Schweizerische Neutralität

Schweizerische Neutralität

Das Prinzip der Neutralität ist einer der wichtigsten Grundsätze der Aussenpolitik der Schweiz. Dieses Prinzip der Neutralität bedeutet, dass ein Staat sich nicht an bewaffneten Konflikten zwischen anderen Staaten beteiligt. Die schweizerische Neutralität ist im Grundsatz selbstgewählt, dauernd und bewaffnet. Sie wird nicht als Selbstzweck, sondern wurde immer als ein Instrument der schweizerischen Aussen- und Sicherheitspolitik verstanden. Der Inhalt und die Tragweite der schweizerischen Neutralität hat sich hingegen im Laufe der Geschichte immer wieder stark gewandelt und angepasst.

Die Bundesverfassung gibt der schweizerischen Regierung den Auftrag[1] und der Bundesversammlung die Aufgabe,[2] Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz zu treffen.

Inhaltsverzeichnis

Entstehungsgeschichte

Seit der Niederlage in der Schlacht bei Marignano 1515 hatte sich die Eidgenossenschaft aus Konflikten herausgehalten, da die innere Spaltung des Landes in religiöser und politischer Hinsicht ein direktes militärisches Engagement im Ausland nicht mehr zuliess. Sie war somit de facto neutral. Allerdings schlossen die Kantone weiterhin Kapitulationen mit verschiedenen europäischen Mächten ab, die diese zur Anwerbung von Söldnertruppen in den betreffenden Kantonen ermächtigten (→Reisläuferei). Die beiden konfessionellen Lager schlossen auch militärische Beistandspakte ab, die sich jedoch vor allem auf die Möglichkeit eines Bürgerkriegs in der Eidgenossenschaft bezogen.

Auch im Dreissigjährigen Krieg, der grosse Teile von Mitteleuropa in Mitleidenschaft zog, blieb die Schweiz ausgenommen von den Drei Bünden neutral. Angesichts der Verwüstungen und dem damit verbundenen Leiden der Zivilbevölkerung beschlossen die Eidgenossen 1647 im Defensionale von Wil die «immerwährende bewaffnete Neutralität». Diese wurde ein Jahr später im Westfälischen Frieden von den europäischen Mächten bestätigt und war einer der Gründe, dass der Basler Bürgermeister Rudolf Wettstein die De-jure-Loslösung vom Deutschen Reich durchsetzen konnte. Die Kantone führten jedoch die Praxis der Kapitulationen fort. Frankreich schloss sogar derart weitgehende Verträge mit der Mehrzahl der Kantone ab, dass die Schweiz zu einer Art französischem Protektorat wurde. Das Interesse der Grossmächte an der freien Verfügbarkeit der Schweizer Söldner verhalf der Neutralität im Ancien Régime zu einer praktischen Anerkennung durch die Mächte.

In der Zeit zwischen 1798 und 1814 stand die Schweiz unter französischer Vorherrschaft und musste auf die Neutralität verzichten. Die Helvetische Republik wie auch die Schweizerische Eidgenossenschaft der Mediationszeit standen in einem Militärbündnis mit Frankreich. Wiederholt versuchten die schweizerischen Behörden von Frankreich und den übrigen Grossmächten das Zugeständnis der Neutralität zu erreichen, scheiterten jedoch an den gegensätzlichen Interessen. In den Napoleonischen Kriegen wurde die Schweiz deshalb wiederholt Schauplatz militärischer Operationen ausländischer Heere. Schweizerische Truppen kämpften für Frankreich in Spanien und Russland.

Napoleon gestattete der Schweiz die Rückkehr zur Neutralität erst in einem Moment, als diese für ihn nach dem Rückzug der französischen Truppen über den Rhein wieder zu einem Vorteil wurde. Die Alliierten übten jedoch so viel Druck auf die Tagsatzung aus, dass die Schweiz 1814/15 sich der Koalition gegen Frankreich anschloss und 1815 sogar schweizerische Truppen nach Frankreich eindrangen. Dies war der letzte offensive Einsatz schweizerischer Truppen im Ausland.

Auf dem Wiener Kongress wurde durch Beschluss der fünf Grossmächte die Neutralität der Schweiz offiziell anerkannt (→ Restauration (Schweiz)). Dabei wurde die Neutralität auch auf Hochsavoyen ausgedehnt, das zum Königreich Sardinien-Piemont gehörte. Die praktische Umsetzung der militärischen Neutralität erfolgte im 19. und 20. Jahrhundert durch die sogenannte «Grenzbesetzung» bei militärischen Konflikten nahe dem schweizerischen Staatsgebiet, so z. B. 1866, 1871. Die letzte Grenzbesetzung erfolgte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Im späteren Verlauf des Krieges wurde die Grenzbesetzung zugunsten der Réduit-Strategie aufgegeben.

Die Neutralität der Schweiz ist weniger das Resultat einer prinzipiellen Friedensliebe, wie sie in der Gestalt des Bruder Klaus zum Ausdruck kommt, als der schlichten Notwendigkeit. Die Schlacht bei Marignano hatte gezeigt, dass die Schweiz zerbrechen würde, wenn sie sich weiter in die europäischen Konflikte – insbesondere zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich – einmischte bzw. hineinziehen liesse. Da die Schweiz einige der wichtigsten Alpenpässe kontrolliert, konnte sie als politisches Gebilde nur überleben, wenn sie diese neutral allen Interessenten zur Verfügung stellte. Nach dem sogenannten Neutralitätsrecht internationaler Abkommen ist der Durchzug fremder Truppen und die Unterstützung fremder Kriegsparteien untersagt, es muss aber das Territorium vor Übergriffen verteidigt werden. Verständlich wird die äussere Neutralität nur als wichtige Voraussetzung der inneren, national und sehr bald auch konfessionell zerklüfteten Einheit der Schweiz.

In der jüngeren Geschichtswissenschaft wird die Darstellung vermehrt kritisiert, wonach die Neutralität auf die Niederlage von Marignano zurückgehe und seither gelte. So sei weder in Berichten von Reisenden noch in der mittelalterlichen Literatur des Völkerrechts oder in Quellen aus der Eidgenossenschaft die Schweizerische Neutralität erwähnt. Die Neutralität sei in der frühen Neuzeit keine Staatsmaxime gewesen, sondern eines von mehreren politisches Mitteln, das situativ eingesetzt worden sei. Die Erfindung der «dauernden Neutralität» gehe erst auf den Wiener Kongress zurück, mit dem der konfliktreiche Definitionsprozess des Begriffs begonnen habe.[3]

Der Begriff wurde stark von der umfangreichen «Geschichte der Schweizerischen Neutralität» geprägt, die der Zürcher Professor Paul Schweizer 1895 veröffentlicht hat. Dieses Werk ist im Kontext ausländischen Drucks im Zusammenhang mit sozialistischen und anarchistischen Flüchtlingen zu lesen (Wohlgemuth-Handel): Nachdem Russland, Österreich und das Königreich 1889 drohten, der Schweiz den am Wiener Kongress definierten Status der dauernden Neutralität zu entziehen, «erfand» Paul Schweizer die Eidgenössische Neutralitätstradition (vgl. Erfundene Tradition). Er versuchte in seinem Werk zu zeigen, dass die Schweiz ihre Neutralität nicht den Mächten verdankt. Edgar Bonjour wiederum verfasste den ersten Teil seiner «Geschichte der schweizerischen Neutralität» in den Kriegsjahren und unter Aufsicht der Zensurbehörden. Mit Bonjours Werk und zuvor das monumentale Gemälde «Der Rückzug von Marignano» von Ferdinand Hodler im Landesmuseum wurde die vermeintlich lange Tradition der Schweizerischen Neutralität im kollektiven Geschichtsbewusstsein verankert.[4]

Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik

Wenn man von Neutralität spricht, gilt es, Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik auseinanderzuhalten.

Das Neutralitätsrecht ist völkerrechtlich anerkannt und seit 1907 im Haager Neutralitätsabkommen kodifiziert und kommt im Falle eines internationalen bewaffneten Konflikts zur Anwendung. Im Wesentlichen enthält das Neutralitätsrecht die Pflicht zur Unparteilichkeit und Nichtteilnahme, sowie das Recht des neutralen Staates, durch den Konflikt unbehelligt zu bleiben.

Die Neutralitätspolitik kommt in Friedenszeiten zur Anwendung und soll die Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit der Neutralität sichern. Die Neutralitätspolitik ist flexibel und kann äusseren Umständen angepasst werden. Die Schweiz hat im Laufe ihrer Geschichte die Neutralität immer als Mittel zum Zweck gesehen, und die Neutralität dem jeweiligen aussen- und sicherheitspolitischen Umfeld angepasst.

Die Funktionen der schweizerischen Neutralität

Die Neutralität hatte laut Riklin[5] traditionell folgende Funktionen:

  1. Integration: damit ist die interne Funktion der Neutralität für den Zusammenhalt des Landes gemeint.
  2. Unabhängigkeit: die Neutralität sollte dazu dienen, die Eigenständigkeit der schweizerischen Aussen- und Sicherheitspolitik zu sichern.
  3. Handelsfreiheit;
  4. Gleichgewicht: die Neutralität war der Beitrag der Schweiz zur Stabilität auf dem europäischen Kontinent;
  5. Gute Dienste.

Diskussion

In der Zeit des Nationalsozialismus war die Neutralität zeitweise Belastungen durch die Propaganda unter dem Aspekt, alle Deutschen sollten sich zu einem einzigen Grossdeutschland zusammenfinden, ausgesetzt. Die Deutschschweizer hätten sich unter die Fittiche des Nachbarlandes begeben sollen. Dieser Ansatz wurde jedoch nicht mehr weiterverfolgt, als Adolf Hitler in einem Gespräch mit Alt-Bundesrat Edmund Schulthess am 23. Februar 1937 erklärte, die Neutralität der Schweiz achten zu wollen.[6]

Einige der traditionellen Funktionen sind insbesondere seit dem Ende des Kalten Kriegs umstritten. Seitdem wird in der Schweiz auch immer wieder diskutiert, ob die Neutralität noch zeitgemäss sei und wie sie heute umgesetzt werden solle. Sehr umstritten ist beispielsweise die Teilnahme an wirtschaftlichen Sanktionen oder der Beitritt zu internationalen Organisationen wie der Europäischen Union (EU).

Kritik an der Neutralität

Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Neutralität der Schweiz von vielen Seiten kritisiert. Die Siegermächte bezeichneten diese sogar als «illegitime Kooperation mit den Nazis». Kritiker sehen in der Neutralität zudem eine Isolierung. Als vollkommen neutraler Staat würde die Schweiz beispielsweise nicht der EU oder anderen europäischen Gemeinschaften beitreten.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Artikel 185
  2. Artikel 173
  3. Andreas Suter: Neutralität. Prinzip, Praxis und Geschichtsbewußtsein, in: Manfred Hettling et al. (Hrsg.): Eine kleine Geschichte der Schweiz, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-518-12079-4, S. 141 ff.
  4. Andreas Suter: Neutralität. Prinzip, Praxis und Geschichtsbewußtsein, in: Manfred Hettling et al. (Hrsg.): Eine kleine Geschichte der Schweiz, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-518-12079-4, S. 162 ff.
  5. Riklin, Alois: Funktionen der schweizerischen Neutralität, in Passé pluriel. En hommage au professeur Roland Ruffieux, Fribourg, Editions universitaires, 1991, S. 361–394
  6. Auszug aus Walter Wolf: Faschismus in der Schweiz. Die Geschichte der Frontenbewegung in der deutschen Schweiz 1930-1945. Zürich 1969, abgefragt am 22. Februar 2009

Literatur

  • Edgar Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutralität: Kurzfassung. Helbing & Lichtenhahn: Basel 1978.
  • Edgar Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutralität: vier Jahrhunderte eidgenössischer Aussenpolitik. Helbing & Lichtenhahn: Basel 1965–1976. (9 Bände)
  • Hanspeter Kriesi: Le système politique suisse. 2. Auflage. Economica. Paris 1998. ISBN 2-7178-3694-2
  • Robert Chr. van Ooyen: Die schweizerische Neutralität in bewaffneten Konflikten nach 1945, Frankfurt a.M. - Bern u.a. 1992.
  • Rita Stöckli: Die Anfänge der eidgenössischen Neutralität in der Historiographie: eine Text- und Wirkungsanalyse der Neutralitätsgeschichten von Paul Schweizer und Edgar Bonjour. Historisches Institut der Universität Bern, Bern 1997.

Weblinks


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