Christian Wirth

Christian Wirth

Christian Wirth (* 24. November 1885 in Oberbalzheim (Alb-Donau-Kreis); † 26. Mai 1944 bei Erpelle, heute Hrpelje in Slowenien) war ein Polizeibeamter, maßgeblich an der „Aktion T4“ beteiligt, erster Kommandant des Vernichtungslagers Belzec und Inspekteur der Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Der Sohn eines Küfermeisters erlernte nach dem Besuch der Volks- und Fortbildungsschule das Sägerhandwerk. Zwischen 1905 und 1910 war er beim Württembergischen Grenadier-Regiment 123, das er als Unteroffizier der Reserve verließ. Auf eigenen Wunsch nahm er ab September 1914 am Ersten Weltkrieg teil; noch im gleichen Jahr wurde er verwundet. Ab 1917 kam er in Stuttgart als Militärpolizist zum Einsatz. Wirth wurde mit dem Eisernen Kreuz 1. und 2. Klasse und der Goldenen Württembergischen Verdienstmedaille ausgezeichnet.

Schon 1910 hatte Wirth als Schutzmann beim Stadtpolizeiamt Heilbronn gearbeitet, wechselte aber bald nach Stuttgart und war dort als Fahnder der Kriminalpolizei tätig. Nach Kriegsende kehrte er im Juni 1919 zur Kriminalpolizei zurück und wurde kurze Zeit später zum Kriminalwachtmeister befördert. 1932 erreichte er die Position eines Kriminalinspektors. Wirth engagierte sich berufspolitisch im Landesverband der Polizeibeamten Württembergs, einer überparteilichen Polizeigewerkschaft.

Von 1922 bis zum Parteiverbot 1923 und dann erneut ab dem 1. Januar 1931 war Wirth Mitglied der NSDAP (Mitglieds-Nr. 420.383). Im Juni 1933 trat Wirth der SA bei; ab 7. Dezember 1937 war er ehrenamtlicher Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes. Im April 1939 wechselte er von der SA zur SS (Mitglieds-Nr. 345.464); im Oktober des Jahres wurde er zum SS-Obersturmführer befördert.

„Aktion T4“

Am 10. Januar 1940 wurde Christian Wirth vom Reichskriminalpolizeiamt zur NS-Tötungsanstalt Brandenburg der „Aktion T4“ beordert.[1] Noch im Januar war er in Brandenburg Teilnehmer einer „Probetötung“ von 18 bis 20 Geisteskranken. Vermutlich auf Veranlassung von Hitlers Leibarzt Karl Brandt wurde dem an der „Aktion T4“ maßgeblich beteiligten Personenkreis eine Massentötung durch CO-Gas und zu Vergleichszwecken auch Tötung mittels Injektionen vorgeführt.[2]

Wirth leitete in der Folgezeit die Büroabteilungen der Tötungsanstalten in Brandenburg, Grafeneck und ab Frühjahr 1940 in Hartheim. In dieser Funktion war er für die Sicherheit der Anstalten, die Sonderstandesämter, in denen Sterbeurkunden amtlich gefälscht wurden, das Personal und die Überwachung des Mordvorganges selber zuständig. Vermutlich Mitte 1940 wurde Wirth zum Inspekteur aller „Euthanasie“-Anstalten ernannt. Die Aufgaben dieses Inspekteurs beschrieb Viktor Brack später:

„Um das Personal auf einer möglichst moralischen Höhe zu halten hat Bouhler auf meinen Vorschlag hin einen Inspekteur eingesetzt der von Anstalt zu Anstalt fuhr. Dieser hat sich nicht nur um die Freizeitgestaltung des Anstaltspersonals bemüht, sondern gleichzeitig alle Beobachtungen gesammelt die Anlass zur Kritik gaben. Diese Dinge sind dann mit den Anstaltsleitern durchgesprochen worden um die Übelstände zu beheben. Weiterhin sind auf meine Veranlassung, als einige Unehrlichkeiten festgestellt wurden zwei Kriminalbeamte in verschiedenen Dienststellungen unter das Anstaltspersonal gemischt worden, die in kurzer Zeit unehrliche Elemente zur Anzeige bringen konnten […].“[3]

„Aktion Reinhardt“

Nach dem sogenannten Stopp der „Euthanasie“-Aktion am 24. August 1941 wechselte Wirth wie viele andere Mitarbeiter der „Aktion T4“ zur „Aktion Reinhardt“. Unter Leitung des SS- und Polizeiführers für Lublin, Odilo Globocnik, wurden Vernichtungslager errichtet, in denen etwa 1,7 bis 1,9 Millionen Juden ermordet wurden.

Anhand von Aussagen von Josef Oberhauser lässt sich Wirths Anwesenheit im Vernichtungslager Belzec für die Zeit um Weihnachten 1941 nachweisen. Wirth wurde der erste Kommandant des Vernichtungslagers Belzec, das seit November 1941 in Bau war und im März 1942 in „Betrieb“ ging: Hier wurden die Opfer in Gaskammern ermordet, in die Abgase eines Benzinmotors aus einem russischen Panzer geleitet wurden. Eine detaillierte Schilderung wurde durch den Bericht des SS-Offiziers Kurt Gerstein überliefert, dem Wirth am 18. August 1942 eine Massentötung von 700 bis 800 Menschen demonstrierte.[4]

Wahrscheinlich am 1. August 1942 wurde Wirth von Odilo Globocnik zum Inspekteur der Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ ernannt.[5] Wirth war damit der Vorgesetzte der Kommandanten der Vernichtungslager Belzec, Treblinka und Sobibor. In dieser Eigenschaft löste er den Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka, Irmfried Eberl, ab, nachdem es dort zu einem Zusammenbruch des „Tötungsbetriebs“ gekommen war, und ersetzte ihn durch den bisherigen Kommandanten von Sobibor, Franz Stangl. Wirth reorganisierte die Lager der „Aktion Reinhardt“ nach seinen in Belzec gemachten Erfahrungen, ordnete den Bau größerer Gaskammern an und setzte ihm bekannte „Fachleute“ aus der „Aktion T4“ in den Lagern zur Optimierung der Vernichtungsmaschinerie ein.

Ab Ende 1942/Anfang 1943 war Wirth für das Bekleidungswerk im sogenannten Flughafenlager in Lublin zuständig: Hier sortierten sogenannte „Arbeitsjuden“ die Kleidung, Wertsachen und sonstigen Hinterlassenschaften der Opfer, so dass sie dann anschließend von der SS weiterverwendet werden konnten. Am 15. Januar wurde Wirth zum Kriminalrat befördert. Im Schreiben des Reichsinnenministeriums hieß es, Wirth könne sich „des besonderen Schutzes des Führers sicher sein“.[6] Im August 1943 wurde er zudem in der SS unter Auslassung des Dienstgrades des Hauptsturmführers direkt zum Sturmbannführer befördert.

Im November 1943 beaufsichtigte Wirth wiederum in Lublin die „Aktion Erntefest“, die Tötung von etwa 42.000 jüdischen Zwangsarbeitern der dortigen Arbeitslager innerhalb von zwei Tagen.

Operationszone Adriatisches Küstenland

Vermutlich im September 1943 wurde Christian Wirth zusammen mit weiterem Personal der „Aktion Reinhardt“ nach Triest versetzt. Odilo Globocnik war zum Höheren SS- und Polizeiführer in der Operationszone Adriatisches Küstenland ernannt worden. Wirth wurde hier Befehlshaber der „Abteilung R“ (für Reinhardt), einer der Dienststelle Globocniks angegliederten Sonderabteilung.[7] In einem Vorort von Triest wurde das Konzentrationslager Risiera di San Sabba errichtet, in dem schätzungsweise 3.000 bis 5.000 Menschen getötet wurden. Für eine weitaus höhere Zahl insbesondere von Juden diente San Sabba als Sammellager für die Deportationen in die Vernichtungslager.

Die deutschen Besatzungstruppen wurden zunehmend in Kämpfe mit italienischen und jugoslawischen Partisanen verwickelt. Wirth war hierbei auch als Sicherungskommandant für die Straße von Triest nach Rijeka tätig. Am 26. Mai 1944 fand Christian Wirth bei einer Fahrt auf dieser Straße den Tod bei einem Überfall von Partisanen. Als Vergeltungsmaßnahme plünderten deutsche Truppen Beka und Ocizla (zwei Orte südwestlich von Hrpelje) und brannten sie anschließend nieder.[8] Sein Nachfolger in Triest wurde Dietrich Allers, der seit 1941 Geschäftsführer der „Aktion T4“ war.

Soldatenfriedhof Costermano

Nach dem Krieg wurde Wirth gemeinsam mit Franz Reichleitner, dem 2. Kommandanten des Vernichtungslagers Sobibor, und Gottfried Schwarz, dem Stellvertreter Wirths im Vernichtungslager Belzec, auf dem deutschen Soldatenfriedhof Costermano in der Provinz Verona bestattet. Aufgrund einer Weigerung des damaligen deutschen Generalkonsuls Manfred Steinkühler vor dem Volkstrauertag 1988, den etwa 22.000 dort begrabenen deutschen Soldaten die Ehre zu erweisen, wenn nicht die Gebeine der drei genannten SS-Leute aus dem Friedhof entfernt würden, wurden als Kompromiss die Namen der drei getöteten SS-Leute aus dem „Ehrenbuch“ des Friedhofs getilgt und ihre Dienstgrade auf den Grabsteinen entfernt.[9]

Charakter

Christian Wirth gilt als Beispiel für einen besonders brutalen und unbarmherzigen SS-Mann, der von seinen eigenen Leuten beinahe ebenso gefürchtet wurde wie von den Häftlingen. Hiervon zeugen die Beinamen, die ihm von seinen untergebenen SS- und Trawniki-Männern gegeben wurden: „Christian der Grausame“ und „Stuka“ für Sturzkampfflugzeug. Dieses Bild entstand vor allem aus den Nachkriegsaussagen seiner Untergebenen, die in ihren Gerichtsverfahren davon überzeugen wollten, dass sie sich in einem Befehlsnotstand befanden. Es ist aber z. B. ungeklärt, ob nicht Wirths eigene Leute den tödlichen Schuss in seinen Rücken abfeuerten.

Ohne Zweifel war Wirth ein gefürchteter Vorgesetzter: Dazu trug seine sehr direkte und häufig derbe, zudem von Dialektausdrücken durchsetzte Wortwahl bei. Gleichermaßen ging er bei der „Aktion T4“, der „Aktion Reinhardt“ wie auch in Triest gegen Unregelmäßigkeiten in den eigenen Reihen vor, insbesondere gegen die Unterschlagung der Wertgegenstände, die den Mordopfern abgenommenen worden waren.

Aufschlussreich sind die Aussagen des SS-Richters Konrad Morgen im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess:[10] Morgen schilderte Wirth als einen Mann, der ebenso stolz war auf seine Erfahrungen aus der „Aktion T4“ wie auch auf seinen Beitrag zur „Optimierung“ der Massenmorde der „Aktion Reinhardt“. Aus der Beschreibung der Rolle der „Arbeitsjuden“ – man müsse die Juden mit ihren eigenen Mitteln schlagen – wurde zudem der Antisemitismus von Wirth deutlich.

Literatur

  • Götz Aly (Hrsg.): Aktion T4 1939-1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Edition Hentrich, 2. erweiterte Auflage, Berlin 1989, ISBN 3-926175-66-4
  • Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-10-039303-1
  • Volker Rieß: Christian Wirth in: Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul (Hrsg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-16654-X, S. 239-251
  • Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Euthanasie im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940. Stuttgart, 2000. (online unter http://www.lpb.bwue.de/publikat/euthana/euthana.htm)

Weblinks

Fußnoten

  1. Volker Rieß, S. 242. Ob Wirth Ende 1939 bereits am Aufbau der NS-Tötungsanstalt Grafeneck beteiligt war, ist nicht belegt, aber auf Grund seiner Stuttgarter Tätigkeit gut möglich.
  2. Thomas Vormbaum (Hrsg): „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Dr. Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962. Berlin 2005, S. 153ff.
  3. Vernehmung Viktor Bracks vom 31. März 1947. In: Dörner, Klaus (Hrsg.): Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld. München, 1999. S. 8/01167. Zu kriminalpolizeilichen Ermittlungen in den Tötungsanstalten siehe auch: Annette Hinz-Wessels, Petra Fuchs, Gerrit Hohendorf und Maike Rotzoll: Zur bürokratischen Abwicklung eines Massenmords. Die „Euthanasie“-Aktion im Spiegel neuer Dokumente. in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1/2005, S.79-107.
  4. Gerstein-Bericht bei www.ns-archiv.de
  5. Die Zeitangabe beruht auf Aussagen von Josef Oberhauser. Erst für das Frühjahr 1943 liegen schriftliche Dokumente vor, die Wirths Rolle als „Der Inspekteur des SS-Sonderkommandos“ sicher belegen. Vgl. Volker Rieß, S. 245.
  6. Zitiert bei Volker Rieß, S. 243; hier auch die Beförderung in der SS.
  7. Michael Wedekind: Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik in Norditalien 1943 bis 1945. (= Militärgeschichtliche Studien, Band 38) München, R. Oldenbourg Verlag, 2003. ISBN 3-486-56650-4, Seiten 310 und 446.
  8. Michael Wedekind: Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik in Norditalien 1943 bis 1945. (= Militärgeschichtliche Studien, Band 38) München, R. Oldenbourg Verlag, 2003. ISBN 3-486-56650-4, Seiten 310, 448 und 454.
  9. Bericht über ein Treffen mit Manfred Steinkühler in FAZ 6 .Nov. 2010
  10.  : Protokoll der Aussagen Morgens. Morgen war Entlastungszeuge der Verteidigung in der Frage, ob es sich bei der SS um eine verbrecherische Organisation handele. Er verschwieg hier die SS-Mitgliedschaft Wirths.

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