Jacques Rivette

Jacques Rivette

Jacques Rivette (* 1. März 1928 in Rouen) ist Filmkritiker und als französischer Filmregisseur einer der führenden Köpfe der Nouvelle Vague.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Werk

Wie die meisten späteren Regisseure der Nouvelle Vague nähert sich Rivette dem Kino über die Cinephilie und die Filmkritik. In der Cinémathèque française begegnet er regelmäßig François Truffaut, Jean-Luc Godard und Éric Rohmer. 1950 gründet er mit Rohmer La Gazette du cinéma.

Vom Kritiker bei der Zeitschrift Cahiers du cinéma wurde er ab 1963 bis 1965 zu deren Chefredakteur. 1958 dreht er seinen ersten abendfüllenden Spielfilm Paris nous appartient.

Bei der Arbeit mit seinen Schauspielern verwendet Rivette eine Methode, die er während seiner gesamten Laufbahn beibehalten hat: Es gibt kein Drehbuch, sondern nur ein paar Seiten, die grob die Handlung umreißen. Der Text wird erst einen Tag vor dem Drehen, oder sogar erst am Drehtag selbst, verteilt.

Rivettes zweiter langer Film Suzanne Simonin, la Religieuse de Diderot (Rivette bevorzugt diesen Titel gegenüber der Kurzfassung La Religieuse), den er 1966 nach dem Roman von Denis Diderot drehte, wird zeitweise von der französischen Zensur verboten. Anna Karina spielte darin Suzanne, ein junges Mädchen, das man in ein Kloster gesteckt hat, und das sich weigert, Nonne zu werden. Mit L’Amour fou und Out 1: Noli me tangere radikalisierte Rivette seine Experimente mit der Improvisation und schafft einen Film mit einer einzigartigen Atmosphäre. Out 1: Noli me tangere dauert 773 Minuten (12 Stunden und 53 Minuten) und ist damit der bisher längste Spielfilm der Kinogeschichte.[1] Die Kurzfassung (mit dem Titel Out 1: Spectre) dauert 4 Stunden.

Mit Le Pont du Nord (1980) fand Rivette zu einem gewissen Realismus, ehe er mit L’Amour par terre (1984) und La Bande des quatre (1988) zu seinen bevorzugten Themen (der Komplott, das Geheimnis, das Theater) zurückkehrte.

1991 verkörperte Emmanuelle Béart an der Seite von Michel Piccoli und Jane Birkin La Belle Noiseuse. Der Film gewann den Großen Preis der Jury bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 1991. Sandrine Bonnaire spielte Jeanne d’Arc in dem zweiteiligen Werk Jeanne la Pucelle (1994), das aus Batailles und Prisons besteht.

2000 drehte Rivette Va savoir, eine Komödie, die von Carrosse d’or von Jean Renoir inspiriert ist. Über Renoir hatte Rivette 1966 den Dokumentarfilm Jean Renoir, le patron gedreht.

Ähnlich den Mitgliedern einer Theatergruppe spielen zahlreiche Schauspielerinnen und Schauspieler in mehreren Filmen Rivettes mit, insbesondere Bulle Ogier, mit der er über einen Zeitraum von fast 40 Jahren bei acht Filmen zusammenarbeitet hat und Juliet Berto, die unter anderem entscheidend an zwei seiner wichtigsten Filme ("Cèline et Julie vont en bateau" und "Out 1") beteiligt war. Auch Jane Birkin, Anna Karina, Michel Piccoli, Laurence Cote, Nathalie Richard, Geraldine Chaplin, Nicole Garcia, Sandrine Bonnaire, Eméanuelle Béart, Jeanne Balibar, Marianne Denicout und Jerzy Radziwiłowicz haben in mehreren Filmen mitgespielt.

2009 erhielt Rivette für seinen Spielfilm 36 vues du Pic Saint-Loup eine Einladung in den Wettbewerb der 66. Filmfestspiele von Venedig.

Obwohl Suzanne Simonin, la Religieuse de Diderot einen Skandal auslöste, ist Rivette kein Regisseur, der die Provokation sucht. Seine Filme gründen in der Idee, dass das Kino eine besondere Form der Erfahrung ist, eine Erforschung. Er erkundet die üblichen Normen, sprengt sie manchmal, wobei er immer eine gewisse Leichtigkeit bewahrt. Dabei kommt der Dauer der Filme eine besondere Bedeutung zu. Out 1 bleibt in dieser Hinsicht einzigartig, aber auch die meisten anderen Filme Rivettes dauern mehr als 2,5 Stunden.

Die Langsamkeit seiner Filme stößt manche vom Mainstreamkino konditionierten Zuschauer ab, aber sie gewährt eine Erfahrung besonderer Art. Der Zuschauer wird nicht überwältigt, sondern kann sich frei in den Filmen bewegen und so bei jedem Sehen des Films an dessen Schöpfung mitwirken. Dies gilt besonders für den sehr spielerischen Film Céline et Julie vont en bateau (1974), in dem Rivette das Phantastische mit dem Alltäglichen mischt. Diese improvisierte Phantasie zeugt zugleich von einer beeindruckenden Meisterschaft, wobei Rivette die Gespenster Jean Cocteaus und Lewis Carrolls herbei zitiert.

Ein wichtiges Element in Rivettes Filmen ist der geschlossene Raum. Oft spielt sich die Handlung zum größten Teil in einem alten Haus ab. Wie für den Zuschauer im Film Gewissheiten des Alltagslebens außer Kraft treten, so begeben sich die Filmfiguren in eine andere, magische Welt, wenn sie diese verwunschenen Häuser betreten. Eine ähnliche Funktion erfüllt die Theateraufführung im Film, wie sie bei Rivette verschiedentlich vorkommt (L’amour par terre, Va savoir).

Für Rivette ist der Bezug zur Arbeit anderer Regisseure von besonderer Wichtigkeit. Er schreibt über seine Arbeit:

„Ich habe das Bedürfnis, die Filme von Griffith ständig zu sehen, ich habe das Bedürfnis, die Filme von Eisenstein ständig zu sehen, die Filme von Murnau, aber ich habe auch das Bedürfnis, die zeitgenössischen Filme zu sehen. Weil man selbst nur Filme macht in Bezug auf andere Cineasten. Man macht keine Filme im Abstrakten. Man projiziert keine innere Vision, die man im Kopf hat, das gibt es nicht. So etwas ist falsch. Man macht Filme in Bezug auf das, was bereits gemacht wurde von den großen Cineasten der Vergangenheit, jenen, die das Kino begründeten, und in Bezug auf jene, die unsere Zeitgenossen, unsere Nachfolger sind...Um einen Film wirklich zu lieben, muss man bereits ein Cineast sein. Einen Film zu lieben, das ist bereits der Akt eines Cineasten.“

Bei seinen frühen Filmen schrieb Rivette regelmäßig am Drehbuch mit; seit Mitte der 1980er Jahre sind Christine Laurent und v. a. Pascal Bonitzer seine ständigen Drehbuchautoren.

Filmografie

  • 1949: Aux quatre coins
  • 1956: Le coup du berger
  • 1960: Paris gehört uns (Paris nous appartient)
  • 1966: Die Nonne (La Religieuse)
  • 1968: Amour fou (L’amour fou)
  • 1974: Céline und Julie fahren Boot (Céline et Julie vont en bateau)
  • 1976: Nordwestwind (Noroît)
  • 1976: Unsterbliches Duell (Duelle)
  • 1981: Merry-Go-Round
  • 1981: An der Nordbrücke (Le Pont du Nord)
  • 1984: Theater der Liebe (L’amour par terre)
  • 1985: Sturmhöhe (Hurlevent)
  • 1988: Die Viererbande (La Bande des Quatre)
  • 1991: Die schöne Querulantin (La Belle noiseuse)
  • 1994: Johanna, die Jungfrau (Jeanne la Pucelle)
  • 1995: Vorsicht, zerbrechlich (Haut bas fragile)
  • 1998: Geheimsache (Sécret défense)
  • 2001: Va savoir – Keiner weiß mehr (Va savoir)
  • 2003: Die Geschichte von Marie und Julien (Histoire de Marie et Julien)
  • 2007: Die Herzogin von Langeais (Ne touchez pas la hache)
  • 2009: 36 Ansichten des Pic Saint-Loup (36 vues du Pic Saint-Loup)

Literatur

  • Jacques Rivette: Schriften für’s Kino. CICIM Revue pour le cinema français. 24/25 Hg. Centre d’Information Cinématographique de Munich CICIM im Institut Français München & Münchner Filmzentrum. ISSN 0938-233X, 2. Aufl. 1990 (deutsch). Übers. Heiner Gassen & Fritz Göttler. Filmbesprechungen durch JR von 1950 bis 1969 über alle Top-Filme der Zeit, zusätzlich ein Kurzessay über Henri Langlois von 1975 (aus Le Monde v. 31.1.), Register aller erwähnten bzw. besprochenen Filmtitel und Namen.
  • Hélène Frappat: Jacques Rivette, secret compris, Paris: Cahiers du Cinéma, 2001
  • Das Kino des Jacques Rivette, Eine Retrospektive der VIENNALE und des Österreichischen Filmmuseums, Wien 2002 (Vertrieb über Schüren Verlag)
  • Douglas Morrey und Alison Smith: Jacques Rivette (French Film Directors), Manchester University Press, 2010
  • Emilie Bickerton: Eine kurze Geschichte der Cahiers du cinéma, diaphanes 2010, ISBN 978-3-03734-126-1 (A short history of Cahiers du cinema, London [u.a]: Verso, c2009, ISBN 978-1-84467-232-5)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Kino mit Gähn-Effekt auf einestages (abgerufen am 31. Mai 2011).

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