Kernreaktion

Kernreaktion

Eine Kernreaktion ist ein physikalischer Prozess, bei dem durch den Zusammenstoß eines Atomkerns mit einem anderen Kern oder Teilchen mindestens ein Kern in ein anderes Nuklid und/oder in freie Nukleonen umgewandelt wird, ohne dass die Anzahl der Protonen oder der Neutronen sich ändert.

Die erste Beobachtung einer Kernreaktion erfolgte 1919 durch Ernest Rutherford durch neuartige Spuren in der Wilsonschen Nebelkammer. Er hatte Stickstoff mit α-Teilchen beschossen und die Spur eines Protons gefunden [1] (Reaktion 14N + α → 17O + p).

Die Auslösung durch ein auftreffendes Teilchen ist der grundsätzliche Unterschied zu den verschiedenen Arten des radioaktiven Zerfalls. Bei einem radioaktiven Zerfall erfolgt die Kernumwandlung spontan, also „von selbst“.

Aus der Gültigkeit des Impulserhaltungssatzes und des Energieerhaltungssatzes für jeden Stoßvorgang ergeben sich bei Kernreaktionen bestimmte Eigenschaften und Beschränkungen der Teilchenbewegungen (siehe Kinematik).

Kernreaktion

In dem rechts als Beispiel gezeigten symbolischen Bild reagieren ein 6Li-Kern und ein Deuterium-Kern (ein Deuteron) und bilden den Zwischenkern 8Be, der unmittelbar darauf in zwei Alphateilchen zerfällt.

Inhaltsverzeichnis

Formelschreibweise

Eine Kernreaktion kann durch eine Gleichung ähnlich einer chemischen Gleichung dargestellt und überprüft werden. Kernzerfälle können ähnlich dargestellt werden, allerdings ist dann nur ein Kern auf der linken Seite.

Jedes Teilchen, das an der Reaktion teilnimmt, wird mit seinem chemischen Symbol geschrieben, mit der Massenzahl links oben und der Ordnungszahl links unten. Das Neutron wird als „n“ geschrieben, das Proton kann als „1H“ oder „p“ geschrieben werden.

Damit die Gleichung richtig ist, müssen die Summen der Massenzahlen auf beiden Seiten übereinstimmen (wie es der Erhaltungssatz für die Baryonenzahl erfordert), und ebenso die Summen der Ordnungszahlen (wie es der Erhaltungssatz für die elektrische Ladung erfordert). Im hier gezeigten Beispiel (nehmen wir an, wir wüssten rechts nur das eine Teilchen):

{}^{6}_{3}\mathrm{Li}+{}^{2}_{1}\mathrm{H}\rightarrow{}^{4}_{2}\mathrm{He}\ +\ ?.

Damit die Summen stimmen, muss der zweite Kern rechts die Ordnungszahl 2 und die Massenzahl 4 haben, ist also auch ein Helium-4 Kern. Die vollständige Gleichung heißt daher:

{}^{6}_{3}\mathrm{Li}+{}^{2}_{1}\mathrm{H}\rightarrow{}^{4}_{2}\mathrm{He}+{}^{4}_{2}\mathrm{He},

oder vereinfacht:

{}^{6}_{3}\mathrm{Li}+{}^{2}_{1}\mathrm{H}\rightarrow2\ {}^{4}_{2}\mathrm{He}.

Vereinfachte Darstellung

Viele Teilchen kommen in so vielen Reaktionen vor, dass man sie üblicherweise abkürzt. So wird beispielsweise der 4He-Kern (das Alphateilchen) mit dem griechischen Buchstaben „α“ bezeichnet. Deuteronen (schwerer Wasserstoff, 21H) werden mit „d“ bezeichnet. Im übrigen können die Ordnungszahlen nach Überprüfung der Richtigkeit der Gleichung weggelassen werden, denn sie sind durch die chemischen Symbole eindeutig festgelegt. Außerdem trifft bei vielen üblichen Reaktionen ein leichtes Teilchen (das „Projektil“, aus einer kleinen Gruppe üblicher Teilchen) auf einen verhältnismäßig schweren Kern, ein übliches leichtes Teilchen (das „Ejektil“) wird emittiert, und ein anderer Kern bleibt zurück. In diesen Fällen kann die Reaktion vereinfacht folgendermaßen geschrieben werden:

Ausgangskern (Projektil, Ejektil) Endkern

Projektil bzw. Ejektil können sein: Protonen, Deuteronen, Heliumkerne, Tritonen, Neutronen, Gammaquanten, usw. Der Ausgangskern wird oft als „Targetkern“ bezeichnet (vom englischen: Target = Zielscheibe).

So können wir die vorhergehende Gleichung vereinfachen, indem wir zunächst Symbole einführen:

{}^{6}_{3}\mathrm{Li}+d\rightarrow\alpha+\alpha,

dann Ordnungszahlen weglassen:

{}^{6}\mathrm{Li}+d\rightarrow\alpha+\alpha,

und so kommen wir schließlich zur komprimierten Form:

  •         6Li(d,α)α.

Weitere Beispiele:

107Ag(n,γ)108Ag
  • 14N wird durch ein Neutron der Höhenstrahlung in 14C verwandelt (durch diesen Prozess wird laufend 14C erzeugt: die Basis der Radiokohlenstoffdatierung):
14N(n,p)14C
  • Ein Lithium-6-Kern absorbiert ein Neutron und geht dadurch über in ein Triton und einen Helium-4-Kern:
6Li(n,t)4He

Die in diesen Beispielen angeführten Reaktionstypen (gleichgültig an welchem Targetnuklid) bezeichnet man kurz als (d,α)-,(n,γ)-,(n,p)- bzw. (n,t)-Reaktionen.

Ein Sonderfall ist die Kernspaltung. Eine bestimmte Spaltungsreaktion (z.B. die erste bekannte, von Otto Hahn und Mitarbeitern entdeckte) lässt sich als 235U(n, 95Kr)140Ba schreiben. Wenn jedoch - wie in der Praxis häufig - nicht interessiert, welches der vielen möglichen Paare von Spaltprodukten entsteht, wird einfach 235U(n,f) geschrieben (f für engl. fission, Spaltung).

Ein anderer Sonderfall ist die Spallation, bei der, ausgelöst durch ein hochenergetisches Teilchen, ein Kern in viele Bruchstücke zerschmettert wird; hier ist die Schreibweise im genannten Formelstil offensichtlich wenig sinnvoll.

Q-Wert und Energiebilanz

Da die Bindungsenergie pro Nukleon in verschiedenen Kernen verschieden ist, verlaufen manche Kernreaktionen exotherm, d. h. sie setzen Energie zusätzlich zur vorhandenen kinetischen Energie frei. Andere verlaufen endotherm, also unter Aufnahme von Energie; diese muss dann als kinetische Energie durch einen oder beide Reaktionspartner "mitgebracht" werden (Schwellenenergie), damit die Reaktion möglich ist (also ihr Wirkungsquerschnitt von Null verschieden ist).

Die überschüssige Energie exothermer Reaktionen kann als kinetische Energie der Reaktionsprodukte und/oder als Gammastrahlung freigesetzt werden.

Die den Kernreaktionen zugrunde liegende Starke Wechselwirkung hat nur eine kurze Reichweite. Daher ist bei gleichnamig geladenen Reaktionspartnern auch für eine exotherme Reaktion eine Aktivierungsenergie erforderlich, um die elektrische Abstoßung zu überwinden. Wegen des Tunneleffektes ist diese Aktivierungsenergie aber nicht scharf definiert. Wenn ein Stoßpartner ungeladen (Neutron oder Photon) ist, spielt die elektrische Abstoßung keine Rolle.

Bei der Schreibweise entsprechend einer chemischen Gleichung kann zusätzlich der Energiegewinn oder -verlust Q angegeben werden:

Anfangskern + Projektil → Endkern + Ejektil + Q.

Das letzte der oben genannten Beispiele, der Brutprozess im Blanket eines Fusionsreaktors, lautet so geschrieben:

 \ {}^{6}_{3} \mathrm {Li} \ + \mathrm {n} \ \to \ {}^{4}_{2} \mathrm {He} \ + \ {}^{3}_{1} \mathrm {H} \ + \ 4{,}8 \; \mathrm {MeV} \ \

Dieser Energiebetrag (in der Kernphysik üblicherweise nur „Q-Wert“ genannt) ist bei exothermer Reaktion positiv, bei endothermer negativ. Er ist einerseits die Differenz zwischen den Summen der kinetischen Energien auf der Endseite und der Anfangsseite. Er ergibt sich aber ebenso auch aus der Differenz der Gesamt-Ruhemassen auf der Anfangsseite und der Endseite, umgerechnet unter Verwendung von Einsteins Gleichung E = m c2. Die Atomare Masseneinheit u entspricht dem Energiebetrag

1 u c2 = (1.66054 × 10-27 kg) × (2.99792 × 108 m/s)2 
= 1.49242 × 10-10 kg (m/s)2 = 1.49242 × 10-10 J (Joule)
× (1 MeV / 1.60218 × 10-13 J)
= 931.49 MeV.

Der Q-Wert im oben angegebenen Beispiel ist

M(6Li) + M(n) - M(4He) - M(3H) 
= (6.015122 + 1.008665 - 4.002603 - 3.016029) u = 0.005155 u

und umgerechnet in MeV:

Q = 0.005155 u × (931.49 MeV/u) = 4.802 MeV, wie oben angegeben.

Statistische Schwankungen

Trifft ein gegebener, konstanter Strom von Projektilteilchen auf ein gegebenes Ziel, lässt sich aus dem Wirkungsquerschnitt der interessierenden Reaktion die Reaktionsrate (Anzahl der Reaktionen pro Zeiteinheit) berechnen. Diese ist jedoch nur ein statistischer Mittelwert. Die tatsächlich in einer bestimmten Zeitdauer beobachtete Anzahl von Reaktionen schwankt zufallsweise um den Mittelwert; die Häufigkeit, mit der die einzelnen möglichen Anzahlen auftreten, folgt der Poisson-Verteilung.

Arten

Einige spezielle Arten von Kernreaktionen:

Einordnung

Mit der Erforschung von Kernreaktionen befassen sich vor allem die Kernphysik und die Teilchenphysik. Eine wichtige Rolle spielen sie bei der Entstehung der Nuklide, s. Astrophysik, Kosmochemie. Anwendungen gibt es z.B. in der Energietechnik, siehe Kernreaktor, Fusionsreaktor, und der Medizintechnik (Herstellung von Radionukliden für Nuklearmedizin und Strahlentherapie).

Weblinks

Einzelnachweise

  1. E. Rutherford: Collision of α particles with light atoms. IV. An anomalous effect in nitrogen. In: Philosophical Magazine. 37, 1919, S. 581-587.

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