- Mitteltönig
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Unter mitteltönigen Temperaturen versteht man eine Reihe von Temperaturen, die in der Renaissance, im Barock, und vielfach auch in späterer Zeit (bis in das 19. Jahrhundert) hauptsächlich für Tasteninstrumente gebräuchlich waren. Ist nichts Weiteres angegeben, ist die 1/4-Komma-mitteltönige Temperatur gemeint, auch terzenrein mitteltönige Temperatur genannt.
Inhaltsverzeichnis
Aufbau
Bei der mitteltönigen Temperatur werden elf Quinten des Quintenzirkels je um so viel vermindert, dass die sich aus vier dieser Quinten ergebenden großen Terzen rein oder annähernd rein werden. Bei der gebräuchlichsten und am häufigsten beschriebenen Variante ist die große Terz rein. Die vier Quinten werden daher um je 1/4 des syntonischen Kommas verkleinert. Mit anderen Worten: Verkleinert man die 11 Quinten um 1/4 des syntonischen Kommas, so werden die benutzbaren Terzen exakt rein. Die so entstandene Stimmung wird 1/4-(syntonisches)-Komma-mitteltönige Stimmung genannt.
Die zwölfte „Quinte“ des Quintenzirkels ist damit festgelegt. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Quinte, sondern um eine verminderte Sexte (in der Regel Gis-Es) die stark von der reinen Quinte abweicht, und in der Regel als musikalisch unbrauchbar gilt. Sie wird häufig Wolfsquinte genannt. Vier vermeintlich große Terzen, deren Quintenkette die Wolfsquinte enthält, sind verminderte Quarten (Cis-F, Gis-C), die ebenfalls in der Regel nicht als große Terzen gebraucht werden können. Es bleiben daher acht reine oder annähernd reine große Terzen.
Andere bekannte, jedoch geschichtlich in der Stimmpraxis nur selten bis kaum nachzuweisende, mitteltönige Temperaturen sind die 1/6-, 1/5-, 2/7-, und 1/3-Komma-mitteltönige Temperatur, bei denen die 11 Quinten um den entsprechenden Bruchteil des syntonischen Kommas verkleinert werden. Das vermindert den Missklang der Wolfsquinte allerdings nur unwesentlich, gleichzeitig wird jedoch die Reinheit der „guten“ großen Terzen vermindert.
Spricht man gemeinhin von mitteltöniger Stimmung, so ist meistens die 1/4-Komma-mitteltönige Stimmung gemeint. Nur bei ihr sind die großen Terzen exakt rein. Die 1/4-Komma-mitteltönige Stimmung lässt sich relativ leicht realisieren, wenn man lernt, die vier temperierten Quinten genau zu stimmen. Die anderen Töne ergeben sich dann über das Einstimmen reiner großer Terzen.
Geschichte
Während die große (pythagoreische) Terz im Mittelalter meist als Dissonanz wahrgenommen wurde, bildete sie (als reines Intervall) ab der Renaissance eine wichtige Konsonanz. Auch wenn man vereinzelte Quellen des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts bereits als praktische Beschreibung der mitteltönigen Temperatur ansehen kann, wurde sie erstmals 1571 durch Gioseffino Zarlino korrekt und eindeutig beschrieben. Im deutschen Sprachraum war es Michael Praetorius, der sie 1619 in seiner „Organographia“ (Syntagma Musicum, Bd. 2) als gängige Praxis beschrieb und drei Arten angab, wie man sie praktisch legen konnte (neben einer nicht bedeutsamen Modifikation, die jedoch keine Tonart zusätzlich ermöglicht). Aufgrund Praetorius' Beschreibung wurde die mitteltönige Temperatur bis ins 18. Jahrhundert gern als „Praetorianisch“ bezeichnet. Im Orgelbau wurde sie in Deutschland bis weit in das 18. Jahrhundert als Standardtemperatur verwendet – in einzelnen Regionen noch darüber hinaus –, weshalb in Orgelbauverträgen und Prüfungsberichten (Abnahmeberichten) die Temperatur nicht bezeichnet werden brauchte. In Norddeutschland ist die mitteltönige Temperatur zum Beispiel für sämtliche Orgeln Hamburgs 1729 in gedruckten Quellen belegt, und auch die von Arp Schnitger neu erbaute Orgel des Bremer Doms stand noch bis zur Umstimmung 1775-6 in der mitteltönigen Temperatur. Neuere Forschungen haben auch wieder plausibel gemacht, dass die Orgeln, die Dieterich Buxtehude in Lübeck zur Verfügung standen, in dieser Standardtemperierung standen. Es gibt im übrigen keinerlei Äußerungen Buxtehudes zu Temperaturfragen – B.s Widmungsgedicht für Andreas Werckmeisters Harmonologia Musica, 1702, einer Kontrapunkt- und Improvisationslehre, nimmt auch nicht auf Temperaturfragen Bezug und kann nicht als Unterstützung Werckmeisterscher Temperaturentwürfe gedeutet werden.
Die Wolfsquinte und die vier verminderten Quarten wurden im 17. und 18. Jahrhundert als völlig unbrauchbar angesehen. Moderne Vermutungen, dass diese kompositorisch eingesetzt wurden (also etwa H-Es-Fis als vermeintliches H-Dur, F-Gis-C als vermeintliches f-moll, etc.), werden jedoch durch Äußerungen der Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts regelmäßig widerlegt. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Wolfs-Intervalle von professionellen Musikern zum Scherz, als Schock-Intervalle oder zur Vermittlung drastischer Affekte von Komponisten verwendet wurden. Die kontrapunktisch korrekte Auflösung von Vorhalten, Dissonanzen, etc. ist davon nicht berührt, wenn zum Beispiel in d(-moll) über der 5. Stufe A ein übermäßiger Akkord A-Cis-F (A 6 3#) entsteht, der in einer Kadenz so aufgelöst würde: 6 3# - 6 4 – 5 4 – 5 3#. Cis-F ist hier richtig eine verminderte Quarte, die zwischen der großen Terz (Cis) und der kleinen Sexte (F) über dem Grundklang (A) entsteht. Sie wird korrekt in die kleine Terz (D-F) überführt, die mit dem Grundklang (A) einen Quartsextakkord bildet (der natürlich weiter aufzulösen ist).
Um den Tonartenvorrat der gewöhnlichen mitteltönigen Temperatur zu erweitern, wurden daher an Stätten professioneller Musikpflege in Westeuropa zwischen ca. 1450 und 1700 nicht selten Tasteninstrumente mit zusätzlichen Obertasten (Subsemitonien, engl. split keys, Esperanto: subduontonoj)) ausgestattet. Solche Instrumente sind verwandt mit den sog. enharmonischen Instrumenten. Bekannt sind Instrumente mit bis zu vier Subsemitonien. Die Entwicklung begann offenbar in Italien und gewann schnell eine gewisse Verbreitung. Nördlich der Alpen war es erst Gottfried Fritzsche, der in Deutschland 1612 die erste Orgel mit Subsemitonien baute (in der kurfürstlichen Schlosskapelle, Dresden).
Auf besaiteten Tasteninstrumenten setzten sich seit Ende des 17. Jahrhunderts langsam aber zunehmend wohltemperierte Stimmungen durch, auch praktische Annäherungen an die gleichstufige Temperatur, d. h. solche Temperaturen, die den Gebrauch aller Tonarten zuließen. Die wohltemperierten Stimmungen waren nicht die heute auf elektronischen Instrumenten und meist auf Klavieren zu hörende gleichstufige Stimmung, sondern solche, bei denen die einzelnen Tonarten mal mehr, mal weniger „gespannt“ klangen (Tonartencharakteristik, die auch im 18. Jahrhundert als subjektives Moment verstanden wurde). Es steht zu vermuten, ist aber nicht zu beweisen, dass Bach bei der Transposition älterer Werke (!) und teilweisen Neukomposition von Praeludien und Fugen der beiden Bände des „Wohltemperirten Claviers“ an die damals noch ganz neuen ungleichstufigen wohltemperierten Stimmungen gedacht hat, auch wenn die gleichstufige Temperatur, praktisch gelegt in seiner späteren Lebensphase nicht auszuschließen ist. Hier ist aber auch zu beachten, dass Friedrich Suppig 1722 in einem Manuskript beschrieb, dass alle Claviere in Dresden mitteltönig gestimmt seien – im gleichen Jahr als Bach den ersten Band des Wohltemperirten Claviers zusammenstellte und mit dem datierten Titelblatt versah.
Die Geschichte der mitteltönigen Temperatur ist zwar in ihren theoretischen Verästelungen recht gut bekannt. Jedoch ist die praktische Anwendung, Verbreitung und der offenbar vielfach erst viel später als bisher angenommene Übergang zu neueren Temperaturen (oft direkt zu Annäherungen an die gleichstufige Temperatur) in vielen Regionen erst in Ansätzen erforscht, da man allzu oft annahm, dass sich theoretische Temperaturentwürfe alsbald durchsetzten. Wie jedoch Werckmeister und andere beklagten, die neue Temperaturen entwarfen, folgten die Orgelbauer ihren Entwürfen nicht und blieben noch lange bei der mitteltönigen Stimmpraxis. Die mitteltönige Temperatur stellte die günstigste Annäherung an das Netz reiner Quinten und reiner Terzen der reinen Stimmung dar. Für die Begleitung von vokaler, instrumentaler und gemischt vokal-instrumentaler Musik bot sie lange Zeit die beste Voraussetzung. Außerdem waren im Gottesdienst Choräle und deren Vorspiele in Kirchentonarten mit Leichtigkeit mitteltönig zu begleiten. Es gab aus der kirchenmusikalischen Praxis lange Zeit heraus keinen Bedarf für eine Welle von Umstimmungen. Gewisse Probleme in der Begleitung von Ensembles ergaben sich jedoch durch die Existenz verschiedener Stimmtonhöhenstandards: In Deutschland etwa standen Orgeln um 1700 gemeinhin im (gemeinen) Chorton (a' = ca. 465 Hz), oder gelegentlich im Hohen Chorton (a' = ca. 495 Hz), während die meisten Instrumente und Sänger im Kammerton (a' = ca. 415 Hz) musizierten. Der Organist war hier gefordert zu transponieren, wobei sich leicht ergab, dass die Grenzen der Mitteltönigkeit erreicht oder auch überschritten wurden. Solange dies nicht ständig geschah, konnte der Begleiter „Wolfs“-Töne auslassen, vielleicht umspielen oder mit einer Verzierung versehen (wodurch jedoch der Ton noch vorgehoben werden kann), auch durch geeignete Registerwahl den hässlichen Ton verdecken. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war die musikalische Entwicklung der Ensemblemusik soweit fortgeschritten, dass die mitteltönige Temperatur vielen nicht mehr als geeignet erschien. Hier setzte nun die Entwicklung neuer Temperaturen ein: Sie entsprang nicht aus Forderungen, in solistischen Werken für Tasteninstrumente „entfernte“ Tonarten zu verwenden.
Aus dieser Erkenntnis heraus lassen sich Konsequenzen für die Sicht auf vermeintliches Orgelrepertoire nicht vermeiden, das in mitteltönig nicht-spielbaren Tonarten stand (d. h. Verwendung von Akkorden machte, die in der mitteltönigen Temperatur nicht verfügbar waren). So waren z. B. weder die Tonumfänge noch die Temperaturen der meisten Orgeln zu Bachs Zeit geeignet für seine „Clavir-Uebung“, 3. Teil, die damit an einem angenommenen Markt für Aufführungsmaterial „vorbeigeschrieben“ wurde. Es muss andere Erklärungen geben, die die Entstehung und den Zweck solcher Musik erklären, z. B. Spiel auf besaiteten Pedal-Instrumenten (Pedal-Cembalo, Pedal-Clavichord), pädagogische Grundlagen für komplex kontrapunktische Improvisation etc. Diese Problematik zeigt, dass die Frage der Temperatur, nicht nur der mitteltönigen, zentrale Bedeutung für die Aufführungspraxis hat.
Aufbau
Grundton: C, Beginn des Quintenzirkel bei Es
Das syntonische Komma beträgt . Dann ergibt sich die mitteltönige Quinte zu: .
Ton-Bezeichnung Frequenzverh. zum Grundton Frequenzmultiplikator Cent Es 1,19627902498 310,26 B 1,788854382 1006,84 F 1,33748060995 503,42 C 1 0 G 1,49534878122 696,58 D 1,11803398875 193,16 A 1,67185076244 889,74 E 1,25 386,31 H 1,86918597653 1082,89 Fis 1,39754248594 579,47 Cis 1,04490672653 76,05 Gis 1,5625 772,63 Somit erhalten wir folgende Intervalle:
- Acht reine große Terzen: Es-G, B-D, F-A, C-E, G-H, D-Fis, A-Cis, E-Gis
- Elf mitteltönige Quinten: Es-B, B-F, F-C, C-G, G-D, D-A, A-E, E-H, H-Fis, Fis-Cis, Cis-Gis
- Eine zu große Wolfsquinte: Gis-Es mit dem Frequenzverhältnis
- Vier zu große Terzen (verminderte Quarten): H-Es, Fis-B, Cis-F, Gis-C
Bei der mitteltönigen Temperatur stehen nicht alle erhöhten bzw. erniedrigten Töne zur Verfügung. Im obigen Beispiel nur Es, B, Fis, Cis und Gis, nicht aber deren enharmonische Wechseltöne Dis, Ais, Ges, Des und As. Dasselbe gilt auch für die enharmonischen Wechseltöne der übrigen Töne; zum Beispiel stehen auch Fes und Eis nicht zur Verfügung.
In dieser Einschränkung kommt zum Ausdruck, dass drei übereinandergelegte reine große Terzen nicht exakt eine Oktave geben. Der höchste Ton einer solchen Terzenkette ist um eine kleine Diësis (ca. 1/5 gleichstufiger Ganzton) tiefer als die reine Oktave des Ausgangstones. Auch bei den Varianten der mitteltönigen Temperatur, bei der die benutzbaren großen Terzen nur annähernd rein sind, bleibt ein großer Unterschied zwischen den enharmonischen Wechseltönen bestehen.
Man kann daher nur in Tonarten annehmbar spielen, in denen die fehlenden Töne nicht benötigt werden.
Literatur
- Manuel Op de Coul, Brian McLaren, Franck Jedrzejewski, and Dominique Devie: Temperament & Tuning Bibliography. (Umfassende, allgemeine Literaturübersicht).
- Mark Lindley: Stimmung und Temperatur. In: Geschichte der Musiktheorie, Band 6. Darmstadt, 1987, S. 109–331.
- Ibo Ortgies: Die Praxis der Orgelstimmung in Norddeutschland im 17. und 18. Jahrhundert und ihr Verhältnis zur zeitgenössischen Musikpraxis. Dissertation, Göteborg: Göteborgs universitet, 2004. 315 S. (rev. Fassung, 2007. 317 S.). Download (in Form einer großen oder mehrerer, kleiner PDF-Dateien), Webversion, Inhaltsverzeichnis, English Summary, Abstract.
Siehe auch
- Cent
- ZynAddSubFX ist ein mikrotonaler Open-Source-Software-Synthesizer, mit dessen Hilfe die mitteltönige Stimmung realisiert und ausprobiert werden kann.
Weblinks
Stimmungen des abendländischen zwölfstufigen Tonsystems Aulos-Modi | Pythagoreische Stimmung | Reine Stimmung | Mitteltönige Stimmung | Wohltemperierte Stimmung | Werckmeister-Stimmung | Silbermann-Sorge-Temperatur | Kirnberger-Stimmung | Gleichstufige Stimmung | Vallotti-Stimmung
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