. Eine Wirksamkeit bei akuten Migräneattacken konnte auch für das Antiepileptikum Valproinsäure gezeigt werden.[35][36] Eine arzneimittelrechtliche Zulassung von Valproinsäure zur Akutbehandlung der Migräne besteht jedoch nicht.
Berichte über eine erfolgreiche Akutbehandlung einer ansonsten therapieresistenten Migräne schließen Kortikoide, wie Dexamethason, ein. Wenngleich kein gesicherter Hinweis auf eine direkte Wirkung von Kortikoiden auf den Migräneschmerz besteht, sollen diese die Wirksamkeit von Triptanen erhöhen[37] und können zudem die Rekurrenzrate von Migräneattacken reduzieren.[38]
Die in der Schmerztherapie etablierten Opioide gelten bei der Behandlung der Migräne als nur beschränkt wirksam. Eine Kombination aus Tramadol und Paracetamol zeigte sich in einer klinischen Studie als wirksam zur Behandlung des Migränekopfschmerzes, der Phonophobie und der Photophobie.[39] Dennoch gilt, auf Grund des Übelkeit und Erbrechen einschließenden Nebenwirkungsspektrums, das die Symptomatik der Migräne noch verstärkt, und der verstärkten Gefahr eines medikamenteninduzierten Kopfschmerzes, die Anwendung als nicht empfehlenswert.[11]
Nichtmedikamentöse Methoden
Als nichtmedikamentöse Methoden gelten Reizabschirmung durch Ruhe in einem geräuscharmen, abgedunkelten Raum, Aromatherapie, Pfefferminzöleinreibungen auf die Stirn und Autogenes Training. Diese Verfahren sind jedoch nicht ausreichend evaluiert.
Prophylaxe
Das Ziel der Migräneprophylaxe ist, die Häufigkeit oder die Schwere von Migräneattacken bereits vor ihrer Entstehung zu senken. Diese ist insbesondere dann angezeigt, wenn der Patient einen starken Leidensdruck oder starke Einschränkungen der Lebensqualität durch die Migräne erfährt. Eine Nutzen-Risiko-Abwägung sollte durchgeführt werden. Ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis kann insbesondere dann vorliegen, wenn der Patient besonders häufig unter Migräne leidet (mehr als drei Attacken pro Monat), Migräneattacken regelmäßig länger andauern (drei Tage oder länger), die Migräne nicht zufriedenstellend mit Standardtherapeutika behandelt werden kann oder schwer zu behandelnde Sonderformen und Komplikationen der Migräne vorliegen.[11]
Zur Migräneprophylaxe stehen insbesondere Arzneistoffe zur Verfügung, die nicht gezielt als Migräneprophylaktika sondern für verschiedene andere Anwendungsgebiete, wie beispielsweise die Behandlung des Bluthochdrucks oder der Epilepsie, entwickelt wurden. Für diese Arzneistoffe konnte nachträglich eine migräneprophylaktische Wirkung belegt werden.
Betablocker
Leitlinienübergreifend gelten Betablocker als Mittel der ersten Wahl für die Migräneprophylaxe. Am besten ist die prophylaktische Wirkung für Metoprolol und Propranolol belegt. Diese Wirksamkeit wird direkt auf eine Hemmung von β-Adrenozeptoren des Zentralnervensystems zurückgeführt[40] und nicht, wie ursprünglich angenommen, auf eine von einigen Betablockern vermittelte zusätzliche Hemmung von Serotonin-Rezeptoren.[41] Somit kann eine Wirksamkeit auch für andere Betablocker angenommen werden. In kleineren oder älteren klinischen Studien haben sich beispielsweise auch Bisoprolol,[42] Atenolol[43] oder Timolol[44] als wirksame Migräneprophylaktika erwiesen. Betablocker sind insbesondere dann angezeigt, wenn der Patient zusätzlich unter Bluthochdruck, einem primären Anwendungsgebiet der Betablocker, leidet.
Calciumantagonisten
Eine migräneprophylaktische Wirkung des nicht selektiven Calciumantagonisten Flunarizin gilt ebenfalls als sehr gut belegt. Daher wird auch dieser Arzneistoff von internationalen Gremien als Mittel der ersten Wahl eingestuft.[45][46] Für andere Calciumkanalblocker, wie Verapamil oder Cyclandelat, liegen keine konsistenten Daten über eine migräneprophylaktische Wirksamkeit vor. Ein Klasseneffekt kann daher nicht angenommen werden.
Antiepileptika
Viele Antiepileptika sind nicht nur in der Lage die Häufigkeit epileptischer Anfälle zu reduzieren, sondern führen zusätzlich zu einem Rückgang der Frequenz von Migräneanfällen. Am besten von diesen Substanzen ist die migräneprophylaktische Wirkung für Valproinsäure und Topiramat dokumentiert. Unter Berücksichtigung des Nebenwirkungsspektrums gelten diese Substanzen ebenfalls als Mittel der ersten Wahl, wenn keine Betablocker eingesetzt werden können.[11] Die Anwendung von Valproinsäure in der Migräneprophylaxe entspricht in Deutschland, nicht aber in vielen anderen Staaten, einem Off-Label-Use, da kein valproinsäurehaltiges Präparat für diese Indikation zugelassen ist. Basierend auf Daten aus einer einzelnen klinischen Studie mit Gabapentin, in der eine leichte Reduktion der Migränehäufigkeit beobachtet wurde,[47] gilt dieser Arzneistoff als Mittel der dritten Wahl.[46] Für das Antiepileptikum Lamotrigin hingegen konnte keine migräneprophylaktische Wirkung, jedoch eine Reduktion des Auftretens einer Aura beobachtet werden.[48] Für andere Antiepileptika liegen keine ausreichenden Daten über ihre migräneprophylaktische Wirksamkeit vor oder sie haben sich, wie im Fall von Oxcarbazepin,[49] als unwirksam erwiesen.
Sonstige Therapeutika
Für das Antidepressivum Amitriptylin konnte in einer Vielzahl klinischer Studien eine migräneprophylaktische Wirkung gezeigt werden. Daher wird Amitriptylin in der Migräneprophylaxe als Mittel der ersten oder zweiten Wahl eingestuft.[11][45] Die für Amitriptylin beobachtete prophylaktische Migränewirksamkeit lässt sich jedoch nicht auf andere Antidepressiva übertragen.[46]
Eine migräneprophylaktische Wirkung konnte auch für das langwirksame Nichtopioid-Analgetikum Naproxen gezeigt werden.[50] Demgegenüber liegen für andere Nichtopioid-Analgetika keine konsistenten Daten über eine Migräne vorbeugende Wirkung vor. Hinzu kommt die bei Daueranwendung bestehende Gefahr der Entwicklung eines medikamenteninduzierten Kopfschmerzes. Nichtopioid-Analgetika gelten daher in der Migräneprophylaxe als Mittel der zweiten oder dritten Wahl.[45][46]
Als Mittel der dritten Wahl gelten die Antihypertensiva Lisinopril und Candesartan, die sich in Pilotstudien als wirksam erwiesen.[46] Gleichfalls kann möglicherweise eine prophylaktische Anwendung mit Botulinumtoxin die Häufigkeit von Migräneattacken reduzieren. Der Wert von Mutterkornalkaloiden, wie beispielsweise Dihydroergotamin, ist trotz einer arzneimittelrechtlichen Zulassung zur Migräneprophylaxe strittig. Als unwirksam hat sich der für diese Indikation entwickelte Neurokininrezeptor-Antagonist Lanepitant erwiesen.[51] Die über eine Hemmung von Serotoninrezeptoren wirkenden Arzneistoffe Methysergid und Pizotifen sind hingegen migräneprophylaktisch wirksam. Auf Grund ihrer schweren Nebenwirkungen haben sie jedoch keine therapeutische Relevanz mehr.
Die migräneprophylaktische Wirksamkeit des traditionell angewendeten Phytopharmakons Pestwurz konnte mit Hilfe klinischer Studien belegt werden und wird als Mittel der zweiten Wahl eingestuft.[52][53] Eine marginale Wirksamkeit konnte ebenfalls für einen CO2-Extrakt aus Mutterkraut belegt werden. Inwieweit diese Wirksamkeit auf andere Extrakte übertragen werden kann, ist fraglich.[54] Schlechter belegt ist eine mögliche Wirksamkeit von Coenzym Q10, hochdosiertem Magnesium (580 mg) und hochdosiertem Riboflavin (400 mg). Homöopathische Migräneprophylaxen zeigen keine über einen Placeboeffekt hinausgehende Wirkungen.[55][56]
Akupunktur
Die Wirksamkeit der Akupunktur zur Behandlung der Migräne wurde in zahlreichen Studien untersucht. Als Fazit wurde festgestellt, dass die Akupunktur bei der Migräneprophylaxe bei einer geringeren Anzahl an Nebenwirkungen mindestens so wirksam ist wie die konventionelle medikamentöse Prophylaxe. Interessanterweise spielt die korrekte Platzierung der Akupunkturnadeln keine Rolle. Ein Unterschied zwischen chinesischen und nichtchinesischen oder Scheinpunkten konnte nicht gefunden werden.[57] Aus diesen Gründen wird die Akupunktur heute von den meisten Experten als zusätzliche Therapiemöglichkeit empfohlen.
Sonstige nichtmedikamentöse Prophylaxe
Die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson und das Biofeedback können ebenso eine wirksame Möglichkeit der Migräneprophylaxe sein.[58][59] Daneben stehen verschiedene andere Methoden, wie zum Beispiel Ernährungsmaßnahmen, Entspannungstechniken, Yoga, autogenes Training und leichter Ausdauersport als Alternativen zur Verfügung. Ihre migräneprophylaktische Wirksamkeit ist jedoch nicht ausreichend evaluiert.
Therapie und Prophylaxe in der Schwangerschaft
Die Entscheidung für einen Einsatz von migränewirksamen Arzneimitteln in der Schwangerschaft ist eine Nutzen-Risiko-Abwägung bei der auch eine mögliche Schädigung durch mütterliche Migräneattacken auf das ungeborene Kind zu berücksichtigen sind. Paracetamol gilt in allen Phasen der Schwangerschaft als verträglich. Im zweiten Trimenon können zusätzlich andere Nichtopioid-Analgetika, wie beispielsweise Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Naproxen, eingesetzt werden. Triptane sind nicht für den Einsatz in der Schwangerschaft zugelassen, retrospektive Analysen lassen jedoch nicht auf eine schädigende Wirkung von Sumatriptan, Naratriptan und Rizatriptan schließen. Mutterkornalkaloide sind wegen ihrer teratogenen Wirkung kontraindiziert. Ist eine migräneprophylaktische Behandlung während der Schwangerschaft nötig, gilt, abgesehen von nichtmedikamentösen Verfahren wie Entspannungsübungen, Biofeedback und Akupunktur, nur der Beta-Blocker Metoprolol als vertretbar.[11]
Therapie und Prophylaxe im Kindesalter
Für die Behandlung akuter Migräneattacken bei Kindern gelten die Nichtopioid-Analgetika Ibuprofen und Paracetamol, gegebenenfalls ergänzt durch die Anwendung des Prokinetikums Domperidom, als Mittel der ersten Wahl. Die Wirksamkeit von Triptanen ist hingegen nicht gesichert. Neuere Studien mit Sumatriptan, Zolmitriptan und Rizatriptan deuten jedoch auf eine migränehemmende Wirkung bei Kindern.[60][61][62] Alle Triptane sind für Kinder erst ab einem Alter von 12 Jahren zu Migränetherapie zugelassen. Alternativ können bei Kindern Allgemeinmaßnahmen in Form von Reizabschirmung mit Entspannen im abgedunkelten Raum, Kühlen des Kopfes und Pfefferminzöleinreibungen auf die Stirn unternommen werden.
Für eine migräneprophylaktische Daueranwendung ist die Wirksamkeit für Flunarizin am besten belegt. Widersprüchliche Daten existieren für das bei Erwachsenen als Standardprophylaktikum eingesetzte Propranolol. Für alle anderen in der Migräneprophylaxe eingesetzten Arzneistoffe liegen keine ausreichenden Erkenntnisse über die Wirksamkeit bei Kindern vor.[63] Auch Entspannungsübungen, verhaltenstherapeutische Maßnahmen und Biofeedback zeigen eine mögliche Wirksamkeit, während diätische Maßnahmen in kontrollierten klinischen Studien ohne Erfolg waren.[64]
Therapie und Prophylaxe der Aura
Eine spezifische Behandlung der Migräneaura ist in der Regel nicht erforderlich. Zudem stehen keine ausreichend wirksamen Arzneistoffe zur Akuttherapie der Migräneaura zur Verfügung. Bei einem entsprechenden Leidensdruck kann eine Migräneprophylaxe erwogen werden. Eine spezifische Prophylaxe der migränösen Aura, jedoch nicht der Kopfschmerzen, ist für das Antiepileptikum Lamotrigin beschrieben worden.[48]
Geschichte der Migränetherapie
Erste Versuche der Behandlung migräneartiger Kopfschmerzen lassen sich bis in die Mittelsteinzeit (ca. 8500–7000 v. Chr.) zurückverfolgen. In dieser Zeit wurden Dämonen und böse Geister im Kopf der Patienten als Ursache der Migräne und anderer neurologischer Erkrankungen angesehen. Funde aus dem Neolithikum belegen, dass bereits zu dieser Zeit Trepanationen (chirurgische Eröffnungen der Schädeldecke) mit Hilfe von Steinwerkzeugen durchgeführt wurden. Wenngleich kontrovers diskutiert wird, ob diese Behandlungen vorrangig aus mystischen, kultischen oder medizinischen Gründen erfolgten, sollen sie angewendet worden sein, um Dämonen aus dem Schädel entweichen zu lassen. Auch wenn die Erfolgsquote der Trepanation undokumentiert blieb, konnten zumindest archäologische Funde belegen, dass über 50 % der Patienten diese Maßnahme überlebten. Dieses Verfahren wurde bis in das 17. Jahrhundert angewendet.[65]
Auch aus dem Alten Ägypten während der Pharaonenzeit sind Behandlungsmethoden dokumentiert. So nennt der auf ca. 1550 v. Chr. datierte Papyrus Ebers verschiedene Heilmethoden für Kopfschmerzen, einschließlich der Verwendung der Asche des Skeletts eines Welses als Einreibung.[66]
Der berühmte griechische Arzt Hippokrates erkannte ca. 400 v. Chr. erstmalig die Aura als einen möglichen Vorboten eines Kopfschmerzes. Er sah als Ursache „Dämpfe, die vom Magen in den Kopf aufsteigen“. Die erste umfassende Beschreibung der Symptome einer Migräne mit einem halbseitigen Kopfschmerz sowie Schwitzen, Übelkeit und Erbrechen wurde im zweiten Jahrhundert von Aretaios unter der Bezeichnung heterocrania dokumentiert. Er grenzte somit gleichzeitig die Migräne von anderen Kopfschmerzformen ab. Auf der Suche nach einer Ursache für Krankheiten wurden die Theorien von Hippokrates durch Galenos in der Viersäftelehre aufgegriffen. Für die Entstehung einer hemicrania machte er eine „übermäßige, aggressive gelbe Galle“ verantwortlich.[67] Der von ihm verwendete Begriff hemicrania gilt als Vorläufer der heutigen Bezeichnung „Migräne“.[66]
Eine zentralnervöse Ursache der Migräne unter Beteiligung einer Dilatation zerebraler Arterien wurde erstmals 1664 von Thomas Willis erwähnt. Zu dieser Zeit wurden Kaliumcyanid, Brechnuss, Tollkirsche, Fingerhut und Quecksilberverbindungen zur Therapie der Migräne eingesetzt.[66]
Die moderne Migränetherapie begründete 1884 William H. Thompson, der einen Extrakt aus dem Mutterkorn als migränewirksam erkannte. Arthur Stoll gelang 1920 daraus die Isolierung des Wirkstoffs Ergotamin, der bis heute in der Migränetherapie eingesetzt wird. Die Entdeckung des Wirkmechanismus des Ergotamins, der Stimulation der Serotoninrezeptoren 5-HT1B/1D, führte schließlich seit den 1980er Jahren zur Entwicklung moderner Migränetherapeutika, der Gruppe der Triptane.
Verweise
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