Israelitische Taubstummenanstalt

Israelitische Taubstummenanstalt

Die Israelitische Taubstummenanstalt (Abkürzung: ITA) ist eine von Markus Reich im Jahre 1873 initiierte Einrichtung zur Ausbildung gehörloser jüdischer Kinder. Zur damaligen Zeit wurde dies gleichgesetzt mit taubstumm. Träger der ITA wurde der im Jahre 1884 gegründete Verein Jedide Ilmim.

Inhaltsverzeichnis

Anfänge in Fürstenwalde

Ursprünglich am 15. Juli 1873 in Fürstenwalde in seiner eigenen Wohnung mit sieben Kindern gestartet, wurde die ITA dann auf ein gepachtetes Grundstück in der Neuendorfer Straße 5 in Fürstenwalde verlagert.

1884 wurde der Verein „Jedide Ilmim“ (Freunde der Taubstummen) gegründet, der die Trägerschaft der ITA übernehmen sollte. Bis 1886 erweiterte der Verein sein Aufgabengebiet auf die Förderung der Berufsausbildung und Gewährung von Beihilfen für die berufliche Existenzgründung. Er hatte bis dahin 930 Mitglieder in 93 Orten im gesamten Deutschen Reich.

Standortwechsel

Auf Initiative des Vereins wurde im Jahre 1888 in Berlin-Weißensee in der heutigen Parkstraße 22 ein Grundstück erworben und im Folgejahr ein Gebäude für 62 Schüler und die Lehrer errichtet. Mit dem Umzug der Familie Reich samt zehn Schülern aus Fürstenwalde nach Weißensee begann hier im Jahr 1890 der Unterricht. Die offizielle Einweihung fand allerdings erst am 31. Mai 1891 statt.

Nachdem der Verein am 23. Juli 1893 vom Kaiser die Korporationsrechte verliehen bekam, wurde er als juristische Person anerkannt und war nun anerkannter Eigentümer der ITA.

Durch Anbau eines Seitenflügels und umfangreiche Umbauten wurde die ITA im Jahre 1912 zur modernsten Einrichtung ihrer Art im Deutschen Reich.

Nach dem Ersten Weltkrieg

Die Mitgliederzahl der Vereins „Jedide Ilmim“ konnte, nach dem Ersten Weltkrieg, auf 5000 bis 7000 gehalten werden. Durch die Mitgliedsbeiträge und Spenden konnte die Ausbildung der gehörlosen Kinder, die nicht als „behindert“, sondern als „kulturelle Minderheit“ verstanden werden, gewährleistet werden.

1927 wurde noch die Hälfte des Nachbargrundstücks Parkstraße 23 erworben. Die Arbeit richtete sich auf die Vorbereitung für die Hochschulreife, insbesondere in naturwissenschaftlich-technischen Fächern. Der jetzige Leiter Felix Reich war der Sohn des Gründers Markus Reich. Er erreichte im gleichen Jahr die Einrichtung einer Aufbauklasse für besonders begabte Gehörlose an der Staatlichen Taubstummenanstalt in Berlin-Neukölln.

Ab 1928 konnten auch andere jüdische Organisationen zur Unterstützung der ITA gewonnen werden. Im Jahr 1931 wurde ein Kindergarten für Gehörlose eingerichtet.

Zeit des Nationalsozialismus

Im Jahr 1933 wurde Felix Reich als Jude aus dem Bundesvorstand deutscher Taubstummenlehrer ausgeschlossen. Staatliche Zuschüsse wurden gekürzt und die Gehörlosen wurden durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ bedroht.

„Aufgrund dieses Gesetzes wurden in Deutschland viele Gehörlose teilweise gegen deren Willen oder auch ohne ihr Wissen oft auch unter Beteiligung kirchlicher Einrichtungen zwangssterilisiert

.

Im Jahr 1938 musste sich die „Israelitische Taubstummenanstalt“ umbenennen in „Jüdische Gehörlosenschule“. Felix Reich wurde im Ergebnis des Pogroms von 1938 inhaftiert und kam in das KZ Sachsenhausen. Im Dezember 1938 wurde er wieder entlassen.

Am 23. Oktober 1939 wurde der Verein „Jedide Ilmim“ aufgelöst und in die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ eingegliedert. Im gleichen Jahr gelang es Felix Reich mit 10 Kindergartenkindern im Rahmen der Kindertransporte nach London zu gehen. Sein Vorhaben, auch die restlichen Kinder der ITA nach London zu holen scheiterte am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

Die Arbeit in der ITA wurde von den in Weißensee verbliebenen Lehrern und Betreuern weitergeführt. Anfang 1940 wurden noch 22 Kinder und 3 Hauswirtschaftsschülerinnen von 4 Lehrern betreut. Ab Ende 1941 trägt die ITA die Bezeichnung „Blinden- und Taubstummenheim“, nachdem die bisherige Jüdische Blindenanstalt aus Berlin-Steglitz nach Weißensee verlegt worden war.

Die Gehörlosenschule wurde in die Jüdische Volksschule in der Schönhauser Allee 162 ausgelagert. Mit der Auflösung aller jüdischen Schulen in Berlin im April 1942 endete die Existenz der Israelitischen Taubstummenanstalt.

Das Grundstück in der Weißenseer Parkstraße wurde bereits 1941 an das Bezirksamt Weißensee übergeben und im Jahre 1943 vom Stadtbezirk Weißensee aufgekauft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach Kriegsende wurde das Grundstück samt Gebäuden vom Bezirksamt Weißensee genutzt. Ab etwa 1955 befand sich die Kreisleitung der SED im Gebäude der früheren ITA.

1990 wurde das Gebäude der Stephanus-Stiftung zur weiteren Nutzung zugesprochen.

Die Jewish Claims Conference ist als der Entschädigungsvertreter für die ITA aufgetreten. Sie hat im Jahr 1997 das Haus in der Parkstrasse unbeachtet des Wunsches der „Interessengemeinschaft Gehörloser Jüdischer Abstammung in Deutschland“ an die Stephanus-Stiftung verkauft.

Somit werden auf dem Gelände keine gehörlosen Juden, sondern Behinderte in christlicher Tradition in der Stephanus-Schule unterrichtet.

2001 wurde eine Gedenktafel an der Stephanus-Schule enthüllt.

 
Tu deinen Mund auf für die Stummen. Sprüche 31,8
Von 1890 bis 1942 befand sich in diesem Haus die Israelitische Taubstummen-Anstalt Berlin-Weißensee.
Die hier lebenden jüdischen Kinder und Erwachsenen wurden 1942 in nationalsozialistische Vernichtungslager deportiert.

Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung.

Leiter der Israelitischen Taubstummenanstalt

  • 1873 - 1911: Markus Reich
  • 1911 - 1919: Julius Kolodzinsky
  • 1919 - 1939: Felix Reich

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать реферат

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Jedide Ilmim — Die Israelitische Taubstummenanstalt (Abkürzung: ITA) ist eine von Markus Reich im Jahre 1873 initiierte Einrichtung zur Ausbildung taubstummer jüdischer Kinder. Träger der ITA wurde der im Jahre 1884 gegründete Verein Jedide Ilmim.… …   Deutsch Wikipedia

  • Ita — steht für: Informationstechnischer Assistent / Informationstechnische Assistentin, Berufsbild Information Technology for Automotive Interessensverband der internationalen Automobilindustrie mit dem Schwerpunkt Informationstechnologie Information… …   Deutsch Wikipedia

  • Juedischer Friedhof Berlin-Weissensee — Holocaust Gedenkstätte und Arkadengang des Eingangsensembles Der Jüdische Friedhof Berlin Weißensee ist ein Friedhof der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Er wird seit 1880 für Begräbnisse genutzt. Der Friedhof gilt als der größte erhaltene jüdische… …   Deutsch Wikipedia

  • Jüdischer Friedhof Weißensee — Holocaust Gedenkstätte und Arkadengang des Eingangsensembles Der Jüdische Friedhof Berlin Weißensee ist ein Friedhof der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Er wird seit 1880 für Begräbnisse genutzt. Der Friedhof gilt als der größte erhaltene jüdische… …   Deutsch Wikipedia

  • Liste der Straßen und Plätze in Berlin-Weißensee — Karte von Berlin Weißensee Die Liste der Straßen und Plätze in Berlin Weißensee beschreibt das Straßensystem im Berliner Ortsteil Weißensee mit den entsprechenden historischen Bezügen. Gleichzeitig ist diese Zusammenstellung eine der Listen aller …   Deutsch Wikipedia

  • ITA — steht für: Informationstechnischer Assistent, Berufsbild Information Technology for Automotive Interessensverband der internationalen Automobilindustrie mit dem Schwerpunkt Informationstechnologie Information Technology Agreement Ingenieur… …   Deutsch Wikipedia

  • Markus Reich — (* 1844; † 1911 in Berlin) war ein jüdischer Pädagoge. Leben Markus Reich gründete 1873 die Israelitische Taubstummenanstalt für Deutschland. Der Verein wurde von den Freunden der Taubstummen ( Jedide Ilmin) getragen. Bis 1943 betreute die… …   Deutsch Wikipedia

  • München — München, 1) Landgericht rechts der Isar im baierischen Regierungsbezirk Oberbaiern mit 10,240 Einwohnern; 2) Landgericht links der Isar in demselben Regierungsbezirk mit 14,020 Ew; 3) Bezirksgericht rechts der Isar, umfaßt die Bestandtheile der… …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Sally Bein — (* 6. November 1881 in Hohensalza (Inowrocław, Polen); † nach dem 1. Juni 1942 wahrscheinlich im KZ Auschwitz) war ein deutscher Volksschul und Taubstummenlehrer jüdischer Abstammung. Inhaltsverzeichnis 1 Leben 2 Quellen 3 Einzelnachweise …   Deutsch Wikipedia

  • Breslau [2] — Breslau (hierzu der Stadtplan mit Registerblatt), Hauptstadt der preuß. Provinz Schlesien und des gleichnamigen Regierungsbezirks (s. unten), dritte königliche Residenz, Stadtkreis, liegt unter 51°7 nördl. Br. und 17°2 östl. L., 112 m über der… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”