Rudolf-Heß-Gedenkmarsch

Rudolf-Heß-Gedenkmarsch
NPD-Vorsitzender Udo Voigt als Redner vor dem Konterfei des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß beim Rudolf-Heß-Gedenkmarsch 2004 in Wunsiedel

Der Rudolf-Heß-Gedenkmarsch war eine Propagandaveranstaltung der deutschen Neonazi-Szene mit internationaler Beteiligung, die seit 1988 jeweils um den 17. August durchgeführt wurde. An den Demonstrationen, die zumeist an seinem ehemaligen Begräbnisort Wunsiedel stattfanden, nahmen z.T. mehrere tausend Neonazis aus ganz Europa teil.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte der Veranstaltung

Entstehung und Wachsen der Demonstrationen (1987 bis 1990)

Bereits einen Tag nach dem Tod von Rudolf Heß im Kriegsverbrechergefängnis Berlin-Spandau am 17. August 1987 kam es in Deutschland und Österreich zu Demonstrationen mit sehr überschaubaren Teilnehmerzahlen, so etwa in Hamburg, Berlin, München und Wien, zahlreichen Parolenschmierereien und in Frankfurt zu einem Anschlag gegen ein Fahrzeug der Streitkräfte der Vereinigten Staaten. Außerdem belagerten Neonazis zwei Wochen lang den Friedhof im fränkischen Wunsiedel, um die Beerdigung nicht zu verpassen, von der sie letzten Endes dann doch ausgeschlossen blieben. Im Frühjahr 1988 wurde der erste Rudolf-Heß-Gedenkmarsch von Berthold Dinter für den August angemeldet und von einer Gruppe um die Neonazis Michael Kühnen und Christian Worch organisiert. Dabei formulierte Kühnen das Ziel, Wunsiedel niemals zur Ruhe kommen zu lassen. Die Veranstaltung wurde zunächst verboten, dann aber vom Hamburger Anwalt Jürgen Rieger vor Gericht durchgesetzt. Etwa 120 Neo- und Altnazis nahmen an dem Gedenkmarsch am 17. August 1988 teil.

In den folgenden Jahren gewannen die Märsche kontinuierlich an Bedeutung und stifteten Einheit in einer zerstrittenen rechtsextremen Szene. 1989 nahm erstmals eine Gruppe belgischer Neonazis an der Demonstration teil und insgesamt stiegen die Teilnehmerzahlen zunehmend an, nicht zuletzt unter dem Eindruck der deutschen Wiedervereinigung und des damit erheblich gestiegenen Mobilisierungspotenzials. Im Sommer 1990 zählte die Veranstaltung bereits etwa 1600 Teilnehmer. Die Antifa und die Autonomenszene mobilisierten 1990 sehr intensiv, um den Marsch "...endgültig zu zerschlagen...". Rechtsextreme wurden schon bei der Anfahrt angegriffen und teilweise deren Fahrzeuge beschädigt. Es gab bürgerkriegsähnliche Zustände als der „Schwarze Block“ der Autonomen/Antifa eine etwa 400 Personen starke Marschkolonne der Neonazis, welche sich auf dem Weg zum Hauptsammelplatz befand, aus einer Seitenstraße heraus überfallartig angriff. Dabei warfen Gegendemonstranten Gegenstände auf die Kolonne der Neonazis. Auch wurden später Gebäude (Schaufenster usw.) von den Rechtsextremen demoliert. Diese Auswüchse mögen mit eine Rolle gespielt haben bei dem Verbot des Marsches im Folgejahr.

Stagnation, Gegenaktivitäten und Verbot (1991 bis 2000)

Neonazis marschierten im Gedenken an Rudolf Heß durch Wunsiedel.

Diese Entwicklung führte jedoch auch zu stärkeren Protesten aus bürgerlichen und antifaschistischen Kreisen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Gegenaktivitäten wurde nach 1990 über den gesamten Landkreis Wunsiedel im Fichtelgebirge ein Demonstrationsverbot verhängt, was die Nazis zwang, in andere Städte auszuweichen. 1991 demonstrierten daher etwa 3000 Menschen in Bayreuth gegen das Verbot in Wunsiedel. Einer bundesweiten antifaschistischen Mobilisierung folgten rund 2500 Menschen. 1992 gelang es der Neonazi-Szene, sich trotz Demonstrationsverbots mit etwa 2000 Personen im thüringischen Rudolstadt zu versammeln und bei einer kurzfristig angemeldeten Demonstration medienwirksam und ohne nennenswerte Proteste durch die Stadt zu marschieren. Antifaschistische Demonstranten wurden zur gleichen Zeit im nordbayerischen Hof von der Polizei festgehalten und führten dort mit 2500 Teilnehmern eine Protestdemonstration durch.

1993 kam es erneut zu einer „spontanen“ Versammlung von 500 Neonazis in Fulda. Dass diese Versammlung von der Polizei erneut nicht verhindert wurde und stattdessen Teilnehmer der Protestveranstaltung an der Stadtgrenze festgehalten wurden, führte zu einer massiven Kritik an der Polizeitaktik und zu einigen Rücktritten von Beamten und Politikern. Gleichzeitig erarbeitete die Polizei eine neue Taktik und innerhalb der Antifa-Bewegung setzte sich ein „dezentrales Konzept“ durch, das in den folgenden Jahren zur Anwendung kommen sollte.

1994 kam es bundesweit zu Blockaden und Demonstrationen gegen die zentralen Figuren der Mobilisierung zu den Heß-Märschen wie Worch und Rieger. Die Polizei verhinderte nun ebenfalls konsequent alle Versuche der Neonazis, in der Bundesrepublik anlässlich des Todestages aufzumarschieren. Teilweise wich die Neonazi-Szene deshalb in das benachbarte Ausland aus, so etwa nach Luxemburg oder 1995 in das dänische Roskilde, ohne dort aber erfolgreich auftreten zu können. Die polizeiliche Repression gegen die Heß-Märsche hatte 1997 zum zehnten Todestag ihren Höhepunkt. Demonstrationsverbote im gesamten Bundesgebiet und über 500 Festnahmen machten ein öffentliches Gedenken für die Nazis mehr oder weniger unmöglich. Der Nachhall war beträchtlich. So kam es auch in den drei Folgejahren kaum zu Aktionen, die über sporadische Anbringung von Plakaten oder Transparenten an Autobahnbrücken hinausgingen. Lediglich im angrenzenden Ausland wurden weiterhin kleinere Aufmärsche durchgeführt, die jedoch kaum öffentliche Wahrnehmung erzeugten. Im Jahr 2000 fand schließlich überhaupt kein Aufmarsch mehr statt. Der Mythos Rudolf Heß schien seine Anziehungskraft fast gänzlich verloren zu haben.

Die Gründe für den Bedeutungsniedergang von 1994 bis 2000 sind in einer Reihe von politischen Niederlagen der Neonazi-Szene zu suchen, die allerdings verschiedene Ursachen hatten. Einerseits führten eine größere öffentliche Sensibilität und verstärkte Aktivitäten insbesondere der Antifa-Szene zu einem erhöhten Druck auf den Staatsapparat, Aufmärsche dieser Dimension und dieses Tenors zu unterbinden. Andererseits verloren die Aufmärsche für das neonazistische Spektrum selbst an Bedeutung, weil es zunehmend gelang, zu aktuellen Themen auf regionaler Ebene zu agieren. Besonders hervorzuheben ist dabei die Kampagne gegen die Wehrmachtsausstellung, die innerhalb der Szene auf großen Widerhall traf.

Erneuter Anstieg der Teilnehmer (2001–2004), seit 2005 Verbot

Als 2001 Jürgen Rieger die Demonstration wieder in Wunsiedel anmeldete, wurde sie zwar in der ersten Instanz verboten, aber in der Berufung vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof genehmigt. Die Richter sahen in ihrer Beurteilung des traditionell verhängten Versammlungsverbots im Landkreis Wunsiedel keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die von einem Gedenkmarsch ausgehe und bezogen sich dabei auch auf eine anhaltende Schwäche der antifaschistischen Gegenmobilisierung. Die Demonstrationen in Wunsiedel wurden von Rieger in diesem Zug bis einschließlich 2010 angemeldet.

Die Folgen des Urteils waren zumindest in ihren Ausmaßen überraschend, denn die aktuelle Entwicklung ist seither von einer erneuten und stark zunehmenden Mobilisierungsstärke der Neonazis geprägt. 2001 marschierten erstmals seit zehn Jahren wieder an die 1000 Neonazis durch Wunsiedel, begleitet von nur etwa 200 protestierenden Gegendemonstranten. 2002 kamen etwa 3000 und 2003 an die 4000 Rechtsextremisten, während es nicht gelang, die Teilnehmerzahl der Gegner deutlich zu steigern. Ein Höhepunkt und das Ende der Demonstrationen trat 2004 mit fast 5000 Neonazis aus Deutschland und Europa ein. Diesen standen etwa 1300 Gegendemonstranten gegenüber, die durch die 2004 gegründete Antifa-Kampagne „NS-Verherrlichung stoppen“ und dem Protest eines Teils der Bürger von Wunsiedel mobilisiert worden waren.

Seit 2005 wurde die Kundgebung verboten. Durch alle Gerichtsinstanzen wurde in dem Marsch eine Störung des „öffentlichen Friedens in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise“ gesehen, die „die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“ (Volksverhetzung, § 130 Abs. 4 StGB). Auch Versuche der Veranstalter, Ersatzveranstaltungen durchzuführen, führten zu keinem Erfolg. 2009 fällte das Bundesverfassungsgericht schließlich eine letztinstanzliche Entscheidung zu den Kundgebungen, die das Verbot der Aufmärsche bestätigte. Nach dem Tod Jürgen Riegers im Jahr 2009 wurde allerdings ein „Gedenkmarsch zu Ehren Riegers“ angemeldet und letztinstanzlich auch genehmigt. Unter dem Motto „Ewig währt der Toten Tatenruhm“ zogen ca. 850 Neonazis durch Wunsiedel und hofften, auf diese Weise eine Ersatzveranstaltung für die Hess-Märsche zu installieren. Im Jahr 2010 wurde diese Veranstaltung wieder angemeldet und genehmigt. Es waren allerdings nur 150 Personen anwesend, die auch nicht am Friedhof vorbeiziehen durften, auf dem Hess begraben war.

Das Grab von Rudolf Heß wurde nach Ablauf des Pachtvertrags am 20. Juli 2011 aufgelöst.[1] Am 13. August 2011 fanden sich nur noch etwa 20 Neonazis in Wunsiedel ein, die Polizei setzte die Veranstaltungsverbote durch.[2]

Bedeutung des Marsches

Der Heß-Marsch war in vielen Hinsichten eines der wichtigsten Ereignisse für die rechtsextreme Szene in Deutschland und Europa, insbesondere, da es verschiedene Flügel und Strömungen vereint. Es beteiligen sich z.B. Neonazis aus dem Spektrum der Freien Kameradschaften, führenden Funktionären der rechtsextremen Parteien NPD und DVU wie zum Beispiel Udo Voigt, aber auch unorganisierte Jugendliche aus der Rechtsrock- und Hatecore-Szene genauso wie ehemalige NSDAP- und SS-Angehörige und andere mehr. Als 2004 der führende Neonazi Christian Worch am Marsch nicht teilnahm, löste dies Kontroversen in der Szene aus.

Literatur

  • Thomas Dörfler, Andreas Klärner: Der "Rudolf-Heß-Gedenkmarsch" in Wunsiedel. Rekonstruktion eines nationalistischen Phantasmas. In: Mittelweg 36 Heft 4/2004, ISSN 0941-6382, S. 74–91, Online abrufbar.
  • Patrick O'Hara, Daniel Schlüter: Der Mythos stirbt zuletzt. Neonazistisches Gedenken, der Kriegsverbrecher Rudolf Heß und antifaschistische Diskussion. Hamburg 2002 (rat – Reihe antifaschistischer Texte, ZDB-ID 2078494-6).

Einzelnachweise

  1. Hans Holzhaider: Ende einer Nazi-Pilgerstätte. In: Süddeutsche Zeitung. online, 20. Juli 2011.
  2. Polizei unterbindet Nazi-Infostand, Frankenpost, 14. August 2011

Weblinks


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