Studentengeschichte

Studentengeschichte

Die Studentengeschichte ist ein Forschungszweig innerhalb der Universitätsgeschichte und beschäftigt sich mit der Kultur- und Sozialgeschichte der Studenten vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Lange Zeit hauptsächlich von Hobbyhistorikern aus dem Umfeld der Studentenverbindungen betrieben, finden studentenhistorische Fragestellungen in jüngerer Zeit verstärkt auch das Interesse im akademischen Diskurs und haben sich inzwischen zu einem „eigenen, zunehmend profilierten Forschungsfeld entwickelt“.[1]

Inhaltsverzeichnis

Entwicklung

Gründungsbeschluss des Hochschularchivs der Deutschen Studentenschaft von 1919

Die Beschäftigung mit der Geschichte der Studenten und ihres Brauchtums begann im deutschsprachigen Raum gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ihre Initiatoren waren oftmals korporierte Laienwissenschaftler und Antiquare, aber auch studierte Historiker wie Wilhelm Erman, Wilhelm Fabricius und Paul Ssymank.[2] Letzterer erhielt 1920 in Göttingen erstmals einen Lehrauftrag für Hochschul- und Studentengeschichte und gründete dort das – später nach Würzburg verlegte – Institut für Hochschulkunde. Die dauerhafte Etablierung der neuen Disziplin scheiterte jedoch zunächst am Geldmangel sowie – nach 1933 – an der politischen Einflussnahme der nationalsozialistischen Reichsstudentenführung: Diese verfügte 1936 zwar die Gründung eines neuen Forschungsinstituts in Würzburg, in dem die Bestände des (vormals Göttinger) Instituts mit beschlagnahmten Archiven mehrerer Korporationsverbände, mit Aktenabgaben der Deutschen Studentenschaft, des Deutschen Studentenwerks und des NS-Studentenbundes sowie angekauften Privatsammlungen vereinigt wurden. Pläne zur Einrichtung eines Lehrstuhls an der dortigen Universität zerschlugen sich jedoch abermals.[3]

Die Teilnehmer der Deutschen Studentenhistorikertagung 1954 vor dem Huttenschlösschen in Würzburg

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es erneut die korporierten Studentenhistoriker, die ihre bereits 1926 begründeten jährlichen Tagungen 1954 wieder aufnahmen. Etwa zur gleichen Zeit entstanden – neben der bereits seit 1909 bestehenden Gesellschaft für burschenschaftlichte Geschichtsforschung – weitere Vereine, die sich vorwiegend mit der Geschichte des Verbindungswesens befassten: Verein für corpsstudentische Geschichtsforschung (1956), Studentengeschichtliche Vereinigung des Coburger Convents (1959), Gemeinschaft für deutsche Studentengeschichte (GDS, 1974).

Parallel dazu begann sich aber auch die universitäre Geschichtswissenschaft seit den 1960er Jahren für das Thema zu interessieren: Ausgehend von Thomas Nipperdey, Wolfgang Zorn und Michael H. Kater erschienen zunächst zahlreiche Studien insbesondere zur Entwicklung des Rechtsradikalismus in der Studentenschaft der Weimarer Republik. Spätestens seit den 1990er Jahren ist eine intensivere Beschäftigung mit studentengeschichtlichen Themen zu erkennen, wobei diese zunehmend in allgemeine mentalitäts-, geistes- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge eingebettet werden.[1][4]

Zur Förderung der Studentengeschichtsschreibung wurde 2005 durch die GDS die Stiftung Deutsche Studentengeschichte gestiftet.

Derzeitige Situation und Forschungsstand

Anders als Wissenschaftsgeschichte wird Studentengeschichte im deutschsprachigen Raum bislang nicht als Studienfach angeboten und führt noch ein „Schattendasein“.[4]

„Universitäts- und Studentengeschichte sind Gesellschaftsgeschichte. Eine allein ist nicht ohne die andere zu verstehen.“

Ernst Meyer-Camberg

Hauptschwerpunkt der studentengeschichtlichen Forschung war lange Zeit die Vorgeschichte und Geschichte der Studentenverbindungen. Dies wird auch auf die Quellenlage zurückgeführt; so beschreibt der Studentenhistoriker Harald Lönnecker:[5]

„Während der keiner Korporation angehörende Student nur mehr die Statistik bereichert und mangels Hinterlassung von Quellen für die Geschichtsforschung kaum greifbar ist, hat der Beitritt zu einer Verbindung – das „Aktivmelden“ – den Charakter eines (weltanschaulichen) Bekenntnisses. Der Student gewinnt Konturen, indem er für die Prinzipien seiner Verbindung einsteht und sie lebt. Aber durch die Traditionspflege der Korporationen überlebt er auch, bleibt er in seiner Zeit für die folgenden Generationen sichtbar, wird Beispiel.“

Daraus und aus der Fokussierung auf die Geschichte der Korporationen ergibt sich, daß auch heute noch ein großer Teil der deutschsprachigen Studentenhistoriker selbst einer Studentenverbindung angehört. Der Historiker Michael Gehler stellte dazu fest, „daß ein Großteil derjenigen, die sich […] mit Studentengeschichte im allgemeinen und Korporationsgeschichte im engeren Sinne befassen, Verbindungsmitglieder sind […], eine Interessengruppe, die 'ihre' Geschichte – oft auch sehr kritisch und objektiv – selbst schreiben und zumeist aus ihrer Perspektive dargestellt sehen will, wodurch der Zugang für freistudentische, nichtkorporierte Historiker zur Studentengeschichte […] nicht immer leicht ist.“[6]

Während die mittelalterliche Studentengeschichte bereits relativ gut erschlossen ist, ist die Literatur- und Quellenlage für die Zeit der frühen Neuzeit zwischen Reformation und Französischer Revolution nur sehr rudimentär.[7] Auch die Studentengeschichte der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist im Gegensatz zu der des 19. Jahrhunderts und der der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bisher wenig erforscht und stellt noch ein „schmerzliches Forschungsdesiderat“ dar.[8]

Siehe auch

Literatur

  • Friedhelm Golücke: Verfasserlexikon zur Studenten- und Hochschulgeschichte. Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen, Bd. 13, SH Verlag, Köln 2004, ISBN 3-938031-13-1.
  • Harald Lönnecker: „Das Thema war und blieb ohne Parallel-Erscheinung in der deutschen Geschichtsforschung“ – Die Burschenschaftliche Historische Kommission (BHK) und die Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsforschung e. V. (GfbG) (1898/1909–2009) – Eine Personen-, Institutions- und Wissenschaftsgeschichte. Darstellungen und Quellen zur deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Bd. 18, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2009, ISBN 978-3-8253-5672-9.
  • Matthias Stickler: Neuerscheinungen zur Studentengeschichte seit 1994. Ein Forschungsbericht über ein bisweilen unterschätztes Arbeitsfeld der Universitätsgeschichte. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte. Band 4, 2001. S. 262–270.

Weblinks

 Wikisource: Studentengeschichte – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. a b Matthias Asche, Stefan Gerber: Neuzeitliche Universitätsgeschichte in Deutschland. Entwicklungslinien und Forschungsfelder. In: Helmut Neuhaus (Hrsg.): Archiv für Kulturgeschichte. 90. Band, Heft 1, 2008, S. 153–202, hier: S. 197.
  2. Burschenschaftsgeschichte: Zur Entstehung einer Geschichte der Studenten
  3. Eberhard Dünninger, Irmela Holtmeier, Karen Kloth (Hrsg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Band 13. Olms-Weidmann, 1997, S. 143.
  4. a b Christian George: Studieren in Ruinen. Die Studenten der Universität Bonn in der Nachkriegszeit (1945–1955). V&R unipress, 2010, S. 21.
  5. Harald Lönnecker: Besondere Archive, besondere Benutzer, besonderes Schrifttum. Archive akademischer Verbände. In: Der Archivar. Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen. 55/4, 2002, S. 311–317.
  6. Michael Gehler: Studenten und Politik. Der Kampf um die Vorherrschaft an der Universität Innsbruck 1918–1938. Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Bd. 6, Innsbruck 1990, S. 10f.
  7. Rainer Müller: Studentenkultur und Akademischer Alltag. In: Walter Rüegg (Hrsg.): Geschichte der Universität in Europa: Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800). C.H. Beck, München 1996, ISBN 3-406-36953-7, S. 263–267, hier: S. 263.
  8. Christian George: Studieren in Ruinen. Die Studenten der Universität Bonn in der Nachkriegszeit (1945–1955). V&R unipress, 2010, S. 22.

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