- XX. Parteitag der KPdSU
-
Der 20. Parteitag der KPdSU vom 14. bis zum 26. Februar 1956 in Moskau war ein Wendepunkt in der Geschichte der Sowjetunion. Es war der erste nationale KPdSU-Parteitag nach dem Tod des Diktators Josef Stalin am 5. März 1953. Dessen Nachfolger Nikita Chruschtschow machte dort mit einer fünfstündigen Geheimrede einige von Stalins Verbrechen, vor allem die „Säuberungen“ der 1930er Jahre an kommunistischen Parteimitgliedern, bekannt und verurteilte sie. Er wollte die KPdSU so auf eine Entstalinisierung vorbereiten und Handlungsspielraum für eine vorsichtige Reformpolitik gewinnen.
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte
Die Bevölkerung der Sowjetunion hatte „Väterchen Stalin“ als den Sieger im „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen das nationalsozialistische Deutschland stark verehrt. Zugleich war im ganzen Ostblock seit Stalins Tod Unruhe in den mit dem Kreml verbündeten Parteien eingetreten. Sie erhofften sich nun vielfach mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Vor allem der gewaltsam niedergeschlagene Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 hatte dem Politbüro die Notwendigkeit von Reformen deutlich gemacht, um der Gefahr einer revolutionären Absetzbewegung in den Satellitenstaaten Osteuropas zu begegnen.
Mit seiner Rede verfolgte Chruschtschow zwei Hauptabsichten: Er wollte innenpolitisch die KPdSU mit Stalins Verbrechen konfrontieren, um so eine Reformpolitik einleiten zu können, und außenpolitisch als Überwinder des Stalinismus erscheinen, um die Ostblockstaaten umso stärker an Moskau zu binden und die Akzeptanz ihrer Parteiführungen und Bevölkerungen dafür zu gewinnen. Dabei setzte er gemäß der seit Lenins Fraktionsverbot eingeleiteten strukturellen Festschreibung des Demokratischen Zentralismus auf eine Parteireform durch eine vom Politbüro gesteuerte Parteidiskussion ohne wirkliche Meinungsfreiheit.
In monatelangen streng geheimen Vorbereitungen hatte Chruschtschow den KGB angewiesen, Dokumente über Stalins Verbrechen zu sammeln und darüber Berichte anzufertigen. Dabei achtete er sorgfältig darauf, dass seine eigene Verstrickung in den Stalinismus vertuscht wurde, denn er war bis zu Stalins Tod dessen treuer Gefolgsmann und verdankte dieser Haltung seinen Aufstieg in der KPdSU. Er selbst hatte dabei Parteigenossen denunziert und so dem Gulag ausgeliefert.
Chruschtschow hatte nur die engsten Vertrauten in seinen Plan eingeweiht und setzte bewusst auf eine Schocktherapie für die Delegierten. Erst nach längeren Diskussionen konnte er im Politbüro durchsetzen, dass die schon länger vorliegenden Ergebnisse einer Untersuchung der Stalinschen Verbrechen den Delegierten dargestellt werden durften. Nach seiner Auffassung war nur durch Abwendung vom Personenkult um Stalin eine politische und soziale Weiterentwicklung des Landes möglich.
Verlauf des Parteitags
Gemäß seinem Plan eröffnete Chruschtschow den Parteitag mit einer Rede, die Stalins Verdienste für die Sowjetunion hervorhob und die Kontinuität der jetzigen Politik mit seinen Zielen betonte. Am 18. Februar ließ er seinen Agrarminister in einer kritischen Rede über Stalins Personenkult die Stimmung der Delegierten testen. Diese reagierten erwartungsgemäß negativ auf die moderate und formale Kritik, ahnten nun aber, dass eine Kursänderung im Politbüro geplant sein musste.
Am 25. Februar, dem Tag vor dem Abschluss des Parteitags, ab 10:00 Uhr vormittags hielt Chruschtschow dann seine lange vorbereitete Geheimrede hinter verschlossenen Türen. Alle Journalisten und Gäste, die nicht der Partei angehörten, waren ausgeschlossen und alle Aufzeichnungen – auch die sonst üblichen Tonbandaufnahmen – streng verboten. Er belehrte die Parteimitglieder darüber, dass Stalin mit seinem ideologischen Kurs schwere „Irrtümer“ begangen habe. Er berichtete ihnen über die Massenmorde der 1930er Jahre an Kommunisten der ersten Generation, die die Oktoberrevolution mitgetragen hatten. Er kündigte an, eine Liste stalinscher Verbrechen zu veröffentlichen, die bisher von der Sowjetunion geleugnet worden waren. Von den Arbeitslagern und den weitaus größeren Massenmorden im Verlauf der Zwangskollektivierung an russischen Bauern und orthodoxen Priestern schwieg er jedoch ebenso wie von Verbrechen der Roten Armee während des Zweiten Weltkriegs und danach. Er legte besonderen Wert darauf, dass die Kritik allein auf Stalin und nicht auf das sowjetische System bezogen würde.
Zuhörer berichteten nach 1989, das Publikum habe die Rede in völligem Schweigen und mit lähmendem Entsetzen aufgenommen. Niemand habe gewagt, seinen Nachbarn anzublicken. Es habe keine Aussprache gegeben. Jede mündliche oder schriftliche Weitergabe des Gehörten wurde den Delegierten untersagt.
Veröffentlichung
Am 5. März entschied Chruschtschow, da die Rede allmählich durchsickerte, ihre wesentlichen Inhalte schriftlich allen sowjetischen Parteimitgliedern zugänglich zu machen. 18 Millionen Sowjetbürger erfuhren erstmals, dass ihr Idol ein Massenmörder gewesen war. Dies löste bei vielen einen tiefen Schock und auch Misstrauen gegen Chruschtschow aus. Dieser hatte sogar mit einem Putsch zu seiner Absetzung gerechnet.
Die westlichen Regierungen hatten nur vage Gerüchte über die Geheimrede gehört und bemühten sich über ihre Geheimdienste intensiv, den vollen Wortlaut zu erhalten. Dazu wurden Gerüchte über eine Belohnung von einer Million Dollar ausgestreut. Der polnische Journalist Wiktor Grajewski, der mit einer der Sekretärinnen von Edward Ochab (dem Parteichef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR)) befreundet war, erhielt von ihr das Originalmanuskript für einige Stunden und leitete eine unvollständige Kopie davon der israelischen Botschaft in Warschau zu. Der Mossad gab die Information an die CIA weiter. Nachdem diese den Redetext geprüft und als authentisch erkannt hatte, gab sie den Erhalt als ihren eigenen Erfolg aus und zahlte keine Belohnung aus. Nur der Mossad dankte Grajewski 30 Jahre später mit einer Urkunde.
Im damaligen Stadium des Kalten Krieges versuchte die US-Regierung dann, aus ihrer Kenntnis möglichst große Vorteile zu ziehen. Man beriet, ob man den erhaltenen Text ganz oder nur teilweise mit bewusst manipulativen Auszügen veröffentlichen solle, um die osteuropäischen Kommunisten zu verunsichern und die sowjetische Führung zu destabilisieren. US-Präsident Dwight D. Eisenhower entschied sich für eine volle Bekanntgabe. Diese erfolgte zuerst in der New York Times, dann von westlichen Sendern aus auch in den Ostblock, darunter dem Sender Freies Berlin, am 21. Juni 1956. Obwohl der komplette Text erst 1989 veröffentlicht wurde, hatte die Bekanntmachung 1956 gravierende Folgen, vor allem für Polen und Ungarn.
Wirkungen
Die von Chruschtschow selbst veröffentlichten Redeinhalte leiteten in der Sowjetunion zunächst eine Teilamnestie für unter Stalin als Zwangsarbeiter inhaftierte ehemalige KPdSU-Mitglieder ein. Sie wurden entlassen mit der strengen Auflage des KGB, nichts über ihre Erlebnisse zu berichten. Viele von den traumatisierten Häftlingen der Gulags, die sich vergeblich eine neue Zuwendung und Offenheit erhofft hatten, erhielten keine staatliche Unterstützung und fanden nicht ins gesellschaftliche Leben zurück. Vielen Parteikommunisten wiederum galt der 20. Parteitag als Beginn eines Revisionismus, also einer Abkehr von den Grundprinzipien des Marxismus-Leninismus und damit als Beginn des allmählichen Zerfalls des Realsozialismus.
In den Ostblockstaaten kam es nach der Bekanntmachung der Rede durch westliche Radiosender zunächst zur sogenannten Tauwetter-Periode. Die Reformflügel der Kommunistischen Ostblockparteien sahen sich ermutigt, ihre Vorstellungen offener zu vertreten.
In der DDR distanzierte sich auch Walter Ulbricht nach seiner Rückkehr aus Moskau im März 1956 von Stalin. Im Neuen Deutschland erklärte er: „Zu den Klassikern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen.“[1] Er betonte nun, die SED brauche keine Entstalinisierung, da ihre Mitglieder ohnehin keine Stalinisten seien. Obwohl Ulbricht in der DDR und in Moskau unbeliebt war, stützte Chruschtschow ihn weiter, da er bei einer Destabilisierung der Parteiführung einen erneuten Volksaufstand wie den vom 17. Juni 1953 fürchtete. Trotzdem diskutierte man in der SED intern über die Bedeutung der Rede für ihren Kurs. Für jüngere Parteimitglieder wie Gustav Just, die nach 1945 durch die stalinistische Form der Entnazifizierung Kommunisten geworden waren, bedeutete dies eine erneute Identitätskrise: Nach Hitler sei ein weiterer „falscher Götze“ entthront worden. Weitergehende Reformbewegungen, wie die der Gruppe Harich, wurden zerschlagen, die Beteiligten zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt.
In Polen kam es nach dem Tod von Parteichef Boleslaw Bierut am 12. März 1956 zu einer offenen Diskussion über Stalins Verbrechen: auch über die, die Chruschtschow ausgespart hatte, z.B. das Massaker von Katyn, das für die Polen ein nationales Trauma war. Eben daran war Chruschtschow mitschuldig gewesen. Die Stimmung der Bevölkerung war zudem aufgeheizt, weil ständige verordnete Preiserhöhungen mit Lohnkürzungen einher gingen. So streikten Ende Juli die Arbeiter im Eisenbahnwerk Poznan und sammelten sich zu Hunderttausenden auf dem Stalinplatz, skandierten „Nieder mit den Russen! Freiheit und Brot!“ und marschierten dann zum Gebäude der polnischen Überwachungsbehörde. Dort warfen einige Molotowcocktails auf das Gebäude und versuchten, es in Brand zu setzen. Daraufhin ließ die Warschauer Regierung Panzer auffahren und die Revolte niederschlagen: Es gab um die 90 Tote und 900 Verletzte. Als Rädelsführer angesehene Beteiligte wurden danach in Schauprozessen verurteilt. Dadurch wuchs die antisowjetische Stimmung in der Bevölkerung enorm.
Im Oktober wurde Władysław Gomułka nach vier Jahren stalinistischer Haft entlassen und zum neuen Parteichef ernannt. Er galt den Polen, auch vielen polnischen Kommunisten, als Hoffnungsträger für Reformen und mehr Unabhängigkeit von Moskau. Als Chruschtschow von seiner Ernennung erfuhr, flog er unangemeldet nach Warschau und drohte der Parteiführung dort mit einem Einmarsch der russischen Armee. Im Gegenzug drohte Gomulka darauf mit einer Volksbewaffnung: Polen werde kämpfen, Armee und Volk würden gegen eine sowjetische Besetzung zusammenstehen. Daraufhin lenkte Chruschtschow ein, um kein Blutbad zu riskieren, und befahl den russischen Panzern den Rückzug von der polnischen Grenze. Gomulka versprach ihm dafür Bündnistreue, verkündete aber nach Chruschtschows Abflug am 21. Oktober vor einer Million Polen seinen Verhandlungserfolg und Polens Souveränität. Auch im Warschauer Pakt setzte er seinen Unabhängigkeitskurs durch und gewann damit noch an Popularität hinzu.
Am 23. Oktober sammelten sich in Budapest zehntausende Studenten, die von dem polnischen Triumph gehört hatten, am Stalindenkmal, stürzten dieses um und zerschlugen es. Damit brach sich anders als in Polen ein Hass auf die eigene kommunistische Regierung Bahn. Ungarn hatte lange unter einem stalinistischen Regime gelitten. Dieses forderte nun sowjetische Hilfe an. Am 24. Oktober erreichten die russischen Panzer Budapest, konnten die Situation aber nicht beruhigen. Der Reformkommunist Imre Nagy, der die Sympathien der Bevölkerung genoss, erreichte jedoch am 30. Oktober den Abzug der Panzer. Bei den Siegesfeiern kam es zu Ausschreitungen gegen die ungarischen Stasimitglieder, zu Menschenjagd und Lynchjustiz. Nachdem Nagy den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt verkündete, ließ Chruschtschow die Rote Armee am 4. November erneut einmarschieren, um ein Auseinanderbrechen des Ostblocks zu verhindern. Bis zum 15. November dauerten die Kämpfe, bei denen 5000 Menschen ihr Leben verloren (siehe Ungarischer Volksaufstand).
Mit der Verhaftung von 60.000 Ungarn, der Deportation der gesamten ungarischen Regierung, geheimen Schauprozessen und Todesurteilen gegen Nagy u.a. kehrte Chruschtschow zu den stalinistischen Herrschaftsmethoden zurück. Damit war sein Entstalinisierungsversuch praktisch beendet. Die Glaubwürdigkeit der KPdSU sollte sich nie mehr von diesem Rückschlag erholen.
Siehe auch
Literatur
- Bund-Verlag (Hrsg.): Chruschtschow rechnet mit Stalin ab: Wortlaut der Rede von Chruschtschow auf der Geheimsitzung des XX. Moskauer Parteitages am 25. Februar 1956. Bund-Verlag, Frankfurt a. M. o.J. (1956)
- Jan Foitzik: Die parteiinterne Behandlung der Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU durch die SED, die PVAP und die KPTsch. In: Inge Kircheisen (Hrsg.), Tauwetter ohne Frühling. Das Jahr 1956 im Spiegel blockinterner Wandlungen und internationaler Krisen, Berlin 1995, S. 60-83
Weblinks
- Kompletter Text der Geheimrede Chruschtschows
- weitere Folgen des Parteitages
- Radiobeitrag des Deutschlandfunks zur Geheimrede
Einzelbelege
- ↑ Schroeder, Klaus, Der SED-Staat - Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 133
Wikimedia Foundation.