Kirsten Heisig

Kirsten Heisig

Kirsten Heisig, geborene Ackermann, (* 24. August 1961 in Krefeld; † 28. Juni 2010[1] in Berlin) war eine deutsche Juristin.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Wirken

Kirsten Ackermann lebte bis 1969 in Krefeld und anschließend, infolge der Trennung ihrer Eltern, bei einer ihrer Großmütter im Berliner Bezirk Wedding. Später zog sie wieder nach Krefeld und besuchte das Gymnasium Thomaeum im benachbarten Kempen, wo sie 1981 die Hochschulreife erwarb.[2] Anschließend ging sie wieder nach Berlin und studierte an der Freien Universität Rechtswissenschaften.

Nach dem Zweiten Staatsexamen trat sie 1990 in den Berliner Justizdienst ein. Anfänglich war sie als Staatsanwältin für den Bereich Betäubungsmittelkriminalität tätig. Seit 1992 war sie als Richterin eingesetzt, zunächst für allgemeine Strafsachen, ein Jahr später für Jugendstraftaten.[3] Sie arbeitete zunächst in den Bezirken Pankow und Friedrichshain-Kreuzberg. Seit 2008 war sie als Jugendrichterin am Amtsgericht Tiergarten für den Bezirk Neukölln (ca. 310.000 Einwohner) zuständig, in dem als Sozialer Brennpunkt die Rollbergsiedlung liegt. Um der hohen Kriminalitätsrate in diesem Bezirk zu begegnen, wo rund 40 Prozent mehr Straftaten begangen werden als im Berliner Durchschnitt, initiierte sie mit einem Kollegen das Neuköllner Modell, das nach einer Probephase am 1. Juni 2010 in ganz Berlin eingeführt wurde.[4]

Kirsten Heisig war mit dem Oberstaatsanwalt Stefan Heisig verheiratet, lebte zuletzt getrennt von ihm[5] und hat zwei Töchter.

Neuköllner Modell

Kirsten Heisig wurde bundesweit bekannt als Haupt-Initiatorin des „Neuköllner Modells zur besseren und schnelleren Verfolgung von jugendlichen Straftätern“ (benannt nach ihrem Amtsbezirk Berlin-Neukölln). Dies setzt vor allem auf vereinfachte Jugendstrafverfahren, in denen sich junge Täter bei kleineren Delikten möglichst schnell nach der Tat vor Gericht verantworten müssen. Es sind Delikte, für deren Ahndung maximal ein Arrest von vier Wochen in Betracht kommt. Die Gerichtsverhandlung soll spätestens innerhalb von drei bis fünf Wochen nach der Tat stattfinden.[5] Die Schnelligkeit des Verfahrens soll in erster Linie eine erzieherische Wirkung erzielen.[6] Eine wichtige Voraussetzung dafür ist eine enge Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht.[5] Außerdem werden Täter-Opfer-Gespräche oder gemeinnützige Arbeit angeordnet. Das Konzept wurde beispielgebend für die Rechtsprechung in Berlin und gilt seit Juni 2010 für die ganze Stadt.[7]

Heisig versuchte einen Ansatz von Elternarbeit derart, dass sie etwa Eltern, insbesondere Väter arabischer Schüler, zu Vorträgen und Besprechungen einlud. Es erschienen in der Regel die Funktionäre der Migranten-Gemeinden, Journalisten und Sozialpädagogen.

Im Februar 2009 hatte Spiegel Online recherchiert und berichtet, Kritik an Heisig sei erstaunlich selten. Safter Cinar vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg beanstandete, dass Heisig stark die kulturelle Herkunft der Straftäter thematisiere, nicht die Bildungsferne und die soziale Problematik. Cinar: „Wir hoffen, dass sie in der Rechtsprechung objektiver ist.“ Und manche Beobachter empfänden ihre Verhandlungsführung als zu persönlich. Gegenüber Angeklagten, auch gegenüber Zeugen, wirke Kirsten Heisig oftmals eher wie eine strenge Mutter, nicht wie eine Richterin.[8]

Rezeption

Heisigs Ansichten und Vorschläge, die aufgrund ihres vier Wochen nach ihrem Tod erschienenen Erfolgsbuchs Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter in allen Medien diskutiert wurden, waren schon vorab durch Zeitschriftenartikel und Interviews in Presse und TV bekannt. Nach den anfänglich zahlreichen positiven Reaktionen auf das Buch erschienen auch einige kritische Beiträge.

Schon vor dem Erscheinen des Buchs, aufgrund eines Vorabdrucks im Spiegel,[9] erschien in der Tageszeitung Neues Deutschland ein Artikel von Tobias Riegel, in dem dieser Heisig vorwirft, sie zeichne ein „düsteres Bild“, plädiere für „rassische Kriterien“, versperre den Weg für Lösungen; ihre Schrift helfe, so das Fazit, „ebenso wenig weiter, wie die eitlen Rassistenmonologe eines Thilo Sarrazin“.[10]

Christian Pfeiffer, ehemaliger SPD-Justizminister von Niedersachsen und derzeit Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, zollt Heisig zwar für ihre Praxis „großen Respekt“, meint aber, sie sei in der Kriminologie nicht hinreichend bewandert und komme deshalb zu Fehleinschätzungen und unangemessenen kriminalpolitischen Forderungen. Ihre Thesen einer „schleichenden Brutalisierung“, die „primär den Migranten“ zuzurechnen sei, weist Pfeiffer zurück, ebenso ihre Empfehlung, in gravierenden Fällen kriminelle Kinder zeitweilig in geschlossenen Heimen unterzubringen. Pfeiffer bekennt sich abschließend zu der Einstellung des Kriminologen Wolfgang Heinz: „Frühzeitige und einschneidende Eingriffe sind … gefährlich. Eine ‚Strategie des Zuwartens‘ zeitigt bessere Ergebnisse. Milde zahlt sich aus.“ Heisigs Buchtitel Das Ende der Geduld, resümiert Pfeiffer, sei genau die „falsche Botschaft“.[11]

Dieser These widerspricht Werner Sohn von der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden in einer mit Daten und Statistiken unterlegten Kritik der Position Pfeiffers. Sohn weist außerdem darauf hin, dass Heinz' Empfehlung des „Zuwartens“ aus dem Jahre 1989 stammt und somit auf noch weiter zurück liegenden Forschungsergebnissen beruht. Die Art von Jugendkriminalität, etwa die Gruppe der Intensivtäter, mit der wir es heute zu tun haben, habe es damals gar nicht gegeben. Wer heute noch Milde und Zuwarten auch ihnen gegenüber fordere, empfehle „als Problemlösung, was das Problem erst zugespitzt hat.“[12]

Ein halbes Jahr nach Einführung des Neuköllner Modells für alle Bezirke Berlins recherchierten die Zeit-Redakteure Christian Denso und Heinrich Wefing vor Ort und kamen zu dem Schluss: „Langsam, so scheint es, fällt das System zurück in den alten Trott. Die Antreiberin ist tot.“ Sie zitieren den Neuköllner SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky: „Mein Eindruck ist: Business as usual hat wieder das Zepter übernommen.“[13] In Bayern setzt man indes Heisigs Ideen tatkräftig um. Nach einer Probephase in Bamberg wurde ab 1. April 2011 das beschleunigte Jugendstrafverfahren „auf die Staatsanwaltschaften Ansbach, Ingolstadt, München II und Würzburg ausgeweitet.“[14]

Todesumstände

Die Umstände des Todes von Kirsten Heisig erregten besonderes öffentliches Interesse. Heisig erschien am Montag, den 28. Juni 2010, nicht zum Dienst. Am Mittwoch darauf begann nach einer Vermisstenmeldung die polizeiliche Suche nach ihr. Die Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue und Polizeisprecher erklärten, es gebe keine Anzeichen für eine Entführung oder sonstige Straftat.[15] Heisigs Leiche wurde am Sonnabend, den 3. Juli, im Tegeler Forst bei Berlin-Heiligensee an einem Baum erhängt aufgefunden.[16][17] Bereits zweieinhalb Stunden nach dem Fund der Leiche gab die Justizsenatorin – „um den Spekulationen ein Ende zu bereiten“ – bekannt, Kirsten Heisig habe „offensichtlich Suizid“ begangen.[18] Dies wurde in den nächsten Tagen durch die Staatsanwaltschaft, weitere amtliche Stellen und die Ergebnisse der Obduktion bestätigt.[19] Näheres über die Todesumstände wurde nicht bekanntgegeben. Die restriktive Informationspolitik der Staatsanwaltschaft wurde in zahlreichen Internet-Foren immer wieder moniert, in den Leitmedien hingegen nur in einer Ausnahme: in der Neuen Zürcher Zeitung, wo es hieß, dass die bisher veröffentlichten „Umstände so fragwürdig sind, dass sich der Verdacht eines vertuschten Mordes nicht aus der Öffentlichkeit entfernen lässt.”[20]

Der Journalist Gerhard Wisnewski erstritt schließlich vor dem letztinstanzlichen Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Aufhebung der strikten Nachrichtensperre[21] der Staatsanwaltschaft zum 15. November 2010. Der Generalstaatsanwalt wurde verpflichtet, „dem Antragsteller Auskunft zu erteilen über die Todesursache und den Todeszeitpunkt von Frau Heisig, den Fundort und die Auffindesituation der Leiche, darüber, welche Fakten eine Fremdverursachung des Todes ausschließen und welche objektiven Anhaltspunkte für ein planvolles Vorgehen von Frau Heisig in Bezug auf ihren eigenen Tod sprechen.“[22][23] Die Berliner Staatsanwaltschaft verfasste daraufhin einen vierseitigen Bericht, den sie am 18. November 2010 nicht nur, wie angewiesen, dem Antragsteller, sondern auch – „aus Gründen der Gleichbehandlung“ – der Presse generell zur Verfügung stellte. Er enthält Details zur unmittelbaren Vorgeschichte sowie zur Auffindesituation und bestätigt den Suizid.[24][25]

Nachrufe

Ehrungen

Schriften

  • Praktischer Einblick in die Berliner Jugendgewaltkriminalität. Lösungsansätze auf dem Boden bereits geltenden Rechts am Beispiel des Risikobezirks Neukölln-Nord. In: Der Kriminalist 40, 2008. ISSN 0722-3501 (gekürzter Wiederabdruck in der Berliner Morgenpost)
  • Das Ende der Geduld: Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter. Herder, Freiburg 2010. ISBN 978-3-451-30204-6.

Literatur

  • Christian Pfeiffer: Nicht alle Buben sind böse. In: Cicero, Heft 9/2010; Wiederabdruck als: Nicht alle Buben sind böse. Warum sich Kirsten Heisig in ihren Thesen zur Jugendgewalt irrte in der Berliner Lehrerzeitung (Hrsg. GEW) vom November 2010
  • Werner Sohn: Kirsten Heisigs „falsche Botschaft“. In: Die Polizei. Fachzeitschrift für die öffentliche Sicherheit, Heft 2/2011, S. 57-61 (Replik auf Pfeiffer)

Dokumentation

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Die Traueranzeige der Familie im Tagesspiegel nennt als Todestag den 3. Juli 2010 (Fundtag der Leiche). Der tatsächliche Zeitpunkt des Todes konnte nicht mehr festgestellt werden. Der Obduktionsbericht nennt eine „Leichenliegezeit von einigen Tagen“ (lt. Auskunftsbericht der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 19. November 2010, Az: Gen AR 82/10). Auf dem Grabstein ist der 28. Juni 2010 als Todestag angegeben.
  2. Abiturienten des Jahrgangs 1981 am Kempener Gymnasium Thomaeum.
  3. Jennifer Wilton: Warum sich Kirstin Heisig nicht frustrieren lässt. In: Berliner Morgenpost vom 22. Februar 2009.
  4. Jugendliche Straftäter kommen schneller vor Gericht. In: Berliner Morgenpost vom 4. Juni 2009.
  5. a b c Jutta Schütz: Obduktion bestätigt Suizid der Berliner Richterin. In: dpa/Die Welt, 4. Juli 2010.
  6. Werner van Bebber, Sandra Dassler: Von unnachgiebiger Freundlichkeit. In: Tagesspiegel, 4. Juli 2010.
  7. Neuköllner Modell – schnelle Strafen für junge Täter. In: dpa/Die Welt vom 6. April 2010.
  8. Mirko Heinemann: Jugendrichterin in Berlin Neukölln: Nur bisschen Faust hin, Faust her. In: Der Spiegel, 3. Februar 2009, abgerufen am 28. April 2011.
  9. Kirsten Heisig: Angst ist ein schlechter Ratgeber. In: Der Spiegel, 19. Juli 2010.
  10. Tobias Riegel: Das Ende der Reflexion. In: Neues Deutschland, 21. Juli 2010.
  11. Christian Pfeiffer: Nicht alle Buben sind so böse. In: Cicero, Nr. 9/2010, abgerufen am 28. April 2011.
  12. Werner Sohn: Kirsten Heisigs „falsche Botschaft“. In: Die Polizei. Fachzeitschrift für die öffentliche Sicherheit, Heft 2/2011, S. 57–61.
  13. Christian Denso und Heinrich Wefing: Das Ende der Ungeduld. In: Die Zeit, 22. Dezember 2010).
  14. dpa-Meldung: Merk will raschere Strafen fürJugendliche. In: Süddeutsche Zeitung, 1. April 2011.
  15. Neuköllner Jugendrichterin verschwunden. In: Focus vom 1. Juli 2010.
  16. Hier fanden sie die tote Richterin. In: Berliner Kurier vom 3. Juli 2010.
  17. Berliner Richterin Kirsten Heisig tot aufgefunden. In: dpa/Die Welt vom 3. Juli 2010.
  18. Ein sehr befremdlicher Selbstmord. In: EMMA vom 7. Juli 2010.
  19. Jugendrichterin begeht Selbstmord. In: Frankfurter Rundschau vom 4. Juli 2010, abgerufen am 28. April 2011.
  20. Joachim Güntner: Erbe einer Richterin. In: Neue Zürcher Zeitung, 15. Sept. 2010.
  21. Zu dieser außergewöhnlichen Maßnahme vgl. Der Fall kann Presserechtsgeschichte schreiben. In: Legal Tribune Online, 19. November 2010.
  22. Pressemitteilung des OVG Berlin-Brandenburg 28/10.
  23. Meldung auf Berlin.de vom 16. November 2010.
  24. Berliner Jugendrichterin Heisig hat sich selbst erhängt. In: Welt Online vom 19. November 2010.
  25. Jugendrichterin Heisig hat sich erhängt. In: Rheinische Post, 19. November 2010.

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