- St. Galler Stickerei
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Als St. Galler Stickerei bezeichnet man Stickerei-Erzeugnisse aus Stadt und Region St. Gallen. Die Region zählte einst zu den wichtigsten und grössten Exportgebieten für Stickerei. Um 1910 war die Stickereiproduktion mit 18 Prozent der grösste Exportzweig der Schweizer Wirtschaft und über 50 Prozent der Weltproduktion kamen aus St. Gallen. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs ging die Nachfrage nach dem Luxusgut sprunghaft zurück und damit wurden sehr viele Beschäftigte arbeitslos, was zur grössten Wirtschaftskrise der Region führte. Heute hat sich die Stickereiindustrie wieder einigermassen erholt, die ehemalige Grösse wird sie jedoch wohl nie mehr erreichen. Dennoch gelten die St. Galler Spitzen noch immer als beliebtes Ausgangsmaterial für teure Kreationen der Pariser Haute Couture.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Anfänge
Erste Zahlen sprechen davon, dass es bereits am Ende des 18. Jahrhunderts bis zu 100'000 Beschäftigte in der St. Galler Stickereiindustrie gab, lange vor der Erfindung der Handstickmaschine. Diese Zahl dürfte etwas übertrieben sein, dennoch ist sie ein Anzeichen für die Bedeutung der Stickerei in der Ostschweiz. Der Bedeutungszuwachs der Stickerei geht einher mit dem Niedergang der Leinwandindustrie, insbesondere in der Stadt St. Gallen selbst. Diese war durch die von Peter Bion eingeführte Baumwollindustrie und ausländische Konkurrenz nachhaltig geschwächt worden. Wer kein Auskommen in der Baumwollindustrie fand, wich auf die Stickerei aus. Spätestens während der Kontinentalsperre um 1810 geriet dann auch die Bauwollindustrie stark ins Hintertreffen. Die General-Societät der englischen Baumwollspinnerei in St. Gallen, die 1801 als erste Aktiengesellschaft der Schweiz gegründet worden war, musste bereits 1817 wegen Geldmangels wieder schliessen.
Erste Stickmaschinen
Die grosse Blüte der Stickereiindustrie begann mit der Erfindung der Handstickmaschine durch Josua Heilmann von Mülhausen im Jahr 1828. Bereits ein Jahr später erwarb Franz Mange (1776–1846) zwei solcher Maschinen von Heilmann, unter der Voraussetzung, dass dieser keine weiteren Maschinen in der Schweiz oder deren näheren Umgebung ohne der Zustimmung Manges verkaufen dürfe. Allerdings erlaubte Mange der Maschinen-Werkstätte und Eisengießerey, die Michael Weniger kurz zuvor in St. Georgen eröffnet hatte, die Produktion solcher Maschinen. Er selbst hatte an der Verbesserung der Konstruktion mitgearbeitet und bereits mehrere Maschinen ins Ausland exportiert, allerdings ohne nachhaltigen Erfolg für die dortige Industrie, besonders auch, da die Maschinen noch nicht ausgereift und nicht markttauglich waren. 1839 ging Manges Geschäft an seinen Schwiegersohn Bartholome Rittmeyer (1786–1848) über, kurz danach an dessen Sohn Franz Rittmeyer (1819–1892). Zusammen mit seinem Mechaniker und dank der Unterstützung durch Anton Saurer schaffte dieser es endlich, die Maschinen soweit zu verbessern, dass die Qualität nun annähernd derjenigen von Handstickereien entsprach. So wurden seit 1852 die Handstickmaschinen in Serie hergestellt, unter anderem in der bereits erwähnten Maschinenfabrik in St. Georgen. Die Produktion belief sich bis 1875 auf über 1'500 Stück.
Die Maschinen hatten den Nachteil, dass mit ihnen nur bandähnliche Stickereien gelangen. Die gleichzeitige Erfindung der Nähmaschine bot hier jedoch Abhilfe, da nun auch kleinere Stickereien in grossem Stil auf Tücher aufgenäht werden konnten. Ein Hamburger Kaufmann nannte diese neue Methode Hamburghs, um die Konkurrenz ob der Herkunft des Artikels zu täuschen.
Rittmeyer musste seine Fabrikanlagen mehrmals verlegen und erweitern, da die vorhandenen Kapazitäten die immer steigende Nachfrage nicht mehr zu decken vermochten. Allein in der 1856 fertiggestellten Stickfabrik in Bruggen (später ins Sittertal verlagert) arbeiteten zeitweise 120 Maschinen.
Rascher Aufstieg
Den kometenhaften Aufstieg der St. Galler Stickerei lässt sich nur als glückliches Zusammentreffen verschiedener wirtschaftlicher, politischer und technischer Gegebenheiten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erklären. Im politischen Umfeld war es das Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs und die einsetzende Freihandelspolitik, im wirtschaftlichen unter anderem die am französischen Hof sehr beliebte Mode des zweiten Rokoko und im technischen die Weiterentwicklung der Maschinen.
In den Jahren nach 1860 nahm der Bedarf an Stickereiprodukten so stark zu, dass die Stickereien wie Pilze aus dem Boden schossen. Viele Bauern, Handwerker und vormalige Weber liessen sich gegen Anzahlung eine Stickmaschine in ihrem Haus installieren. So wurde die Stickerei bald zu einem grossen Teil zur Heimarbeit und zum wichtigen Nebenverdienst der Bauern und Handwerker, vorwiegend im Winter, wie es teilweise schon zuvor in der Leinwand- bzw. Spinnereizeit gewesen war. Sowohl für die Sticker selbst als auch für die Unternehmer bot das Heimarbeitsmodell bestimmte Vorteile. Für erstere war es besonders der schlechte Ruf der Fabrik und die Abhängigkeit von einem einzigen Arbeitgeber, die sie zu dieser Geschäftsform bewegte, für letztere die Möglichkeit, Kapazitäten sehr kurzfristig in Anspruch nehmen zu können und bei Auftragsrückgängen das ganze Risiko auf den Stickern ruhen zu lassen. Die Sticker schätzten auch die Freiheit in der Einteilung ihrer Arbeitszeit sowie die unbeschränkte Ausnützung der Kinderarbeitskraft, besonders seit der Einführung des eidgenössischen Fabrikenarbeitsgesetzes von 1877, das Jugendlichen unter 14 Jahren den Zutritt zu Fabriken verwehrte.
Besonders profitierten von der Entwicklung der Heimstickerei natürlich auch die Kaufleute, die die Rohstoffe importierten, an die Sticker verteilten und die Fertigprodukte wieder in alle Welt verschifften. In der Zeit von 1872 bis 1890 nahm die Zahl der in den Kantonen St. Gallen, Appenzell Ausserrhoden und Thurgau installierten Stickereimaschinen von 6'384 auf 19'389 zu, wobei aber gleichzeitig der Anteil der in Fabriken installierten Maschinen von 93% auf 53% abnahm. Allein der Wert der exportierten Waren nach Amerika nahm von 1867 bis 1880 von 3,1 auf über 21 Millionen Schweizer Franken zu.
Vertreter von Handelshäusern aus Übersee besuchten regelmässig St. Gallen um die Muster auszuwählen und neue Bestellungen aufzugeben. Auch in St. Gallen entstanden Handelshäuser, die die produzierte Ware in alle Welt verschifften. Die Speditionsfirma Danzas etwa inserierte grossflächig in Zeitungen und pries sich als «Spezialagentur für den Stickerei-Veredlungs-Verkehr in St. Gallen» mit Post- und Schnelldampfern nach Nordamerika, Ostindien, China, Japan, Australien und verschiedenen anderen Orten an. In diesem Kontext darf auch die Erwähnung der Kaufmännischen Corporation nicht fehlen, die massgeblich um die Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Exporthandel bemüht war. So baute sie ein Zollfreilager in der Stadt und eröffnete auch eine Schule für Mustergestalter und das heutige Textilmuseum. Zudem war die Corporation um die sogenannte Stickereibörse bemüht, eine Art Markt für Fabrikanten, Kaufleute, Fergger, Sticker und Veredler.
Weitere Entwicklungen
Den nächsten Schub erhielt die Stickereiindustrie 1863 durch die Erfindung der Schifflistickmaschine des Gossauers Isaak Gröbli. In Winterthur wurde zunächst eine Versuchsmaschine gebaut, später ging die Serienproduktion an die Adolph Saurer AG in Arbon über. Bereits 1869 war im Krontal eine neue Fabrik mit 210 solcher Maschinen eröffnet worden.
Einen vorübergehenden schweren Rückschlag erlitt die Stickerei um 1885 infolge eigener Überproduktion in einer Zeit wirtschaftlicher Krisen. Die Aufträge waren plötzlich stark rückläufig, womit auch die Löhne praktisch ins Bodenlose fielen. Erst um 1898 hatte sich die Stickerei durch verschiedene interne Reformen, Beschränkungen der maximalen Arbeitszeit sowie Mindestlöhne und den Aufschwung der Weltwirtschaft wieder erholt.
Es gab grob zwei verschiedene Interessen bei den Fabrikanten. Jene, die sich auf den Export nach den Vereinigten Staaten konzentrierten, liessen vorzugsweise Massenware fertigen. Die alteingesessenen Exporthäuser bevorzugten jedoch möglichst komplizierte und kostspielige Kreationen, die sich an den Bedürfnissen der Pariser Haute Couture orientierte.
Den letzten entscheidenden Schritt in der technischen Entwicklung der Stickerei machte die Erfindung des sogenannten Automaten, bei dem das Muster nicht mehr über den Pantografen sondern über Lochkarten vorgegeben wurde. Die ersten dieser Apparate kamen aus dem sächsischen Plauen. 1911 hatte Arnold Gröbli, der Sohn des Isaak, die Maschine bei Saurer in Arbon entscheidend verbessert, so dass sie der Konstruktion aus Deutschland in fast allen Belangen überlegen war. Die Schiffli- und Handstickapparate starben trotz der nun deutlich erhöhten Geschwindigkeit jedoch nicht ganz aus, da die Vorbereitung der Stanzkarten mit den Mustern sich für kleine Serien oft nicht lohnte. Da die verschiedenen Produkte der Branche teilweise ganz unterschiedliche Anforderungen hatten, wurden selbst 1945 für einige Bestellungen noch Handstickmaschinen verwendet, oder es wurde sogar gänzlich von Hand gestickt.
Die grosse Krise und der Wiederaufstieg
Entwicklung der Stickerei-Exporte 1910-1940[1] Jahr Menge (Tonnen) Wert (in 1000 Fr.) 1910 8917,1 204'064 1911 9259,3 215'390 1912 8940,7 218'889 1913 8918,2 209'743 1914 6719,5 157'600 1915 7224,3 181'664 1916 7371,3 230'205 1917 5427,4 227'270 1918 4352,0 276'098 1919 5694,7 410'036 1920 5335,7 391'858 1921 2574,1 126'094 1922 3494,3 143'200 1923 3861,2 153'011 1924 3587,7 156'608 1925 3088,2 129'130 1926 3232,1 119'288 1927 3279,8 116'283 1928 3173,4 109'733 1929 2444,3 88'234 1930 1735,0 65'111 1931 1372,1 49'173 1932 835,8 22'633 1933 944,2 21'120 1934 716,7 14'851 1935 630,8 12'252 1936 1020,6 15'848 1937 1255,2 26'882 1938 1178,6 25'480 1939 1396,6 28'372 1940 686,6 17'138 Der Niedergang der Stickereiindustrie begann 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Nachfrage nach Luxusprodukten – und zu diesen hatte die Stickerei immer gezählt – brach schlagartig ein, und auch die Freihandelszonen waren faktisch nicht mehr vorhanden. Teilweise traten neutrale Staaten vermehrt als Abnehmer auf, das konnte die Absatzprobleme aber nur kurzfristig kompensieren. Zusätzlich zum erschwerten Export kamen auch noch deutliche Preisanstiege beim zu importierenden Garn. Um die Löhne einigermassen vor dem freien Fall zu bewahren, wurden jetzt auch Höchstarbeitszeiten und Mindestlöhne festgesetzt. Faktisch waren diese Massnahmen aber eher kontraproduktiv - es bekam nur eine Arbeit, wer bereit war, weniger als den Mindestlohn zu verlangen.
Im Jahr 1917, noch mitten im Krieg, brachte dieser vorübergehend eine überraschende Wende: Die Entente verbot den Export von Baumwollprodukten nach Deutschland, nicht aber den Export von Stickereien. Man behalf sich, indem jegliche Stoffe für den Export auf irgendeine Weise bestickt wurden und daher als Stickerei verkauft werden konnten. Ein Jahr später wurde auch der Verkauf von Stickereien nach Deutschland verboten und damit war das auch das Ende des kurzen Aufschwungs.
Der letzte kleine Aufschwung kam 1919 nach dem Ende des Krieges, als der Wiederaufbau in den Kriegsländern die Nachfrage kurzfristig wieder nach oben steigen liess. Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise war dann das Ende der Blütezeit für die St. Galler Stickerei endgültig besiegelt.
Als auffälligstes Anzeichen für die Krise wird oft die Bevölkerungsentwicklung in der Stadt angegeben. Von 1910 bis 1930 sank die Wohnbevölkerung durch Abwanderung in Folge von Arbeitslosigkeit von 75'482 auf 64'079. Zwar nahmen die Stickereiexporte nach dem Krieg kurzfristig wieder zu, die Zeit der grössten Wirtschaftskrise für die Stadt begann aber spätestens 1920. Zwischen 1920 und 1937 wurde die Zahl der Stickmaschinen von über 13'000 auf unter 2'000 reduziert. 1929 subventionierte der Bund eine Abbauaktion von Schifflistickmaschinen – gegenüber 1905 hatte die Zahl der Beschäftigten in der Industrie um 65% abgenommen. 1940 waren noch 850 Handstickmaschinen, 350 Schifflistickmaschinen und 522 Stickautomaten funktionsfähig, ausgelastet waren noch weit weniger.
Den absoluten Tiefpunkt erreichte der Stickereiexport 1935 mit 640 Tonnen (gegenüber 5'899 Tonnen im Jahr 1913). Bis 1937 stiegen die Exporte jedoch erstmals wieder über 20 Millionen Schweizer Franken, und der Grossteil der in der Gegend eröffneten 97 neuen Industriebetriebe war in der Textilbranche tätig.
Nachkriegszeit
Die Krise der Textilindustrie hatte die gesamte Ostschweiz schwer getroffen. Alternative Industrien gab es kaum und so blieb den arbeitslos gewordenen Stickern praktisch nur die Strasse. Etwas Entspannung auf dem Arbeitsmarkt gab es erst im wirtschaftlichen Aufschwung der 50er und 60er Jahre, als sich langsam auch andere Industriezweige in der Ostschweiz etablieren konnten. Ein neues Problem beim Wiederbeleben der Stickereiindustrie gab sich daraus, dass durch die Entwicklung immer neuer Stickautomatenmodelle die Stickerei sehr kapitalintensiv wurde und dadurch die Heimstickerei praktisch unmöglich wurde. Stickautomaten kosteten in den 70er Jahren gut und gerne 750'000 Franken, während eine Handstickmaschine um die Jahrhundertwende noch für ein paar Hundert Franken zu haben war.
Die Beschäftigten in der Stickereiindustrie gingen stark zurück. Waren 1941 in den Kantonen St. Gallen, Appenzell und Thurgau noch gesamthaft 4962 Menschen in der Stickerei beschäftigt, waren es 1970 nur noch 5951.[2] Die besonders stark von der Stickerei abhängigen Gebiete Appenzell Ausserrhodens hatten sich auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch nicht vollständig erhoht.
Arbeitsverhältnisse
War die Stickerei zur Zeit der Handarbeit vorwiegend oder sogar praktisch ausschliesslich Frauenarbeit, wechselte das mit der Einführung der Stickmaschinen schlagartig. Die Arbeit an der Maschine war eine ausgesprochene Männerarbeit, die Frau war jedoch als Gehilfin nach wie vor beschäftigt – sie kümmerte sich um den Austausch gebrochener Nadeln und das Einfädeln, wenn der Faden zu Ende gegangen war. Wurden in der traditionellen Geschichtsschreibung die oben erwähnten Vorteile der Heimarbeit herausgehoben – 1877 schrieb etwa Dr. Wagner von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft bezogen auf die Fabrikarbeit «Das grösste Elend unserer Zeit ist die Auflösung der Familie» – so wird heute darüber allgemein kritischer geurteilt. Erstens war die Entlöhnung der Heimarbeiter teilweise sehr schlecht und zweitens mussten oft auch Kinder und Grosseltern an der Stickmaschine mitarbeiten, um den Unterhalt für die Familie aufzubringen. Zwar bewohnte die Mehrheit der Heimarbeiter ein eigenes Haus mit guter Wohnqualität, aber dies galt oft nicht für die Arbeitslokale, da diese zuweilen in feuchten, schlecht belüfteten und ungenügend geheizten Räumen eingerichtet waren.
Besonders hervorgehoben wurde auch immer das Zusammenspiel zwischen der Textilindustrie und der Landwirtschaft. Die Bauern – so die Idealvorstellung – würden ihre freie Zeit produktiv einsetzen, Abwechslung haben und so ihr karges Einkommen aufbessern können. Unbestritten galt das tatsächlich für einige Landwirtschaftsbetriebe. Allerdings war der Konkurrenzkampf sehr hart und die Maschinen mit hohen Krediten belastet, so dass dann für die Landwirtschaft oft kaum mehr Zeit blieb. Die raue Arbeit eines Landwirtes war für die in der Stickerei notwendige Feinarbeit auch nicht förderlich, so dass viele dieser Landwirtschafts-Stickbetriebe nur gröbere Arbeiten verrichten konnten. Ausgenommen davon war die von den Frauen ausgeführte reine Handstickerei, wie sie vorwiegend in Appenzell-Innerrhoden bis weit ins 20. Jahrhundert hinein betrieben wurde.
Der Lohn der Sticker war in der Hochblüte akzeptabel, besonders für die selbstständigen Heimarbeiter. Dies obwohl die Fergger (Zwischenhändler) und die Exporteure versuchten, möglichst viel Geld in die eigene Tasche abzuzweigen und die Lohnabzüge wegen angeblicher Fehler hoch zu halten. Schlechter ging es da den Hilfskräften, die oft nur von der Hand in den Mund lebten. Die Arbeitszeiten waren, vor allem natürlich bei grosser Nachfrage, sehr lang. Die Stickerei war, da praktisch ausschliesslich vom Export abhängig, sehr anfällig auf Krisen. Sobald der Absatz stockte, ging der Lohn der Sticker teilweise rapide zurück, und es ging ihnen entsprechend schlecht. Da die Sticker entsprechend ihrem Berufsbild als selbstständige Arbeiter als sehr stolze Arbeiter beschrieben werden, beschwerten sie sich üblicherweise nicht darüber. Und auch ihrem Äusseren war nichts anzusehen, denn sie sparten bevorzugt beim Essen statt bei den Kleidern.
Die tägliche Arbeitszeit betrug zwischen 10 und 14 Stunden, was dann auch zu gesundheitlichen Schäden wegen Überlastung der Muskulatur – die meisten Stickmaschinen waren noch immer von Hand zu bedienen – und Blutarmut oder Lungentuberkulose führte. Zudem war die Stellung des Stickers vor dem Pantographen aus ergonomischer Sicht äusserst schlecht – der Brustkorb wurde schwer in seiner Entwicklung geschädigt und die Wirbelsäule verkrümmt. 25% aller Sticker waren bereits bei der Musterung als dienstuntauglich eingestuft worden.
Säuglingssterblichkeit im Kanton St. Gallen[3]
Anzahl Todesfälle im ersten Lebensjahr auf 1000 LebendgeborenePeriode St. Gallen Schweiz 1867–1870 272 210 1871–1875 252 198 1876–1880 232 188 1881–1885 209 171 1886–1890 182 159 1891–1895 164 158 1896–1900 145 143 1901–1905 149 134 1906–1910 128 115 1911–1914 111 101 1936–1940 45 45 1951–1955 27 29 1988–1991 7 7 Die Säuglingssterblichkeit war in den nördlichen, industrialisierten Bezirken des Kantons St. Gallen noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausserordentlich hoch (siehe Tabelle). Zur Tabelle ist anzumerken, dass sich die Zahl für den Kanton St. Gallen auf das ganze Kantonsgebiet bezieht, der industrialisierte Norden daran einen deutlich mehr als überdurchschnittlichen Anteil hatte. Einer der Gründe dafür war, dass die Frauen nach der Geburt der Kinder so schnell wie möglich wieder in den Arbeitsprozess integriert werden mussten, denn ihre Arbeit wurde benötigt. So wurden die Kinder oft viel zu früh abgestillt, was zu Magen-Darm-Entzündungen führte, woran die Säuglinge dann starben.
Verschiedene Mediziner versuchten mit Aufklärung im Bereich der Hygiene, der Ernährungsberatung und der Kinderpflege diesen Missständen entgegenzuwirken – mit messbarem Erfolg. Durch die Sensibilisierung besonders auch der Lehrer auf die Hygiene und die Einstellung spezieller Schulärzte zur Überwachung derselben wurde das Hygienebewusstsein der Bevölkerung nachhaltig verbessert. Seit 1895 mussten auch die Soldaten in der Stadtkaserne regelmässig duschen. Die Mütter wurden mit Zeitungsartikeln, Ratgebern, Vorträgen und Kursen zum bürgerlichen Idealbild erzogen, wonach es ein «heiliger Beruf» sei, Hausfrau und Mutter zu sein und sich in den Dienst ihres «erträumten Kindes zu stellen». Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen diesem Idealbild die harten Arbeitsbedingungen der Textilindustrie entgegen, weshalb sich Ärzte wie Frida Imboden-Kaiser für den Aufbau von Beratungsstellen für werdende Mütter und für die Säuglingspflege engagierten.
Neben der äusseren Reinlichkeit galt die Aufmerksamkeit der Ärzte auch der ‹Hygiene des Magens›, also der Ernährung. Milchprodukte und Fleisch wurden als gesunde Produkte angepriesen und Genussmittel und Kohlenhydrate kamen in Verruf. Dies kam der Landwirtschaft entgegen, die sich auch immer mehr auf die Viehwirtschaft konzentrierte. Auch der bis anhin völlig normale Konsum teilweise grosser Mengen Alkohol wurde bekämpft.
Die Stickerei heute
Obwohl die Stickerei für die Region längst nicht mehr die Bedeutung hat wie zu Beginn des letzten Jahrhunderts, ist sie doch immer noch ein Wirtschaftsfaktor. Besonders auch Stickereimaschinenfabriken wie die Benninger AG gehören zu den grösseren Arbeitgebern der Region. Grosse Namen wie Pierre Cardin, Chanel, Christian Dior, Giorgio Armani, Emanuel Ungaro, Hubert de Givenchy, Christian Lacroix, Nina Ricci, Hemant und Yves Saint Laurent verarbeiten Spitzen aus St. Gallen – kaum eine bedeutende Modenschau der Welt verzichtet auf die Präsentation entsprechender Kreationen.
In der Gallusstadt selbst werden Stickereierzeugnisse neben den traditionellen Modenschauen am CSIO und an der OFFA Frühlings- und Trendmesse St. Gallen am St. Galler Kinderfest präsentiert. Dieses Fest hat einen grossen Teil seiner Bedeutung und seines Charakters der Stickerei zu verdanken.
Heute gibt es nur noch wenige Firmen, die St. Galler Stickerei für die Damen von Welt produzieren. Es kommen praktisch nur noch modernste Stickautomaten mit Computersteuerung zum Einsatz. Die Zeit der Handstickerei in der Ostschweiz ist aber endgültig vorbei. 2010 gab es noch einen einzigen Handsticker, der seine Maschine (Baujahr um 1870) professionell einsetzte.[5]
Die grosse Blüte der Stickerei und der damit verbundene Reichtum hat auch das Stadtbild nachhaltig geprägt. Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass die Stadt um 1920 gebaut war – von den später erweiterten Aussenquartieren abgesehen. Die Jugendstil- und Neurenaissancebauten der Zeit zwischen 1880 und 1930 definieren das Bild der in dieser Zeit gebauten Industriequartiere um die Altstadt. Die Namen dieser ehemaligen Geschäftspaläste lassen die einstige Bedeutung des Welthandels für die Stadt erahnen: Pacific, Oceanic, Atlantic, Chicago, Britannia, Washington, Florida…
Siehe auch
Quellen
- Ernst Ehrenzeller: Geschichte der Stadt St. Gallen. Hrsg. von der Walter- und -Verena-Spühl-Stiftung. VGS Verlagsgemeinschaft, St. Gallen 1988, ISBN 3-7291-1047-0
- Peter Röllin (Konzept): Stickerei-Zeit, Kultur und Kunst in St. Gallen 1870–1930. VGS Verlagsgemeinschaft, St. Gallen 1989, ISBN 3-7291-1052-7
- Max Lemmenmeier: Stickereiblüte. In: Sankt-Galler Geschichte 2003, Band 6, Die Zeit des Kantons 1861–1914. Amt für Kultur des Kantons St. Gallen, St. Gallen 2003, ISBN 3-908048-43-5
- Albert Tanner: Das Schiffchen fliegt, die Maschine rauscht. Weber, Sticker und Fabrikanten in der Ostschweiz. Unionsverlag; Zürich 1985; ISBN 3-293-00084-3
- Der Kanton St. Gallen; Landschaft Gemeinschaft Heimat; Amt für Kulturpflege des Kantons St. Gallen; ISBN 3-85819-112-0 (formal falsche ISBN)
Einzelnachweise
- ↑ Tanner, Seite 186
- ↑ Quelle: Eidgenössische Volkszählungen
- ↑ Lemmenmeier, Seite 12
- ↑ St. Galler Tagblatt vom 22. Januar 2009: In St. Galler Spitze
- ↑ Markus Wehrli (24. April 2010): Die letzten Handsticker. St. Galler Tagblatt. Abgerufen am 28. Juli 2010.
Weblinks
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