Marga Spiegel

Marga Spiegel
Marga Spiegel im November 2009

Marga Spiegel (* 21. Juni 1912 in Oberaula als Marga Rothschild) ist eine deutsche Überlebende des Holocaust. Die Jüdin tauchte mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter von 1943 bis 1945 bei katholischen Bauern im Münsterland unter und entging so der drohenden Deportation. Über diese Zeit veröffentlichte Spiegel unter anderem 1969 ein Buch, das 2009 verfilmt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Kindheit und Ausbildung

Marga Spiegel wurde als Tochter von Siegmund Rothschild (1882–1938) und dessen Ehefrau Cilly (1888–1937; Geburtsname: Rosenstock) geboren und entstammte einer Landjudenfamilie aus Nordhessen.[1] Ihre Kindheit verbrachte sie mit ihren Eltern und ihrer neun Jahre jüngeren Schwester Johanna in dem hessischen Dorf Oberaula, wo ihre Großeltern eine Färberei besaßen und sie die Schule besuchte. Von 1920 bis 1922 ging Marga Rothschild in die Privatschule von Adele Dippel in Oberaula und wechselte 1924 auf ein Lyzeum in Hersfeld.

Im Jahr der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, legte Rothschild auf einem Gymnasium in Frankfurt am Main ihr Abitur ab. Danach plante sie ein Physik- und Mathematikstudium an der Universität von Marburg zu beginnen. Sie ließ sich laut eigenen Angaben als Kind eines jüdischen Kriegsteilnehmers immatrikulieren, musste aber aufgrund ihrer jüdischen Herkunft das begonnene Studium bereits nach dem zweiten Semester abbrechen.[2] Ihre Familie war zunehmend antisemitischen Diskriminierungen ausgesetzt. Anfang der 1930er Jahre zählte Oberaula circa 1200 Einwohner, darunter 21 jüdische Familien.[3] 1936 wurde sie auf Basis eines erfundenen Vorwurfs eines Oberaulaner Mitbürgers verhaftet und mehrere Tage im Gefängnis inhaftiert.[1]

Familiengründung und antisemitische Verfolgung

Im Januar heiratete Rothschild den 13 Jahre älteren Pferdehändler Siegmund Spiegel, dessen Namen sie annahm, und zog zu ihm nach Ahlen. Die jüdische Familie von Siegmund Spiegel gehörte dem mittleren und gehobenen Bürgertum an und war seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Ahlen heimisch.[4] 1938 wurde die gemeinsame Tochter Karin geboren. Auch in Ahlen war Marga Spiegels Familie Diskriminierungen ausgesetzt; so wurde laut eigenem Bekunden der Kinderwagen ihrer Tochter mit Steinen beworfen.[5] Zwei Schwestern ihres Ehemannes emigrierten in dieser Zeit in die USA. 1937 verstarb Spiegels Mutter an einer Herzerkrankung, während der Vater, in der Vergangenheit mehrfach in „Schutzhaft“ genommen, zur Tochter nach Ahlen zog. Im Juni 1938 wurde Spiegels Vater verhaftet und in das KZ Sachsenhausen deportiert, nachdem er sich um eine Bürgschaft für eine Ausreise aus Deutschland bemüht hatte. Er starb einen Monat später im Konzentrationslager.

Bei den Novemberpogromen wurden die Spiegels in ihrer Wohnung von fünf Ahlener SA-Männern überfallen und misshandelt. 1940 floh Marga Spiegel mit ihrer Familie nach Dortmund, wo diese mit mehreren anderen jüdischen Familien in einem Judenhaus und später in eine Baracke nach Ahlen umzogen. Im Oktober 1941 wurde ihre verheiratete Schwester Johanna nach Auschwitz deportiert, wo sie ums Leben kam. Spiegels Ehemann hatte währenddessen eine Stelle bei der Dortmunder Firma Sommer bekommen, die Zechentürme entrostete.[1] Er nutzte seine alten Kontakte als Pferdehändler und lieh sich bei einem befreundeten Bauern ein Fahrrad. Damit fuhr er nahe gelegene Höfe ab und organisierte zusätzliche Lebensmittel für seine Familie. Von einem ansässigen Bauern soll Spiegels Ehemann von Massakern an Juden in Polen erfahren haben, woraufhin er sich um Zusagen für Versteckmöglichkeiten bemühte.[5]

Zeit im Untergrund und Veröffentlichung ihrer Überlebensgeschichte

Im Februar erhielt Spiegels Ehemann eine Einberufung zur Kontrolle seiner Arbeitspapiere, woraufhin die Familie eine Deportation befürchtete. Die Spiegels flüchteten daraufhin zu katholischen Bauern ins südliche Münsterland, wo die Eheleute getrennt voneinander Unterschlupf erhielten. Marga Spiegel und ihre Tochter verbrachten mehrere Monate als Dortmunder Ausgebombte „Margarete“ und „Karin Krone“ in verschiedenen Verstecken. Gelegentlich kam es zu gemeinsamen Treffen der Familie. Im Oktober 1944 fuhr Spiegel nach Münster und beschaffte sich dort, gegen den Willen ihres Ehemanns, falsche Papiere. 27 Monate lang gelang es den Bauern, die jüdische Familie vor der Deportation zu bewahren, ehe im April 1945 die Alliierten das Münsterland erreichten.

Nach Ende des Krieges kehrte Marga Spiegel mit ihrer Familie nach Ahlen zurück. Sie waren die einzigen aus den Großfamilien Rothschild und Spiegel, die den Holocaust überlebt hatten. Keiner von ihren 37 Verwandten war der Deportation entkommen. Insgesamt überlebten 550 bis 600 westfälische Juden den Holocaust, nachdem 1933 noch 18.819 „Glaubensjuden“ gezählt worden waren.[6] Siegmund Spiegel, der eine Emigration ins Ausland ablehnte,[5] baute einen neuen Pferdehandel auf, und es wurde ein weiterer Sohn, Daniel, geboren. Beide Kinder übersiedelten später in die Vereinigten Staaten. Spiegels Tochter ist mittlerweile verstorben.[5]

Im September 1945 wurde Strafanzeige gegen die sechs Hauptbeteiligten der Ahlener Novemberpogrome gestellt. Nach mehreren Verhandlungen wurden jedoch die ehemaligen Angehörigen der Ahlener SA im Oktober 1949 freigesprochen und nur einer wegen einfachen Landfriedensbruches zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, gegen die erfolgreich Revision eingelegt wurde.[7] 1964/65 zeichnete Spiegel ihre Erinnerungen an das Untertauchen auf, die erstmals zwischen Januar und Mai 1965 in 17 Folgen in der münsterischen Bistumszeitung Kirche und Leben veröffentlicht wurde. 1969 erschien ihr „Tatsachenbericht“ unter dem Titel Retter in der Nacht in Buchform und gilt heute als wichtige Quelle für die Geschichte der westfälischen Juden zur Zeit des Holocaust.[8] Im selben Jahr wurden die Bauernfamilien, die die Spiegels versteckten, durch den israelischen Botschafter in Deutschland, Asher Ben-Natan, als Gerechte unter den Völkern geehrt.[9]

Verfilmung und Ehrungen

Nach dem Tod ihres Ehemanns im Jahr 1982[10] zog die Tante des 2006 verstorbenen Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, nach Münster, wo sie noch heute lebt. Ihr Buch Retter in der Nacht wurde mehrfach aufgelegt und nachträglich um ihre Zeit in Oberaula und Hersfeld und Reflexionen über ihr Schicksal und den Holocaust ergänzt. 2009 wurde der autobiografische Roman von Ludi Boeken unter dem Titel „Unter Bauern – Retter in der Nacht“ mit Veronica Ferres und Armin Rohde in den Hauptrollen verfilmt. Der Spielfilm, der seine erfolgreiche Uraufführung Anfang August 2009 beim Filmfestival von Locarno feierte,[11] gelangte Anfang Oktober 2009 in die deutschen Kinos.

Gemeinsam mit unter anderem Jenny Aloni, Benno Elkan, Benno Jacob, Imo Moszkowicz und Jeanette Wolff ist Spiegel seit 2004 die Dauerausstellung Jüdische Lebenswege im Jüdischen Museum Westfalen gewidmet, in der das Judentum in Westfalen vom frühen Mittelalter bis in die heutigen Tage anhand von Biografien nachgezeichnet wird.[12] Seit 2005 ist sie Ehrenmitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.[13]

Für ihren „unermüdlichen Einsatz als Zeitzeugin“ erhielt Spiegel am 19. Juli 2010 das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.[13]

Literatur

  • Marga Spiegel: Retter in der Nacht. Wie eine jüdische Familie in einem münsterländischen Versteck überlebte. 7. Auflage, Lit Verlag, Münster u. a. 2009, ISBN 978-3-8258-3595-8
  • Marga Spiegel: Bauern als Retter. Wie eine jüdische Familie überlebte. Mit einem Vorwort von Veronica Ferres. 2. Auflage, Lit Verlag, 2009, ISBN 978-3-8258-0942-3

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c Porträt bei cinestar.de (abgerufen 4. Oktober 2009)
  2. Marga Spiegel: Geschichte und Leben der Juden in Westfalen 3. Lit Verlag, Münster u. a. 1999, ISBN 3-8258-3595-2, S. 61
  3. Marga Spiegel: Geschichte und Leben der Juden in Westfalen 3. Lit Verlag, Münster u. a. 1999, ISBN 3-8258-3595-2, S. 46
  4. Marga Spiegel: Geschichte und Leben der Juden in Westfalen 3. Lit Verlag, Münster u. a. 1999, ISBN 3-8258-3595-2, S. 36–37
  5. a b c d vgl. Interview bei wdr.de, 1. Oktober 2009 (aufgerufen am 4. Oktober 2009)
  6. Marga Spiegel: Geschichte und Leben der Juden in Westfalen 3. Lit Verlag, Münster u. a. 1999, ISBN 3-8258-3595-2, S. 4–5
  7. Marga Spiegel: Geschichte und Leben der Juden in Westfalen 3. Lit Verlag, Münster u. a. 1999, ISBN 3-8258-3595-2, S. 39
  8. Marga Spiegel: Geschichte und Leben der Juden in Westfalen 3. Lit Verlag, Münster u. a. 1999, ISBN 3-8258-3595-2, S. 10
  9. Marga Spiegel: Geschichte und Leben der Juden in Westfalen 3. Lit Verlag, Münster u. a. 1999, ISBN 3-8258-3595-2, S. 16
  10. Marga Spiegel: Geschichte und Leben der Juden in Westfalen 3. Lit Verlag, Münster u. a. 1999, ISBN 3-8258-3595-2, S. 204
  11. Peter Claus: Deutsches Kino glänzt am Lago Maggiore. In: Die Welt, 10. August 2009, S. 25
  12. „Jüdische Lebenswege“ zeichnen 1000 Jahre Geschichte nach. In: Saarbrücker Zeitung, 9. Januar 2004 (abgerufen 4. Oktober via Wiso praxis)
  13. a b vgl. ddp Basisdienst: Autorin Marga Spiegel mit Bundesverdienstkreuz geehrt. 19. Juli 2010, 4:32 PM GMT

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