- Geschichte Estlands
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Das jetzige estnische Gebiet wurde erstmals vor spätestens 11.000 Jahren besiedelt, nachdem der weichende Gletscher dies ermöglichte.
In antiken Schriften bezieht sich die Bezeichnung Aisti oder Aesti mehr auf die südlich wohnenden Balten als auf die Esten. Noch der angelsächsische Reisende Wulfstan im 9. Jahrhundert benutzte das Wort in der antiken Bedeutung.
Inhaltsverzeichnis
Mittelalter und frühe Neuzeit
Anfang des 13. Jahrhunderts wurde Estland von Dänemark aus missioniert. Dänemark und der Schwertbrüderorden bzw. Deutsche Orden stritten um die Herrschaft über Estland. 1356 wurden die Esten vom Deutschen Orden unterworfen. Seitdem lebten in Estland viele Deutsche, die sich bald als eigene ethnische Gruppe verstanden und als Deutsch-Balten bezeichneten. Zudem lebte seit dem 13. Jahrhundert in Estland auch eine schwedische Minderheit, die Estlandschweden.
Das Mittelalter war von der Zugehörigkeit der estnischen Städte zur Hanse und deren Kontakten nach Skandinavien geprägt. Nach dem Auseinanderbrechen des Ordensstaates unter den Angriffen Iwans IV. „des Schrecklichen“ (Livländischer Krieg) unterstellte sich Estland 1561 der schwedischen Herrschaft. Der Süden Estlands um Dorpat bildete zusammen mit der Nordosthälfte des heutigen Lettland das Herzogtum – vorher Ordensland – Livland (estnisch „Liivimaa“, lettisch „Vidzeme“, polnisch „Inflanty“). Es wurde 1561 polnisches Lehen, kam aber im Vertrag von Altmark 1629 ebenfalls zu Schweden. Livland wurde (als durch die Schweden erobertes Land) anders behandelt als das eigentliche Estland, das sich ja freiwillig unterworfen hatte. Vor allem war die ständische Vertretung stark eingeschränkt. Die einheimischen Bauern genossen unter der schwedischen Herrschaft weitaus größere Freiheiten als unter der nachfolgenden russischen.
Im Russischen Reich
Im Jahre 1710 (endgültig 1721 mit dem Frieden von Nystad) wurde Estland unter Peter I. russisch. Das Gebiet des heutigen Estlands gehörte danach zu den Ostseegouvernements des Russischen Reiches (der Nordteil als Gouvernement Estland, der Südteil gehörte zum Gouvernement Livland und wurde aus Riga verwaltet). 1816 (Nordestland) bzw. 1819 (Südestland) wurde die Aufhebung der Leibeigenschaft beschlossen. Die Zaren nach Alexander III. (1881–1894) verfolgten eine rigorose Russifizierungspolitik und schränkten die Souveränität der ansässigen, großenteils baltendeutschen Oberschicht immer weiter ein. Gleichzeitig destabilisierte das erwachende nationale und wirtschaftliche Interesse sowie Arbeiter- und Bauernbewegungen der Esten und Letten die Gesellschaftsordnung.
Eine zentrale Rolle spielte bei dieser Entwicklung zur eigenen kulturellen und politischen Identität die Universität Tartu (Dorpat), auf der sich seit den 1870er Jahren die studierenden Esten bewusst nicht mehr über die Mitgliedschaft in den Corporationen assimilieren wollten, sondern vorwiegend im „Verein Studierender Esten“ und weiteren Corporationen eine eigene Identität förderten.
Unabhängigkeit
Nach der Oktoberrevolution übernahm Viktor Kingissepp am 27. Oktoberjul./ 9. November 1917greg. im Namen des bolschewistisch dominierten Estnisch Militärrevolutionären Komitees die Macht vom Gebietskommissar der Provisorischen Regierung Jaan Poska. Die Bolschewiki konkurrierten dabei mit dem Maapäev (Provisorischer Landtag), der sich am 15. Novemberjul./ 28. November 1917greg. als Reaktion darauf, dass die Bolschewiki seine Auflösung erklärt hatten, zum alleinigen Regierungsorgan erklärte. Die Bolschewiki agierten nicht ohne Rückhalt der Bevölkerung. Bei den Wahlen zur Russischen verfassungsgebenden Versammlung im November 1917 schnitten sie in Estland erheblich besser ab als in Russland insgesamt. Aber sie befürworteten als einzige politische Kraft Estlands die Anlehnung an Moskau. Dadurch und durch ihre Versuche, die enteigneten Rittergüter in Kolchosen umzuwandeln, statt das Land zu verteilen, stellten sie sich ins politische Abseits. Anfang 1918 wurde klar, dass die Bolschewiki die Macht nicht auf demokratischem Weg würden behaupten können. Ende Januar 1918 brachen sie noch die Auszählung der Wahl zur Estnischen verfassungsgebenden Versammlung ab, während das Exekutivkomitee des Tallinner Sowjets am 27. Januarjul./ 9. Februar 1918greg. den deutschbaltischen Adel für „vogelfrei“ erklärte, woraufhin über 500 Menschen festgenommen wurden. Aber am 11. Februarjul./ 24. Februar 1918greg. zogen die sowjetischen Truppen ab und ein „Estnisches Rettungskomitee“ proklamierte die Republik Estland; eine Provisorische Regierung unter Konstantin Päts kam jedoch nicht mehr dazu, die Macht zu übernehmen. Bereits einen Tag später wurde Estland durch die 8. deutsche Armee besetzt. Die meisten estnischen Bolschewiki verließen Estland daraufhin nach Russland.
Die eigentliche Unabhängigkeit Estlands wurde im Freiheitskrieg (1918–1920) erkämpft. Am 2. Februar 1920 erkannte dann die Sowjetunion die Unabhängigkeit Estlands im Frieden von Dorpat „auf alle Zeiten“ an.
Das damals wie Lettland über eine tolerante Minderheitsgesetzgebung verfügende Land erlebte eine wirtschaftliche wie kulturelle Blüte. Die relativ liberale Atmosphäre änderte sich mit der Weltwirtschaftskrise in den Jahren 1933 und 1934. In der Reaktion auf den unerwarteten Aufschwung der rechtsextremen Bewegung der Veteranen des Freiheitskrieges vor den Präsidentenwahlen 1934 riefen das Staatsoberhaupt Konstantin Päts und der Oberbefehlshaber Johan Laidoner den Ausnahmezustand aus und lösten das Parlament auf. Ihr autoritäres Regime lockerte sich erst 1938, da wieder ein gewähltes Parlament zusammengerufen wurde, doch bevor die innenpolitische Lage zum demokratischen Standard zurückkehren konnte, wurde die Entwicklung durch außenpolitisches Geschehen unterbrochen.
Die unabhängige Republik Estland schaffte es, mit allen bedeutenden Staaten offizielle Beziehungen anzuknüpfen und ihr Vorhandensein im Bewusstsein der Europäer zu festigen. Die Selbständigkeit wurde jedoch infolge des zwischen der Sowjetunion und Deutschland im August 1939 geschlossenen Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt ab Juni 1940 Zug um Zug beendet.
Sowjetische und deutsche Okkupation
Estland geriet ins Visier der zwei Aggressoren, Sowjetunion und NS-Deutschland, die im August 1939 über baltische Staaten und Einflussbereiche in deren Territorien verhandelten (Hitler-Stalin-Pakt). Kurz zuvor hatte das Deutsche Reich einen Nichtangriffspakt mit Estland und Lettland unterzeichnet. Im Oktober 1939 wurden die Deutsch-Balten (Adel, Gutsbesitzer, Kaufleute, viele Akademiker) zwangsweise in den „Warthegau“ umgesiedelt. In den Jahren 1940 bis 1944 verließen 70.000 bis 75.000 Esten ihr Land in westliche Richtung auf der Flucht vor allem vor den sowjetischen aber auch der deutschen Okkupation.[1]
Am 16. Juni 1940 stellte die sowjetische Regierung Estland ein Ultimatum und besetzte es anschließend. Am 16. August des Jahres wurde unter sowjetischer Besatzung die Estnische Sozialistische Sowjetrepublik (Estnische SSR) proklamiert und durch deren formalen Beitritt Estland definitiv von der Sowjetunion annektiert. Diese erste Phase der sowjetischen Herrschaft von Juni 1940 bis Juni 1941 war gekennzeichnet durch Terror und Massendeportationen gegen die estnische Bevölkerung. Ihren Höhepunkt erreichte die stalinistische Vernichtungspolitik in der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1941, als in allen drei baltischen Ländern etwa ein Prozent der Bevölkerung verhaftet und deportiert wurde (insgesamt über 47.000, in Estland ca. 10.000 Menschen). Etwa 60 % von ihnen starben in sowjetischen Lagern (Gulag).
Nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde Estland im August 1941 von deutschen Truppen besetzt. Seit dem 5. Dezember 1941 stand das Land als Generalbezirk Estland im Rahmen des Reichskommissariats Ostland unter deutscher Zivilverwaltung und litt unter der nationalsozialistisch orientierten Politik. Wehrfähige Esten wurden zur deutschen Wehrmacht eingezogen, wovor etwa 5000 junge Männer nach Finnland flohen. In der ersten Oktoberhälfte 1944 zogen sich die deutschen Truppen wieder aus Estland zurück, um einer Einkreisung zuvorzukommen.
Estnische SSR
Im Herbst 1944 übernahm wieder die Rote Armee das Land. Ein großer Teil der schwedischsprachigen Minderheit (vor allem auf den Inseln) ging ins Exil und wurde von Schweden aufgenommen.
Die Estnische SSR wurde wieder eingerichtet und damit Estland wieder der Sowjetunion eingegliedert, ein Schritt, der vom Westen nicht anerkannt, aber hingenommen wurde. Erneut wurden tausende von Esten nach Sibirien deportiert. Wegen einer massiven Einwanderung überwiegend russischsprachiger Zuwanderer (Russifizierungspolitik) wurden die Esten in den östlichen Regionen zeitweise zu einer Minderheit im eigenen Land.
Während der sowjetischen Besetzung wurde die estnische Ostgrenze zugunsten Russlands verschoben. Estland verlor so die Gebiete um Iwangorod (estn. Jaanilinn) und Petschory (Petseri).
Die Abschottung des Landes gegen westliche Einflüsse gelang der Staatsmacht in der Estnischen SSR aber weniger als in fast allen anderen Sowjetrepubliken, denn jenseits des nur 80 km breiten Finnischen Meerbusens liegt Finnland. Durch die Ähnlichkeit der Sprachen sind finnische Radio- und Fernsehsendungen für Esten problemlos zu verstehen und wurden gerade in der Zeit der sowjetischen Herrschaft von vielen regelmäßig empfangen.
Bevor eine explizit politische Abgrenzung zu Russland möglich war, äußerte sich das estnische Selbstbewusstsein in einer lebhaften Volksliedbewegung, deren große Chorveranstaltungen berühmt waren (siehe Singende Revolution, Estnisches Sängerfest).
Unabhängigkeitserklärung
Am 8. Mai 1990 erklärte der Oberste Rat der Estnischen Sowjetischen Sozialistischen Republik unter dem Vorsitzenden Arnold Rüütel einseitig seine erneute Souveränität unter der Bezeichnung Republik Estland, die es 1991 zusammen mit Litauen und Lettland durchsetzen konnte. Am 20. August 1991 erklärt die verfassungsgebende Versammlung das Land als eigenständig und erhielt faktisch die volle Unabhängigkeit während des Augustputsches in Moskau. Um den friedlichen Übergang in die Unabhängigkeit nicht zu gefährden und den Anteil der russischsprachigen Bevölkerung nicht noch weiter zu erhöhen, verzichtete man auf die Rückgabe der von Russland zur Zeit der Okkupation abgetrennten Gebiete. Am 6. September 1991 erfolgte auch die Anerkennung der unabhängigen Republik Estland durch die Sowjetunion.
Anfangs galt Estland politisch und wirtschaftlich als instabil. Im Laufe der 1990er Jahre erlebte die Wirtschaft einen Aufschwung („Baltischer Tiger“).
Am 29. März 2004 wurde Estland Mitglied der NATO. Zum 1. Mai 2004 trat Estland der Europäischen Union bei. Außenpolitisch orientiert sich Estland an den skandinavischen Ländern.
Im Jahr 2007 kam es zu einem Aufruhr von russischen Esten auf Grund der Neuplazierung eines sowjetischen Denkmales. Zeitgleich kam es zu einem kurzzeitigen Zusammenbruch des estnischen Internets mit schwerwiegenden Folgen für Transport, Handel und Banken. Als Urheber gelten russische Spammer und die Tat selbst als "kriegerischer Online-Angriff auf einen Staat" (Jewgenij Kaspersky).[2][3]
Literatur
- Karsten Brüggemann: Die Gründung der Republik Estland und das Ende des „Einen und unteilbaren Russland“. Die Petrograder Front des russischen Bürgerkriegs 1918–1920. Harrassowitz, Wiesbaden 2002, ISBN 3-447-04481-0.
- Suzanne Champonnois, François de Labriolle: L'Estonie: des Estes aux Estoniens. Éditions Karthala, collection «Méridiens», Paris 1997, ISBN 2-86537-724-5.
- Suzanne Champonnois, François de Labriolle: Estoniens, Lettons, Lituaniens: histoire et destins. Éditions Armeline, Crozon 2004, ISBN 2-910878-26-0.
- Suzanne Champonnois, François de Labriolle: Dictionnaire historique de l'Estonie. Éditions Armeline, Brest 2005, ISBN 2-910878-38-4.
- Seraina Gilly: Der Nationalstaat im Wandel. Estland im 20. Jahrhundert. Bern/Berlin u. a. 2002, ISBN 3-906769-19-4. (= Arbeiten aus dem Historischen Seminar der Universität Zürich, Bd. 97)
- Gert von Pistohlkors (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Band 3. Baltische Länder. Siedler Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-88680-774-6.
Einzelnachweise
- ↑ Estnische Botschaft in Deutschland: Estnische Sprache und Kultur im Ausland
- ↑ Matthias Schepp, Thomas Tuma: Das Netz wird Kriegsschauplatz. In: Der Spiegel. 25/2011, S. 100. (Interview mit Jewgenij Kasperski)
- ↑ DDoS-Angriffe auf estnische Server waren kein "Cyberwar". auf: heise.de 12. Juni 2007, abgerufen am 20. Juni 2011
Weblinks
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