Trieblehre

Trieblehre
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Der Begriff Triebtheorie umfasst eine Reihe von Theorien aus Ethologie, Psychologie und Psychoanalyse, denen die Auffassung gemeinsam ist, der Mensch werde wesentlich von einer mehr oder weniger großen Anzahl endogener, d. h. angeborener Triebe bzw. Grundbedürfnisse gesteuert. Die bekannteste und einflussreichste Triebtheorie wurde von Sigmund Freud entwickelt. Mittlerweile wird das Triebkonzept nur noch vereinzelt in der wissenschaftlichen Literatur verwendet, wesentliche Anteile davon leben aber im moderneren Begriff der „Motivation“ bzw. des „Motivationssystems“ weiter.

Nach Freud entstammt der Trieb einem körperlichen Spannungszustand. Er dient der Lebens-, Art- und Selbsterhaltung. Dazu zählen insbesondere das Bedürfnis nach Ernährung und der Sexualtrieb. Der Triebdrang, welcher vom körperlichen ausgehend einen seelischen Niederschlag, die sog. „Triebrepräsentanzen“ bildet, erfolgt stetig neu (auch nach erfolgter Befriedigung wieder) und vom Willen des Ich-Bewusstseins unabhängig; dieses vermag jedoch die Verwirklichung der Wünsche umweltangemessen zu lenken und sogar zurückzudrängen. Die Triebenergie selbst hat Freud als Libido bezeichnet, ihre Gesetzmäßigkeit als Lustprinzip. Später ergänzte er diese Konzeption durch die zusätzliche Annahme eines Todestriebs, der jedoch stark umstritten blieb.

Inhaltsverzeichnis

Triebarten nach Freud

Triebe werden zum einen nach ihrer Entstehung (Primär -und Sekundärtriebe) und zum anderen nach ihren Funktionen (Lebens- und Todestriebe) unterschieden.

  • Nach der Entstehung: Primärtriebe sind von Geburt an vorhanden und sichern die Erhaltung der Art und des einzelnen Individuums. Zu ihnen zählen das Bedürfnis nach Nahrung, Wasser, Sauerstoff, Ruhe, Sexualität und Entspannung. Die Sekundärtriebe (z.B. das Bedürfnis nach Anerkennung und Sicherheit), entwickeln sich zwischen dem ersten halben und zweiten Lebensjahr. Ohne Sekundärtriebe würden wir auf dem Niveau eines Kleinstkindes bleiben.
  • Nach der Funktion: Hierbei unterscheidet man zwischen dem Lebenstrieb (Eros), zu dem alle lebenserhaltenden und die Erhaltung der Art unterstützenden Triebe zählen, und dem Todestrieb (Thanatos), der den Drang beschreibt, zum Anorganischen und Unbelebten zurückzukehren. Beide Triebe wirken in Polarität, aber auch vielfach zusammen und miteinander vermischt.

Phasen der psychosexuellen Entwicklung

Nach Freud entwickelt sich die menschliche Sexualität bereits ab frühester Kindheit, wobei diese psychosexuelle Entwicklung folgende Phasen durchlaufe:

  • Die orale Phase (von lat. os, oris: der Mund) findet im Säuglings- und Kleinkindsalter statt und dauert etwa bis zum zweiten Lebensjahr. Sie stellt die primitivste Stufe der psychosexuellen Entwicklung dar, in welcher der Mund als primäre Quelle der Befriedigung dient. Hierbei wird das Urvertrauen aufgebaut.
  • In der analen Phase (von lat. anus: der After), die sich etwa vom zweiten bis zum dritten Lebensjahr vollzieht, erlangt das Kind zuerst durch das Ausscheiden von Exkrementen (Defäkation) und anschließend durch deren Zurückhaltung Befriedigung. Abhängig von kulturellen Normen können äußere Anforderungen in Konflikt zu diesen Bedürfnissen stehen, wodurch die Freude, die das Kind an dieser Stimulationszone empfindet, reguliert und unterdrückt wird. Diese Phase trägt zur Reinlichkeitserziehung, zum Erlernen des sozialen Miteinanders, zur Konfliktfähigkeit und zur späteren Über-Ich-Entwicklung bei. Nach Freud kann das Kind in der analen Phase in Konflikte geraten, je nachdem, wie von den Erziehern mit der Sauberkeitserziehung umgegangen wird. Ungelöste Probleme können unter Umständen zur Herausbildung eines so genannten „analen Charakters“ führen, der durch Geiz, Pedanterie und übertriebenen Ordnungssinn gekennzeichnet sei.
  • In der phallischen oder ödipalen Phase (von. griech. phallos: das männliche Glied), die etwa vom dritten bis zum fünften Lebensjahr dauert, richtet sich der Großteil der Aufmerksamkeit auf die Erforschung des eigenen Körpers, sowie das Anfassen und Stimulieren des Penis oder der Klitoris. Da das Genitalorgan des Jungen sichtbar ist und jenes des Mädchens nicht, kann das Kind zu der Meinung kommen, das Mädchen habe das Seinige verloren oder es sei ihm geraubt worden. Die Psychoanalyse spricht in diesem Zusammenhang von einer Kastrationsangst beim Jungen, der Angst davor hat, dass auch ihm sein Penis abhanden kommen könnte. Das Mädchen, das seine Penislosigkeit erkennt, kann glauben, dass es nun selber unvollständig und daher minderwertiger als der Junge sei. Das mit dieser Vorstellung verbundene Erlebnis der Enttäuschung bezeichnete Freud als Penisneid. Die Triebwünsche in dieser Phase äußern sich in der Regel im Begehren des gegengeschlechtlichen Elternteils. Aus diesem Begehren ergibt sich ein Konflikt, den Freud nach Ödipus aus der Tragödie des SophoklesÖdipuskonflikt“ genannt hat. Das Kind identifiziert sich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, was zum Erwerb der jeweiligen Geschlechterrolle führt. Bei einem ungünstigen Verlauf der Entwicklung kann dieser Konflikt bestehen bleiben, was in der psychoanalytischen Literatur häufig „Ödipuskomplex“ genannt wird. Dies ist der Fall, wenn sich ein Kind bzw. der erwachsene Mensch von dem geliebten Elternteil nicht loslösen kann.
  • Vom fünften bis zum elften Lebensjahr erfolgt in der Latenzperiode (von lat. latere: verborgen sein) die Befriedigung durch das Erlangen von Fähigkeiten und der Erkundung der Umwelt. Das Kind wird fähig, auf Lustbefriedigung zu verzichten, sie auf einen anderen Zeitpunkt zu verschieben oder in andere Energie, wie zum Beispiel in sachliches Interesse, umzusetzen (Sublimierung). Im günstigen Fall findet ein Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil oder anderen Vorbildern statt. Kulturelle Werte werden von Vorbildern übernommen (Lehrer, Nachbarn, Bekannte, Klubleiter, Trainer) und kognitive Fähigkeiten erworben. Die Schule und das Spielen mit Geschlechtsgenossen nimmt an Bedeutung zu, während die Sexualität verdrängt wird. Sexuelle Energie wird zwar produziert, jedoch in soziale Beziehungen und in den Aufbau einer Abwehr gegen die Sexualität kanalisiert.
  • Die genitale Phase (von lat. gens, gentis: das Geschlecht), etwa ab dem 11. Lebensjahr. Mit Beginn der Vorpubertät erwacht die Sexualität unter dem Einfluss der Geschlechtshormone zu neuer Macht. Allerdings tritt sie in eine weitere Funktion: Sie dient nicht mehr nur der Lustbefriedigung, sondern auch der Fortpflanzung. War das Interesse des Kindes in den frühkindlichen Phasen noch mehr oder weniger selbstbezogen und das Sexualobjekt in der Familie zu suchen, so werden jetzt Sexualpartner außerhalb der Familie gewählt (Exogamie). Sexualität tritt in den Dienst der zwischenmenschlichen Partnerschaft. Damit ist sie nicht mehr nur eine Funktion, die man für etwas einsetzen kann – zur Lustbefriedigung oder Kinderzeugung –, sondern eine wichtige Form sozialer Interaktion und Kommunikation.

Nach der Triebtheorie kommt es zu entwicklungsbedingtem Verhalten und Ansprüchen des Kindes, die auch unter normalen Bedingungen an bestimmten Punkten mit den Ansprüchen der Umwelt in Konflikt geraten. In der Regel hat das Kind dabei zu lernen, seine Triebwünsche zugunsten des Realitätsprinzips zurückzustellen. Die Lösung der in den jeweiligen Entwicklungsphasen auftretenden Konflikte bedeutet jeweils einen weiteren wichtigen Schritt in der Persönlichkeitsentwicklung. Unter problematischen Bedingungen, etwa durch abweisende, aggressive oder auch (latent) inzestuöse Eltern, die das Kind nicht (behutsam) in die notwendigen Schranken weisen, können im Verlauf dieser Entwicklung jedoch auch Ausgangspunkte für spätere Persönlichkeitsstörungen des Kindes gelegt werden.

Mehrfache Revidierung der Triebtheorie

Der Triebbegriff taucht bei Freud erst 1905 in den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" auf. In der ersten Phase seines Werks hatte er die Symptome seiner Patientinnen und Patienten auf Traumatisierungen zurückgeführt. Am 21.9.1897 schreibt er aber an seinen Freund Fließ, er sei zur Einsicht gekommen „dass es im Unbewussten ein Realitätszeichen nicht gibt, sodass man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann“ (Brief an Fließ). So entwickelte er die Konzeption der unbewussten Phantasien und Wünsche, die ab 1905 durch eine Theorie der Triebe, die als Urgrund der Phantasien zu sehen seien, fundiert wird. In erster Linie sah er nun die Triebkonflikte in der individuellen psychosexuellen Reifung als krankheitsverursachend.

In Freuds Behandlung des Themas der Triebe lassen sich drei Werkphasen abgrenzen:

Erste Phase (laut Robl), 1905 - 1914:

  • Dualistisches Modell: „Von besonderer Bedeutung für unseren Erklärungsversuch ist der unleugbare Gegensatz zwischen Trieben, welche der Sexualität, der Gewinnung sexueller Lust dienen, und den anderen, welche die Selbsterhaltung des Individuums zum Ziele haben, den Ich-Trieben.“ (Freud, [1910], 1982, 209).
  • Ich-Triebe oder Selbsterhaltungstriebe: Triebtypus, dessen Energie das Ich im Abwehrkonflikt verwendet. Die Ich-Triebe funktionieren nach dem Realitätsprinzip.
  • Sexualtriebe (Libido): Die Energie der Sexualtriebe ist die Libido. Die Libido kann gemäß ihrem Besetzungsobjekt in „Ich-Libido“ und „Objektlibido“ unterteilt werden.

Zweite Phase, 1914 - 1915:

  • Kein dualistisches Triebmodell, stattdessen nimmt Freud in dieser Phase einen libidinösen Trieb an, der in zwei Ausprägungen erscheint, in einer aggressiven und einer im weitesten Sinne sexuellen Form.

Dritte Phase, ab 1920:

  • Erneut dualistisches Triebmodell: Lebenstrieb und Todestrieb. Triebe werden durch die Qualitäten Quelle, Objekt, Ziel und Drang beschrieben.

Begriff des Triebes

Freuds Verwendung des Triebbegriffs ist nicht immer einheitlich gewesen. So schreibt er 1905: „Unter einem Trieb können wir zunächst nichts anderes verstehen als die psychische Repräsentanz einer kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle, zum Unterschiede vom Reiz, der durch vereinzelte und von außen kommende Erregungen hergestellt wird. Trieb ist so einer der Begriffe der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen. (...).“ (Freud [1905] 1982, Bd. 5, 76).

Freud beschreibt hier den Trieb als psychische Größe, jedoch ist sein Triebkonzept äußerst schwankend, uneinheitlich und von ständigen Umformulierungen gekennzeichnet. So steht auch das folgende Zitat von 1926 im Widerspruch zu diesem, indem es den Trieb auf der somatischen Ebene ansiedelt: „Die ökonomische Betrachtung nimmt an, dass die psychischen Vertretungen der Triebe mit bestimmten Quantitäten Energie besetzt sind (...).“ (Freud [1926] 1960, Bd. 14, 302).

Wilhelm Reich hat diese zweite Auffassung folgendermaßen umschrieben: „Es ist vollkommen logisch, dass der Trieb selbst nicht bewusst sein kann, denn er ist dasjenige, was uns regiert und beherrscht. Wir sind sein Objekt. Denken wir an die Elektrizität. Wir wissen nicht, was und wie sie ist. Wir erkennen sie nur an ihren Äußerungen, am Licht und am elektrischen Schlag. Die elektrische Welle kann man wohl messen, doch auch sie ist nur eine Eigenschaft dessen, was wir Elektrizität nennen und eigentlich nicht kennen. So wie die Elektrizität messbar wird durch ihre Energieäußerungen, so sind die Triebe nur durch Affektäußerungen erkennbar.“ (Reich 1972, 33).

Aber auch schon die Frage, ob sich das Konstrukt Trieb überhaupt einer dieser Ebenen zuschreiben lässt, wird von Freud widersprüchlich behandelt. „Wir können dem 'Trieb` nicht ausweichen als einem Grenzbegriff zwischen psychologischer und biologischer Auffassung.“ (Freud [1913] 1960, Bd. 8, 410). Diese Äußerung widerspricht dem Vorangegangenen, indem hier ausgesagt wird, dass der Trieb eben nicht der somatischen oder psychischen Ebene zugesprochen werden kann, sondern ein Grenzbegriff ist.

Freud beschreibt die zentralen Qualitäten des Triebes wie folgt:
„Die Quelle des Triebes ist ein erregender Vorgang in einem Organ und das nächste Ziel des Triebes liegt in der Aufhebung des Organreizes“ (Freud [1905] 1982, Bd. 5, 77). „Auf dem Wege von der Quelle zum Ziel wird der Trieb psychisch wirksam. Wir stellen ihn vor als einen gewissen Energiebetrag, der nach einer bestimmten Richtung drängt. (…) Das Ziel kann am eigenen Körper erreicht werden, in der Regel ist ein äußeres Objekt eingeschoben, an dem der Trieb sein äußeres Ziel erreicht; sein inneres bleibt jedes Mal die als Befriedigung empfundene Körperveränderung.“ (Freud [1933] 1982, Bd. 1, 530). Auslöser ist also ein interner Reiz, der eine gewisse als unangenehm empfundene Triebspannung weckt. Diese Spannung weckt den Wunsch nach Verminderung derselben durch Befriedigung am Triebziel, meist dem Objekt.

Für diese Aufgabe stellt der Trieb einen gewissen Energiebetrag zur Verfügung. Hierbei ist wichtig, dass der Mensch dem Triebreiz als einem inneren Reiz nicht, wie meist einem äußeren Reiz, ausweichen kann. Er kann deshalb der Triebspannung nicht entgehen, ohne den Trieb zu befriedigen, wenn er die Triebbefriedigung auch eine Zeit lang aufschieben kann. Je länger der Aufschub, desto größer wird die aversive Spannung und der Wunsch nach Triebbefriedigung. Die Qualität des Triebes wird durch sein Triebziel bestimmt. In die Haupttriebe dieser Modelle lassen sich alle anderen Triebe als Unter-Triebe integrieren. „Welche Triebe darf man aufstellen und wie viele? Dabei ist offenbar der Willkür ein weiter Spielraum gelassen. Man kann nichts dagegen einwenden, wenn jemand den Begriff eines Spieltriebes, Destruktionstriebes, Geselligkeitstriebes in Anwendung bringt, wo der Gegenstand es erfordert und die Beschränkung der psychologischen Analyse es zulässt. Man sollte aber die Frage nicht außer Acht lassen, ob diese einerseits so sehr spezialisierten Triebmotive nicht eine weitere Zerlegung in der Richtung nach den Triebquellen gestatten, so dass nur die weiter nicht zerlegbaren Urtriebe eine Bedeutung beanspruchen können.“ (Freud [1915] 1982, Bd. 3, 87).

Ein Trieb verlangt die ihm eigene Befriedigung und meist auch ein ihm eigenes Objekt, trotzdem kann eine gewisse Menge der ursprünglichen Triebenergie auf ein anderes Ziel verschoben werden und dadurch befriedigt werden, diesen Vorgang nennt Freud Sublimierung. Das Triebziel ist die Erleichterung der Erregungsspannung.

Kritik

Psychoanalytische Kritik an Freuds Triebtheorie

Schon der Begründer der Ich-Psychologie, der Amerikaner Heinz Hartmann, versuchte Ende der 1930er Jahre, von Freuds Konzeption der Lebens- und Todestriebe Abstand zu nehmen. Er schlug vor, den Begriff Trieb durch die Einführung von libidinösen und aggressiven Motivationen zu ersetzen.

Die Freudsche Triebtheorie wurde unter anderem von einer Gruppe von Psychoanalytikern kritisiert und revidiert, die später als Neo-Psychoanalytiker bezeichnet wurden. Zu ihnen gehören u.a. Harald Schultz-Hencke, Karen Horney, Erich Fromm, Harry Stack Sullivan, Frieda Fromm-Reichmann und Clara Thompson. Die Hauptrichtung der Kritik ging dahin, die Triebtheorie als mechanistisch-biologistisches Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert zu verdächtigen. Auch wurde das Menschenbild Freuds mit dessen Annahme des Todes- und Destruktionstriebes als kulturpessimistisch kritisiert. Die Neopsychoanalytiker wollten die Psychoanalyse als eine Theorie der menschlichen Beziehungen neu begründen (vgl. auch Objektbeziehungstheorie). Strittig ist, ob sie damit wesentliche kritische Gehalte der Freudschen Psychoanalyse preisgegeben haben. In dem sog. „Kulturismus-Streit“ wird dieser Frage von den Kontrahenten Erich Fromm und Herbert Marcuse nachgegangen.

Weitere Vertreter der Psychoanalyse wie Otto F. Kernberg sehen die Triebe nicht als angeboren an, sondern nähern sich dem Modell des motivationalen Systems an, welches grundlegende Bedürfnisse als Motivation innerhalb des psychischen Systems versteht. Andere Autoren wie Joseph D. Lichtenberg und Martin Dornes sehen die Triebtheorie an sich, und damit auch die Verwendung des Begriffes „Trieb“ im Freudschen Sinne, als widerlegt an. Lichtenberg geht ausgehend von Heinz Hartmann und den Weiterentwicklungen der amerikanischen Selbstpsychologie stattdessen von motivationalen Systemen aus, zu denen auch die menschliche Sexualität zu rechnen ist. Dornes sieht die Triebtheorie als biologisch begründete „Triebfeder“ der Psyche als widerlegt an. Allen Autoren ist gemeinsam, dass sie den Affekt als zentralen motivierenden Aspekt der Psyche ansehen.

Kritik aus Sicht der Traumaforschung

Eine fundamentalere Kritik an der psychoanalytischen Triebtheorie stammt von Autoren, die sich inzwischen von der Psychoanalyse gelöst haben, z.B. Alice Miller, Thomas Mertens, Jeffrey Masson (Final Analysis, 1992), Dörte von Drigalski (Blumen auf Granit, 1980), Hilarion Petzold. Ihr Vorwurf lautet, dass die Triebtheorie der Psychoanalyse den Opfern sexuellen Missbrauchs in keiner Weise gerecht werde. Denn die Betonung der kindlichen Triebwünsche birgt zumindest oberflächlich gesehen die Gefahr, aus dem „Kind als Opfer“ das „Kind als Täter“ zu machen. Auch wenn natürlich Kinder verführende Verhaltenszüge in bestimmten Phasen haben, so gehört dies zur gesunden Entwicklung, und es ist Sache der Eltern, damit verantwortungsvoll umzugehen und diese Verhaltenszüge nicht für eigene ungestillte Bedürfnisse zu missbrauchen. Dabei kann Missbrauch sehr unterschwellig ablaufen, ohne dass es zu sexuellen Kontakten im direkten Sinne kommt. Eine Eltern-Kind-Interaktion, die von erotisch angereicherten Phantasien der Eltern bzgl. ihrer Kinder geprägt ist, kann Kinder in ihrer Entwicklung erheblich schädigen.

Generell kommt es in triebtheoretisch ausgerichteten Analysen dazu, dass das, was Patienten in ihrer Kindheit an schlimmen Erfahrungen, Traumatisierungen und alltäglichen Belastungen erlitten haben, geradezu geleugnet wird, während triebtheoretisch begründete (angebliche) Konflikte in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten – etwa, dass eine vom Vater vergewaltigte Grundschülerin in dieser Situation „einen sexuell erregenden Triumph über ihre Mutter“ erlebt habe und lernen müsse, „ihre Schuld [zu] tolerieren“ (so Kernberg 1999). Die Trieb-Theorie ist deshalb unbrauchbar, um die Auswirkungen von Traumata auf die psychosexuelle Entwicklung sinnvoll zu verstehen. Sie verhindert, dass das Kind im Patienten als Opfer einer familiären Entgleisung angesehen wird; die notwendige Aufgabe eines Psychotherapeuten besteht vielmehr darin, in der Behandlung unmissverständlich als Anwalt der Opfer aufzutreten. In jüngster Zeit hat aus diesem Grund der renommierte Trauma-Forscher Ulrich Sachsse seinen „Abschied von der psychoanalytischen Identität“ bekanntgegeben.[1]

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Ulrich Sachsse, in: WIR: Psychotherapeuten über sich und ihren unmöglichen Beruf, 2006. S. 444 ff.

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