Deutsch-Balten

Deutsch-Balten
Flagge der Deutsch-Balten

Die Deutsch-Balten, auch Baltendeutsche genannt, sind eine ursprünglich im Bereich des heutigen Estland und Lettland ansässige deutschsprachige Minderheit, die ab dem späten 12. Jahrhundert als eingewanderte Oberschicht großen Einfluss auf Kultur und Sprache der ortsständigen Letten und Esten hatte. Außerdem spielte der baltendeutsche Adel eine bedeutende Rolle in der Geschichte Russlands. Aus seinen Reihen kamen zahlreiche russische Minister, Politiker, Generäle und Admiräle. Im 19. Jahrhundert spielte die damals deutschsprachige baltische Universität Dorpat (heute Tartu) eine Rolle im deutschen Kulturleben.

Die Deutschbalten stellten den Adel und den Großteil des Bürgertums in den ursprünglichen baltischen Provinzen Kurland, Livland, Estland und Ösel (heute Saaremaa), kaum hingegen in Litauen. Heute sind nur noch sehr wenige Deutschsprachige in den baltischen Ländern ansässig.

Karte der russischen Ostseeprovinzen Ende des 19. Jahrhunderts

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Geschichte Estlands, Geschichte Lettlands, Deutscher Orden

Mittelalter

Das Baltikum im Jahr 1260

Die ersten Deutschen kamen ab dem Ende des 12. Jahrhunderts im Rahmen der Deutschen Ostsiedlung und der Eroberung des damals noch heidnischen Baltikums durch den Schwertbrüderorden ins Land. Der Schwertbrüderorden konnte das ganze Gebiet des heutigen Estland und Lettland (die späteren historischen Gebiete Kurland, Livland und Estland) unter seine Herrschaft bringen. Die meisten deutschen Siedler kamen aus den Gebieten des heutigen Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Westfalen. Im Unterschied zum weiter südlichen Preußen (dem späteren Ostpreußen), das durch den Deutschen Orden erobert wurde, kam es im Baltikum jedoch nicht zu einer flächenmäßig größeren deutschen Bauernansiedlung. Das deutsche Element im Land blieb auf das Bürgertum in den Städten, den Großgrundbesitz und die adelige/kirchliche Oberschicht des Landes beschränkt. Zahlenmäßig machten die Deutschsprachigen zu keiner Zeit mehr als 10 % der Bevölkerung aus. In den häufig von Deutschen gegründeten großen Städten, die sich oft der Hanse anschlossen (z. B. Riga, Reval/Tallinn, Dorpat/Tartu, Arensburg/Kuressaare, Libau/Liepāja, Mitau/Jelgava, Dünaburg/Daugavpils)) blieb das deutsche Bürgertum politisch und kulturell zum Teil bis weit ins 19. Jahrhundert hinein tonangebend. Gesellschaftlich stellte die deutschstämmige Ritterschaft die Oberschicht gegenüber der lange Zeit leibeigenen einheimischen Bauernschaft. Die durch die Ordensritter angestrebte Unterwerfung Litauens gelang nicht. Nach der schweren Niederlage des Schwertbrüderordens gegen die Litauer in der Schlacht von Schaulen 1236 kam es zur Vereinigung desselben mit dem Deutschen Orden (Livländischer Orden). Später vereinigte sich das Großfürstentum Litauen mit dem Königreich Polen in der Union von Krewo und die litauische Kultur geriet in den folgenden Jahrhunderten mehr und mehr unter polnischen Einfluss. Die ebenfalls vorhandenen deutschen Minderheiten in Litauen hatten daher eine andere Geschichte und werden im Allgemeinen nicht zu den Deutsch-Balten gezählt.

Frühe Neuzeit

Riga (Holzschnitt aus dem Jahr 1575)

Im Verlauf der Reformation nahmen die Deutsch-Balten und mit ihnen auch die estnische und lettische Bevölkerung ganz überwiegend den lutherischen Glauben an. Nach dem Zerfall der Reste des Deutschordensstaates im 16. Jahrhundert geriet das Baltikum zunächst unter die Herrschaft benachbarter Staaten (Polen-Litauen, Schweden, Dänemark). Die deutschbaltische Oberschicht konnte jedoch unter den verschiedenen Herrschern ihre Privilegien weitgehend bewahren. Nach dem Großen Nordischen Krieg 1721 kamen Estland und der größte Teil Livlands (Polnisch-Livland verblieb bei Polen) unter russische Herrschaft. Im Verlauf der Polnischen Teilungen 1772–95 kam dann auch Polnisch-Livland (und auch ganz Litauen) zu Russland. Die Deutsch-Balten konnten sich insgesamt mit der russischen Herrschaft gut arrangieren und die deutschbaltischen Ritterschaften behaupteten einen Großteil ihrer althergebrachten Rechte.

Neuzeit

NS-Propagandakarte aus dem Jahr 1939 zur Umsiedlung der Baltendeutschen
Baltenlager für Umsiedler in Posen (1940)

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es jedoch zu einer zunehmenden Russifizierung im Zarenreich (Russisch als Amtssprache im Baltikum und auch an der bisher deutschsprachigen Universität Tartu), außerdem kam es zu einem Erwachen des Nationalgefühls der Esten und Letten, das auch stark gegen die dominierende deutschbaltische Oberschicht gerichtet war. Es kam zu ersten Emigrationswellen der Deutsch-Balten nach Deutschland und diese fühlten sich zunehmend in eine Minderheitenposition gedrängt. Während der Zeit der deutschen Besetzung des Baltikums im Ersten Weltkrieg 1916–18 kamen deswegen auch Pläne auf, einen deutschbaltisch-dominierten Staat (Vereinigtes Baltisches Herzogtum) unter reichsdeutschem Schutz zu errichten. Auf ehemals deutschem Grundbesitz, den der deutschbaltische Adel abzutreten bereit war, sollte eine größere Zahl von deutschen Siedlern angesiedelt werden. Nach der Niederlage des Deutschen Reichs und der erfolgreichen Unabhängigkeitserklärung der neuen Nationalstaaten Estland und Lettland wurde den Deutsch-Balten dieses Verhalten während des Krieges als Landesverrat ausgelegt. In Landreformgesetzen wurde der deutschbaltische Großgrundbesitz in Estland und Lettland zu großen Teilen zugunsten der landlosen estnischen und lettischen Bauernschicht enteignet. Im Gegensatz zu anderen Staaten Ost(mittel-)europas, die nach dem Ersten Weltkrieg eine repressive Politik gegenüber ihren nationalen Minderheiten betrieben (Bsp. die Zweite Polnische Republik) gewährten die beiden baltischen Staaten jedoch ihren nationalen Minderheiten eine vorbildliche kulturelle Autonomie. Den Schlusstrich unter die mehr als 700 Jahre deutsch-baltischer Kultur setzte der Deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt 1939, der eine Umsiedlung der von den Ideologen des Nationalsozialismus als "rassisch wertvoll" betrachteten (bzgl. der vielen anderen in Ost- und Südosteuropa siedelnden "Volksdeutschen" waren die Meinungen hierzu geteilt) Deutschbalten nach Deutschland und zwar vor allem in die neu eroberten ehemals polnischen Gebiete vorsah. Die Deutsch-Balten wurden selbst nicht nach ihrem Willen befragt. Die meisten ergaben sich jedoch dem verordneten Schicksal, auch weil ein Leben in der zukünftigen Machtsphäre Josef Stalins wenig attraktiv erschien. Gegen Kriegsende mussten die im Osten angesiedelten Deutschbalten erneut ihre Wohngebiete verlassen und Richtung Westen flüchten.

Heute versuchen deutsch-baltische Traditionsvereine die Erinnerung an die alte Geschichte aufrechtzuerhalten oder wiederzubeleben und auch von estnischer und lettischer Seite besteht lebhaftes Interesse die in den Zeiten der Sowjetherrschaft aus ideologischen Gründen unterdrückten Erinnerungen und geschichtlichen Verbindungen wieder aufleben zu lassen. Ausdruck dessen war zum Beispiel der Wiederaufbau des Schwarzhäupterhauses in Riga.

Chronologie

Zwanzigstes Jahrhundert

  • 1920 – Bodenreform: Enteignungen und darauf folgend Emigration vieler Deutschbalten.
  • Vor dem Zweiten Weltkrieg stellten Deutsche in Estland und Litauen jeweils 1,6 Prozent der Bevölkerung, in Lettland 3,3 Prozent.[1]
  • 1939 - Ende der Geschichte der Deutschen im Baltikum mit dem Hitler-Stalin-Pakt: Im Oktober wurden mit Estland und Lettland Umsiedlerverträge vereinbart. Zum Jahresende waren bereits mehr als 50.000 Deutsche aus Lettland und 14.000 aus Estland umgesiedelt, die Mehrzahl in die gerade annektierten Gaue Wartheland und nach Danzig-Westpreußen. Die Nachumsiedler, einige tausend 1940, weitere 7.000 aus Estland und 10.000 aus Lettland 1941, wurden in das Altreich umgesiedelt.[2]
  • 1944/45 - Flucht und Vertreibung verbliebener Deutsch-Balten Richtung Westen
  • 1945 – Deportation der in Estland gebliebene Deutsch-Balten (342 Personen)
  • 1950 – Reorganisation der exilierten Deutschbalten in Landsmann- und Ritterschaften

Heutige Situation

Bis heute gibt es noch kleinere Minderheiten von Deutschsprachigen in den baltischen Ländern. In Estland gibt es nach der letzten Zählung (2000) noch 1870 Deutschsprachige. In Lettland sind es 3311 (Volkszählung 2004), und in Litauen gibt es ebenfalls noch wenige tausend Muttersprachler. Diese Deutschsprachigen sind aber oft keine Deutschbalten, sondern zugewanderte Russlanddeutsche aus Sibirien und Kasachstan, oder Deutsche, die aus beruflichen oder sonstigen Gründen im Baltikum leben und sich erst kürzlich dort niedergelassen haben. In Estland und auch in den anderen baltischen Staaten entsteht heute zunehmend eine neue Generation von Deutschbalten, die sich nach der Unabhängigkeit im Jahr 1991 aus Deutschland kommend dort niedergelassen haben und zumeist sehr gut integriert sind.

Sprache

Deutsch-Balten sprechen Hochdeutsch (mit baltischem Akzent) oder (weniger häufig) Plattdeutsch.

Verbände

Heute gibt es noch verschiedene Verbände, die die Traditionen der Deutsch-Balten aufrechterhalten. Diese sind:

Siehe auch

Bekannte Deutsch-Balten unter der Kategorie:Deutsch-Balte

Literatur

  • Wilhelm Lenz (Hrsg.): Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710–1960, Köln 1970, ISBN 3-412-42670-9.
  • Jahrbuch des baltischen Deutschtums. (Fortlaufende Jahresbände), herausgegeben von der Carl-Schirren-Gesellschaft e.V. im Auftrag der Deutsch-Baltischen Gesellschaft e.V., Lüneburg.
  • Hartmut Boockmann (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. 10 Bde. Berlin: Siedler, 2002. ISBN 3-88680-771-1.
  • Helmuth Scheunchen: "Lexikon deutschbaltischer Musik"Wedemark-Elze, 2002 Harro von Hirschheydt ISBN 3-7777-0730-9
  • Wilfried Schlau (Hrsg.): Die Deutsch-Balten. Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Band 6. München: Verlag Langen Müller, 1995. ISBN 3-7844-2524-0.
  • Wilfried Schlau (Hrsg.): Sozialgeschichte der baltischen Deutschen. 2., verb. Aufl. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik, 2000. ISBN 3-8046-8876-4.
  • Matthias Schröder: Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlasov 1942–1945: „Rußland kann nur von Russen besiegt werden“. Erhard Kroeger, Friedrich Buchardt und die „Russische Befreiungsarmee“. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2001. ISBN 3-506-77520-0.
  • Robert Schweitzer, Waltraud Bastman-Bühner: Der Finnische Meerbusen als Brennpunkt. Wandern und Wirken deutschsprachiger Menschen im europäischen Nordosten. Veröffentlichungen der Stiftung zur Förderung deutscher Kultur, Nr. 9, Helsinki 1998.
  • Gero von Wilpert: Deutschbaltische Literaturgeschichte, Verlag C.H. Beck, München 2005 ISBN 3-406-53525-9
  • Kuno Hagen: Lexikon deutschbaltischer bildender Künstler: 20. Jh.. Unter Mitarb. von Margarete Hagen. Hrsg. von d. Georg-Dehio-Ges. Köln: Verlag Wissenschaft u. Politik, 1983. (Forts. von: Neumann, Wilhelm: Lexikon baltischer Künstler). ISBN 3-8046-0101-4
  • Eckhart Neander/Andrzej Sakson (Hrsg.): Umgesiedelt - Vertrieben. Deutsch-Balten und Polen 1939 - 1945 im Warthegau, Verlag Herder-Institut, Marburg 2011 ISBN 978-3-87969-367-2
  • Wilhelm Neumann: Lexikon baltischer Künstler. Reprint der Ausg. Riga, 1908. Zürich: Danowski-Press, 1998. ISBN 3-906653-60-9.
  • Yorck Deutschler, Deutsch-Balten contra Baltendeutsche, in: „Die Singende Revolution – Chronik der Estnischen Freiheitsbewegung (1987–1991)“, Teil 1 (Chronik, Annex III Ein fragmentarischer Essay zur Wortbedeutung des „Baltischen“, Anlage II Deutsch-Balten contra Baltendeutsche), Ingelheim, März 1998/Juni 2000, ISBN 3-88758-077-X.
  • Anja Wilhelmi: Lebenswelten von Frauen der deutschen Oberschicht im Baltikum (1800 - 1939). Eine Untersuchung anhand von Autobiografien. Wiesbaden 2008, (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts. 10), ISBN 978-3-447-05830-8.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Bernhard Chiari [u.a.]: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945 - Zweiter Halbband: Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, Im Auftrag des MGFA hrsg. von Jörg Echternkamp, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-421-06528-5, S. 908
  2. Bernhard Chiari [u.a.]: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945 - Zweiter Halbband: Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, Im Auftrag des MGFA hrsg. von Jörg Echternkamp, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-421-06528-5, S. 918

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