Ahnenkultus

Ahnenkultus

Ahnenkult, auch Ahnenverehrung oder Manismus genannt, (lat. manes „Geister der Verstorbenen“), ist ein ritueller Kult, bei dem tote Vorfahren verehrt werden. Die Ahnen stehen entweder in direkter familiärer Linie oder waren Oberhaupt einer Gruppe. Fast immer wird der Ahnenkult in Verbindung mit einem Opfer praktiziert, z. B. einem Trank-, Speise-, Brand- oder Kleidungsopfer (in frühen Zeiten auch einem Menschenopfer). Je nach Epoche und kulturgeschichtlichem Zusammenhang lassen sich mehr oder weniger unmittelbare Praktiken des Ahnenkults feststellen.

Die Verwandtschaftsgruppe umfasst sowohl die Mitglieder im Diesseits als auch im Jenseits. Zeremonien sollen das Gefühl verstärken, dass der Ahn mit und bei seinen Nachkommen lebt. Fast jedes Volk kennt eine oder mehrere Möglichkeit, den Ahn symbolisch sichtbar zu machen (z. B. Ahnenfigur, Ahnenmasken etc.) oder auch die Wiedergeburt – auch durch Namensgebung – in alternierenden Generationen (Großvater im Enkel). Der Ahnenkult ist zwar ein weltweites Phänomen, er ist jedoch vor allem bei sesshaften, agrarischen Völkern anzutreffen; bei Wildbeutern wurde er nicht festgestellt. Jede Verwandtschafts- und Kultgemeinde verehrt Ahnen, die sie ausschließlich sich zurechnen.

In Abgrenzung zum Totenkult werden beim Ahnenkult auch Vorfahren verehrt, die schon lange tot sind, sowie mythische Ahnen, die als Gründer einer Lineage oder eines Klans gelten. Das Opfer für die Ahnen ist eine regelmäßige Verpflichtung. Die kultischen Zeremonien dem Ahn gegenüber projizieren meist das diesseitige soziale Verhalten gegenüber dem lebenden Ältesten. Der Ahnenkult ist oftmals kombiniert mit Vorstellungen, die das Jenseits als Fortsetzung oder Spiegelung des Diesseits begreifen.

Inhaltsverzeichnis

Beispiele der Frühzeit

Die Bestattung im Wohnbereich ist insbesondere in protourbanen Großsiedlungen kein sicheres Indiz für Ahnenkult, da auch andere Beweggründe angenommen werden und Ahnenkult primär den segmentären Gesellschaften der Jägerstufe zuzuordnen ist.

In den akeramischen neolithischen Siedlungen der Levante (z. B. Jericho) wurden die Schädel Verstorbener mit Gips übermodelliert und die Augen mit Muscheln imitiert. Die lebenden Vorbildern nachempfundenen Schädel wurden in bestimmten Ecken der Wohnräume aufgestellt bzw. unter dem Haus, aber auch in Höhlen vergraben.

In den frühen Schichten der Ausgrabungsstätte Çatalhöyük (Zentraltürkei, ca. 5000 bis 2000 v. Chr.) bestatteten die Bewohner ihre Verstorbenen (oder nur Teile davon) direkt unter Plattformen, die für die eigenen Schlafplätze angesehen wurden.

Dieser nächsttmögliche Kontakt mit der eigenen Herkunft löste sich im Laufe der kulturellen Entwicklung immer weiter und nahm abstraktere, wesentlich aufwändigere Formen an - bis hin zu endlosen königlichen Ahnenreihen, aufgezeichnet von ägyptischen Priestern und von ihnen mit komplizierten Riten und jährlichen Feiern versehen, die große Mengen an Opfertieren und -gaben verlangten (siehe auch: Herkunftssage).

So auch die Hellenen, deren Ahnenreihen von größter Wichtigkeit für den sozialen Status der Familie waren. Hier fanden ebenfalls regelmäßige Kultdienste für die Toten statt.

In den indianischen Kulturen von Alaska bis Mittelamerika war es üblich, die eigene Herkunft über ein bestimmtes Totem, das heißt ein heiliges Tier oder eine heilige Pflanze zu definieren, man konnte beispielsweise vom „großen Adler" abstammen.

Ahnenkult heute in verschiedenen Kulturkreisen

Ahnenverehrung im subsaharischen Afrika

Das Verhältnis zu den Ahnen bildet nicht bei allen, aber bei den meisten Völkern Afrikas südlich der Sahara einen wichtigen Bestandteil traditioneller Kultur bzw. Religiosität. Nicht wenige bezeichnen es sogar als ihr Herzstück.

Auf der Suche nach einer korrekten Bezeichnung dieses Phänomens sprechen Afrikaner selbst heute gerne von „Gemeinschaft mit den Ahnen“ (Community with the Ancestors). Der früher gebräuchliche Begriff „Ahnenkult“ (Ancestor Worship bzw. Ancestor Cult) wird heute [2009] überwiegend als unzutreffend abgelehnt, zumal da er für afrikanisches Empfinden eine tendenziöse, die Ahnenbeziehung ablehnende Sichtweise westlicher Betrachter wiedergibt. Stattdessen wird vorgeschlagen, von „Ahnenverehrung“ (Ancestor Veneration) zu sprechen.

Bei dem Begriff ‚Ahn’ handelt es sich um einen Ehrentitel. Ahnen sind dabei nicht einfach alle Vorfahren, sondern nur solche, die sich um die Gemeinschaft verdient gemacht haben. Sie bzw. ihre Verehrung erfüllt sowohl eine soziale – die Gemeinschaft stabilisierende – als auch eine religiöse Funktion (Mittler zwischen Gott und den Menschen).

Westliche Missionare bekämpften während ihrer Tätigkeit über viele Jahrzehnte hinweg das Verhältnis der Afrikaner zu ihren Ahnen. Deren Verehrung vollzieht sich darum bis heute weitgehend im Verborgenen und ist selten Gegenstand eines offenen Gesprächs, zumal mit westlichen Gesprächspartnern. Beobachtungen und Feldstudien ausländischer wie auch einheimischer Forscher zeichnen aber gegenwärtig ein in vielem übereinstimmendes Bild, das im Folgenden zusammengefasst wiedergegeben werden soll.

Ahnenverehrung ist nicht Totenkult

Das Verhältnis der Afrikaner zu ihren Ahnen beruht auf der Überzeugung, dass die Ahnen nach ihrem Hinscheiden aus diesem Leben nicht völlig tot sind, sondern in unsichtbarer Weise weiterleben, mit ihren Nachfahren Verbindung halten und ihr Leben beeinflussen können.

Mbiti hat daher für sie den Begriff der „Living–dead (Lebend-Toten)“ geprägt, der freilich nicht unumstritten ist. Der christliche Gedanke einer Auferstehung, dass Jesus nach seinem leiblichen Tod unsichtbar weiterlebt, Verbindung zu den Christen hält und ihr Leben beeinflussen kann, findet also im traditionellen afrikanischen Denken durchaus Anknüpfungspunkte, auch wenn von christlichen Theologen immer wieder auf die Einzigartigkeit der Auferstehung Jesu verwiesen wird.

Das Verhältnis der Afrikaner zu ihren Ahnen ist darum mehr als bloße Erinnerung und ihre Verehrung mehr als bloßer Totenkult, sondern es geht nach afrikanischem Verständnis um eine lebendige Beziehung mit einer Kommunikation in beide Richtungen.

Die Bedeutung für die Gemeinschaft

Verwurzelt zu sein, sein Woher zu kennen, in einer bestimmten Tradition zu stehen, ist für Afrikaner von grundlegender Bedeutung. Die Ahnen verkörpern die eigene Herkunft und Identität.

Grundlegend für das afrikanisches Lebensgefühl ist u.a. die große Bedeutung der Gemeinschaft. „Mtu ni watu“ – dieses Sprichwort aus dem Swahili übersetzt Mbiti frei mit I am, because we are („Ich bin, weil wir sind“). Traditionell definiert der Afrikaner seine Identität und Persönlichkeit nicht aus seinen individuellen Leistungen, sondern aus seiner Stellung in der Gemeinschaft – im Stamm, in der Sippe bzw. in der Großfamilie. Diese Gemeinschaft besteht jedoch nicht nur aus den Lebenden, sondern aus den Lebenden, ihren Ahnen und den Noch-nicht-Geborenen. Die Verehrung der Ahnen bzw. des Urahns durch die Nachkommen hat dabei gemeinschaftsstiftende und –stärkende Kraft: Ahnen sind der gemeinsame Bezugspunkt, und sie verkörpern in ihrer Vorbildfunktion die gemeinsamen Werte, die die Gemeinschaft zusammenhalten.

Ahnen als Vorbilder

Ahnen erfüllen nicht zuletzt eine wichtige Vorbildfunktion, die Rolle moralischer Vorbilder, worin sie den christlichen Heiligen nahe kommen. Mit dem Beispiel ihres Lebens setzen sie den Rahmen für Falsch und Richtig in der Gemeinschaft, in der sie verehrt werden. Man kann auch umgekehrt davon sprechen, dass eine Gemeinschaft mit der Verehrung eines Ahns die Werte und Maßstäbe deutlich macht, die in ihr gelten sollen. Darin kommt ein stark traditionsorientiertes Denken in afrikanischen Gemeinschaften zum Ausdruck.

Ahnen als Mittler

Kennzeichnend für traditionelle afrikanische Gesellschaften ist die Mittlerschaft. In vielen wichtigen Angelegenheiten des Lebens spricht man nicht für sich selbst, sondern durch einen Mittler oder Sprecher – etwa bei den Verhandlungen zwischen den Familien, die einer Heirat vorausgehen. Erst recht, wenn man sich an eine höher gestellte Persönlichkeit wie an einen Häuptling oder König wendet, gilt es gar als unschicklich, diesen direkt anzusprechen; man tut dies durch eine Mittelsperson, selbst wenn man sich in Seh- und Hörweite des Adressaten befindet.

Bei der Frage, ob die höchste Gottheit (the Supreme Being) in der afrikanischen Religion für den gewöhnlichen Gläubigen zugänglich sei, ergibt sich kein einheitliches Bild. Weit verbreitet ist jedoch die Vorstellung, dass auch diese Gottheit nur über Mittler angegangen werden solle. Ahnen werden als diejenigen angesehen, die nach ihrem Tod einen Status erreicht haben, in dem sie dem Göttlichen näher als die noch Lebenden sind und in beide Richtungen vermitteln können. Auch darin sind sie den Heiligen etwa im katholischen Verständnis ähnlich. Die Anliegen der Gläubigen werden über die Ahnen der Gottheit übermittelt, wobei auch unter den Lebenden dies nicht irgend jemandem obliegt, sondern den jeweiligen Oberhäuptern stellvertretend für ihre Gemeinschaft – dem König oder Häuptling für das Volk, dem Ältesten für die Sippe oder die Großfamilie. Umgekehrt bilden die Ahnen gewissermaßen den Kanal für die göttliche Lebenskraft (Life-force, Force vitale), die die Gläubigen erreichen soll und für diese absolut lebenswichtig ist in einer Welt, in der sie sich von Geistern, Hexen und anderen spirituellen Kräften bedroht sehen (die die letzte Ursache auch für Krankheiten, Hunger, Unwetter usw. bilden). Ein gutes Verhältnis zu den Ahnen ist daher lebensnotwendig und wird nicht zufällig immer wieder als das Herzstück traditioneller Religiosität angesehen.

Erscheinungen der Ahnen

Ahnen haben nach traditioneller Auffassung eine große Bandbreite von Möglichkeiten mit den Lebenden Verbindung aufzunehmen und ihnen ihren Willen bekannt zu machen. Dazu gehören supranaturale Erscheinungen ebenso wie die Interpretation natürlicher Ereignisse. Afrikaner berichten von Erscheinungen, in denen ein Ahn zu ihnen gesprochen und sie z.B. zurecht gewiesen oder ihnen einen bestimmten Auftrag erteilt habe, etwa sein Grab besser zu pflegen. Daneben werden Erscheinungen von Schlangen häufig als Begegnung mit einem Ahn gedeutet; auch Kalamitäten, die Afrikaner im Leben treffen können, wie Krankheit, Trockenheit, Unwetter usw. werden häufig als Strafe der Ahnen für eigenes Fehlverhalten gedeutet, v.a., wenn sie länger anhalten und nicht durch gewöhnliche Gebete zum Verschwinden gebracht werden können. Diese Deutungen zeigen, dass das Wirken der Ahnen ambivalent gesehen wird – hilfreich in Krisenzeiten, aber auch strafend, wo Normen der Gemeinschaft verletzt werden und diese darum in Gefahr gerät. Alles in allem wird das Wirken der Ahnen daher überwiegend positiv gesehen, d.h. gemeinschaftsstiftend und –erhaltend.

Kriterien für den Ahnenstatus

Nicht jeder Vorfahre ist ein Ahn. ‚Ahn’ ist ein Ehrentitel, der nur bestimmten Vorfahren nach bestimmten Kriterien zuerkannt wird, vergleichbar mit der christlichen Heiligsprechung.

Als Kriterien gelten:

  • ein vorbildliches Leben
  • Ehe und Nachwuchs
  • ein hohes Alter erreicht zu haben und eines natürlichen Todes gestorben zu sein. Ausgeschlossen werden hiermit v.a. Suizidtote, aber auch durch bestimmte Krankheiten Verstorbene, deren Krankheit als Strafe für Fehlverhalten angesehen werden kann (z.B. AIDS). Akzeptabel ist hingegen der frühe Tod im Einsatz für die Gemeinschaft (etwa in einem Verteidigungskrieg).
  • eine wichtige Stellung in der Gemeinschaft schon zu Lebzeiten.

Auf Grund dieser Kriterien kann man davon sprechen, dass der Ahnenstatus in gewisser Weise eine Verlängerung der Position bilden kann, die der Verstorbene zu Lebzeiten innehatte. Dies gilt jedoch nicht, wenn das erste Kriterium verletzt wurde. Afrikaner weisen in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hin, dass z.B. Idi Amin wegen seiner Verbrechen in Uganda heute nicht als Ahn verehrt wird.

Als Ahnen werden in aller Regel Männer verehrt (die ja schon in der Gemeinschaft der Lebenden in aller Regel die dominierende Stellung innehaben), wobei von einzelnen Völkern auch die Möglichkeit berichtet wird, dass Frauen und sogar Kinder den Ahnenstatus erlangen können.

Stufen

Ahnen, die erst relativ kurze Zeit verstorben und noch in persönlicher Erinnerung bei den Lebenden sind, werden persönlich angerufen und häufig im eigenen Garten bestattet, um ihnen möglichst nahe zu sein. Ihnen wird v.a. schützende Vollmacht zugeschrieben, daher auch die Bezeichnung „Schutzahnen“ ('Tutelary Ancestors').

Ahnen, deren Leben so weit zurück liegt, dass die Nachfahren sich ihrer nicht mehr persönlich erinnern, werden pauschal und anonym angerufen. Sie sind den Lebenden schon weiter entrückt und sind dafür der (ebenso weit entrückten) Gottheit umso näher. Ihnen wird daher besonders die Mittlervollmacht zwischen Gott und den Lebenden zugeschrieben, weshalb sie auch als „Mittler-Ahnen“ ('Mediator Ancestors') bezeichnet werden.

Nur einzelne besonders herausragende Führungspersönlichkeiten des Gemeinschaftsverbandes werden auch dann, wenn sie sich jenseits des persönlichen Erinnerungsvermögens befinden, individuell und namentlich in Erinnerung gehalten, wobei sie in der Erinnerung legendenhafte Züge annehmen. Sie werden zu Urtypen beispielhaften (gemeinschaftsdienlichen) Verhaltens. Dies gilt besonders für die Figur eines gemeinsamen Urahns, eines „Gründerahns“ ('Founding Ancestor'), auf den sich gewöhnlich jede Gemeinschaft (Stamm, Großfamilie) bezieht.

Häufig wird auch ein Gott selbst bzw. das Höchste Wesen als der Urahn oder „Great Ancestor“, d.h. der Ursprung allen Lebens bezeichnet.

Kategorisierung

Afrikaner äußern sich widersprüchlich, wenn es um die Frage geht, wovon genau wir sprechen, wenn wir über Ahnen reden. Während gewöhnliche Gläubige Ahnen als eine von ihnen (etwa in Visionen) erfahrene Realität schildern, sprechen akademische Theologen gelegentlich von den Ahnen auch als einem Symbol, Zeichen, einer Metapher (Nürnberger) oder einem Mythos (Bediako).

Formen der Ahnenverehrung

Hierüber sind Aussagen besonders schwierig, da, wie schon erwähnt, sich die Verehrung der Ahnen weitgehend im Verborgenen abspielt. Verbreitet sind Ahnenschreine, jedoch nicht im Haus, sondern im Garten bzw. in der Natur. Kahakwa berichtet, dass es ein „Baum, Busch, eine Bergspitze,…ein Fels oder eine Höhle“ sein kann, und dass diese sich in der Regel in unmittelbarer Umgebung der Begräbnisstätte des Betreffenden befinden. Vor dem Schrein werden Gebete gesprochen, nachdem die lebende Person Gaben dargebracht hat; hierzu gehört vor allem das Trankopfer (Libation). Diese sind weniger als Opfergaben zu verstehen denn als Eröffnung einer Kommunikation und als ein Teilen der Güter mit den Ahnen, mit denen man sich in lebendiger Verbindung befindet und die zur Gemeinschaft gehören. Daneben sind auch Opfergaben üblich.

Einige afrikanische Theologen legen heute Wert darauf, dass diese letztlich nicht für die Ahnen, sondern durch sie – als Mittler – für das höchste Wesen, die Gottheit, bestimmt seien. In diesem Sinne betonen afrikanische Theologen heute, dass Ahnen nicht angebetet, sondern verehrt werden (venerated, not worshipped), d.h., sie werden nicht selbst als göttliche Wesen angesehen, denen Anbetung zuteil werden soll. Freilich wird auch eingeräumt, dass die Grenze fließend ist und in einzelnen Fällen auch überschritten wird. Riten für die Ahnen können alleine oder gemeinschaftlich – unter Verwendung eines Priesters – vollzogen werden.

Unterschiede unter den subsaharischen Völkern

Auch wenn es keine Studie zur Gesamtheit der schwarzafrikanischen Völker gibt – eine solche wäre viel zu umfangreich – , so zeigen doch auch schon Feldstudien zu einzelnen Völkern, dass nicht alle südlich der Sahara die Tradition der Ahnenverehrung bzw. –kommunikation kennen. Unterschiede können selbst innerhalb desselben Stammes ausgemacht werden. Das größte Volk, für das die Ahnen ohne Bedeutung sind, stellen wohl die Massai in Ostafrika dar.

Afrikanische Theologen stimmen jedoch darin überein, dass für die Mehrheit der Völker südlich der Sahara die Ahnen von großer Bedeutung sind. Unter diesen kann man – entsprechend der Zahl der Berichte und des Umfangs der theologischen Auseinandersetzung mit dieser Tradition – zwei Schwerpunkte ausmachen: Ghana und die dort beheimatete Akan-Kultur und Ostafrika.

Das Wiedererstarken der Ahnenverehrung

Westliche Missionare haben zunächst die Ahnenverehrung in Afrika entschieden bekämpft, da sie hierin das Herzstück traditioneller Frömmigkeit erkannten, die durch das Christentum ersetzt werden sollte. Die Ahnen wurden hierbei als Rivalen Christi gesehen, des einzigen Mittlers zu Gott. Auch auf die in manchen Fällen bedrohlichen Erscheinungen der Ahnen wurde immer wieder verwiesen.

Etwa seit der Zeit der Erlangung der Unabhängigkeit durch die meisten Staaten Afrikas (um 1960) findet aber auch in der afrikanischen Christenheit eine Neubesinnung auf afrikanische Werte statt. In diesem Zuge bemüht man sich, auch die Ahnen in einem neuen Licht zu sehen und in ein christliches Weltbild zu integrieren. Es ist wahrscheinlich, dass die Sicht der Ahnen dabei auch Veränderungen erfährt und die ursprünglich vorchristliche Ahnenverehrung in gewisser Weise christlich vereinnahmt wird. Dies ist schon deshalb fast unausweichlich, da die Gemeinschaft mit den Ahnen traditionell an eine Blutsverwandtschaft gebunden ist, christliche Gemeinschaft diese jedoch übersteigt. So ist es unter afrikanischen Christen heute durchaus möglich, von Ahnen im spirituellen Sinne zu sprechen, etwa, wenn der ghanaische Philosoph Joseph Boakye Danquah, einer der Väter der ghanaischen Unabhängigkeit, den deutschen Missionar Johann Gottlieb Christaller als seinen Ahn bezeichnet. Die Bemühungen um eine Integration der Ahnenverehrung in ein christliches Weltbild sind freilich auch in Afrika umstritten und werden in evangelikalen Kreisen als Synkretismus abgelehnt.

Gegner wie Befürworter der Ahnenverehrung stellen heute übereinstimmend fest, dass die Ahnenverehrung nicht nur überlebt hat – trotz gegenteiliger Bemühungen westlicher Missionare –, sondern dass sogar ein Wiedererstarken beobachtet werden kann. V.a. in Krisenzeiten scheinen Menschen wieder vermehrt Halt bei den Ahnen zu suchen. Dabei ist die Ahnenverehrung in der Regel dort am stärksten, wo Menschen in einer gewachsenen ländlichen Gemeinschaft verwurzelt sind.

All dies gilt auch für Christen. Afrikanische Theologen wie Mbiti klagen darüber, dass das Christentum lediglich einen „Sonntagskult“ darstelle, bei dem man sonntags die Kirche besuche, die Woche über jedoch der Ahnenverehrung und anderen vorchristlichen Praktiken nachgehe.

Verbindung zu vorchristlichen Ahnen?

Wie bereits dargestellt, ist für Afrikaner die Verbindung zu den Ahnen lebenswichtig. Was aber, wenn man Christ geworden ist? Die Vorstellung, dass die eigenen Ahnen in der Hölle sind und eine Verbindung zu ihnen nicht möglich ist, weil sie keine Christen waren, ist für viele Afrikaner unerträglich, zumal, da hier die Frage der Gerechtigkeit Gottes ins Spiel kommt – wie kann er die Ahnen bestrafen, die vor dem Eintreffen der Missionare noch gar keine Möglichkeit hatten das Wort Gottes zu hören? Christliche Theologie sucht hier nach einem Ausweg eine solche Gemeinschaft auch mit ungetauften Ahnen zu denken. Vielfach wird auf 1. Petrus 4,6 verwiesen, nach dem das Evangelium auch den Toten verkündet wird bzw. wurde, und auf den Abschnitt im 2. Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, der davon spricht, dass Jesus ins Reich der Toten hinab gestiegen sei.

Die Ahnen in der christlichen Theologie

Afrikanische Theologen beklagen heute den westlichen Charakter des Christentums, wie er von den Missionaren zu ihnen gebracht wurde und wie er ihrer Meinung nach bis heute einen Fremdkörper in Afrika darstellt. Westliche und sogar oft noch antik-hellenistische Denkmuster und Sprachregelungen werden als den Afrikanern fremd und unverständlich kritisiert. Das heutige Bemühen vieler afrikanischer Theologen zielt daher auf eine ‚Inkulturation’ oder ‚Indigenisierung’ des Christentums. Das bedeutet, dass sie nach Anknüpfungspunkten in ihren eigenen, afrikanischen Traditionen suchen. Da die Beziehung zu den Ahnen eine zentrale Stellung im traditionellen Weltbild der Afrikaner einnimmt, ist es nicht verwunderlich, dass auch in diesem Bereich nach Anknüpfungspunkten gesucht wird.

Diese finden sich v.a. auf dem Gebiet der Christologie, wo heute Titel aus der Ahnentradition gesucht werden, die die Bedeutung Jesu für Afrikaner verständlich ausdrücken sollen: Proto-Ahn, Bruder-Ahn, aber auch Ahnentitel einheimischer Sprachen, wie etwa das in der ghanaischen Akan-Kultur gebräuchliche Nana (ursprünglich für den Großvater gebraucht). Umstritten ist dabei, ob die Sicht Jesu als besonderer Ahn das Ende aller anderen Ahnenbeziehungen oder –verehrung bedeutet oder ob man auch als Christ weiterhin eine ehrende Beziehung zu den gewöhnlichen Ahnen unterhalten kann.

In der Ekklesiologie ist für afrikanische Christen wichtig, dass auch die Ahnen mit den Lebenden in kirchlicher Gemeinschaft verbunden sind. Der Abschnitt im 3. Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses, der von der Gemeinschaft der Heiligen spricht, bekommt von daher besondere Bedeutung. Umstritten ist, wie bereits erwähnt, ob hierzu auch Ahnen vor dem Eintreffen der Missionare gehören, die also ungetauft starben, aber in ihrem Leben vorbildlich und für die Gemeinschaft wichtig waren. Das Abendmahl (die Eucharistie) wird als die Feier angesehen, in dem Christus, der Ahn und entscheidende Mittler, die Lebenskraft Gottes an die Gläubigen weitergibt und diese mit ihnen teilt bzw. unter den Mitgliedern der Kirche geteilt wird.

Die Ahnen als Thema in ökumenischen Beziehungen

Das Verhältnis zu den Ahnen ist heute eines der am meisten umstrittenen Themen innerhalb der weltweiten Christenheit. Dies wurde nicht zuletzt auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen 1991 in Canberra/Australien deutlich. Der Vortrag der koreanischen Theologin Chung Hyun Kyung, bei dem diese die Geister der Ahnen beschwor, löste stürmische Reaktionen – zustimmende wie ablehnende – aus. Während die einen den Vortrag einen „heiligen Moment“ nannten, sprachen andere – v.a. Orthodoxe, aber auch Protestanten – von Synkretismus und drohten mit ihrem Austritt.

Afrikanische Christen und Kirchen weisen heute auf die steigende Gewicht ihres Kontinents hin, in dem das Christentum am stärksten wächst, während es in Europa an Mitgliederzahl und Bedeutung abnimmt. Mit neuem Selbstbewusstsein bringen Afrikaner daher ihre Themen in internationalen kirchlichen Organisationen ein. Dazu gehört nicht zuletzt auch das Verhältnis zu den Ahnen, das sie einer Neubewertung unterzogen sehen wollen. Als Folge hat z.B. der Lutherische Weltbund im Frühjahr 2006 drei Studiengruppen eingesetzt: ‚Spiritualismus: Eine Herausforderung an die Kirchen in Europa’, ‚Ahnen, Geister und Heilung in Afrika und Asien: Eine Herausforderung an die Kirchen’ und ‚Spiritismus: Herausforderungen für die Kirche in Lateinamerika’.

Ahnenkult auf Madagaskar

Viele foko glauben, dass die Menschen nach ihrem Tod als Razana weiterleben. Die Madagassen glauben zwar an einen Schöpfergott (Andriamanitra), aber die Menschen können sich nicht direkt durch Gebet an ihn wenden. Dies ist Aufgabe der Ahnen. Ähnlich wie die Heiligen im Katholizismus erfüllen sie eine wichtige Mittlerrolle zwischen den Lebenden und Gott. Wenn einer Familie oder Person Unglück zustößt, kann ein Totenwendungsfest (Famadihana) stattfinden, um die Ahnengeister zu besänftigen. Der Tote wird aus dem Grab geholt, es wird gefeiert, er wird mit neuen Leichentüchern (Rohseide) eingekleidet und wieder begraben. Mittelsmänner sind die sogenannten Ombiasy (eine Art Schamane oder "witchdoctor"), welche nach einer langen Ausbildung in mündlich überlieferten Traditionen Meister in Heilpflanzenkunde sind.

Oft wird ein Famadihana veranstaltet, um die Übertretung eines Fady (Tabuvorschrift) wieder gut zu machen. Der Ombiasy analysiert die Gegebenheiten innerhalb der Gemeinschaft und erklärt Angewohnheiten, Plätze, Personen, Tiere, Pflanzen zum Tabu. In der Regel gewinnt der Fady besonders dadurch an Kraft, dass er mit der Ahnenverehrung und den Toten (Razana) unmittelbar verknüpft wird. Das Totenwendungsfest ist der wichtigste Ritus im madagassischen Ahnenkult. Der Ombiasy entscheidet, ob und wann dies notwendig ist, indem er einen spirituellen Kontakt mit den Razana (Toten) aufnimmt. Das Famadihana wurde von den Kolonialherren teilweise verboten, da sich die Familien stark verschuldeten. Es hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem mexikanischen Totenkult, in dem auf dem Grab gefeiert, getanzt und gegessen wird. Die vom Fady Betroffenen zahlen für Ritual, Musiker und Essen in dem Umfang, wie es der Ombiasy für angemessen hält.

Ahnenverehrung in China

In China ist die familiäre rituelle Ahnenverehrung Hauptbestandteil der Volksreligion und ein fest integrierter Teil des Alltags. Der Tod wird als eine Art Schlaf gesehen, aus dem der Mensch wieder erwachen kann. Deshalb gibt es das Ritual, die Seele des Toten herbeizurufen, dem Gegenstände des Alltags und Nahrung angeboten werden. Auf hölzernen Ahnentafeln in der Ahnenhalle oder auf dem Hausaltar stehen die Namen der Toten. Ihnen werden Opfer dargebracht und vor ihnen werden wichtige Familienangelegenheiten (z. B. Hochzeiten) entschieden. Die Hinterbliebenen können mit ihren Ahnen entweder durch Opfer oder durch Orakel in Verbindung treten. Diese Rituale dürfen nur von Männern durchgeführt werden. Deshalb ist es einer Ahnenverehrung praktizierenden Familie wichtig, dass sie einen männlichen Nachkommen hat. Der Ahnenkult stellt eine der frühesten nachweisbaren religiösen Erscheinungen in China dar und geht bis in die Shang-Dynastie zurück.

Weitere Beispiele

In manchen Kulturen Neuguineas wird der ursprüngliche, unmittelbare Ahnenkult heute immer noch praktiziert: Viele der Einheimischen benutzen die Schädel ihrer Ahnen als Schlaf-Kopfstütze. Der rituelle Verzehr der Asche des Toten stellt seine ultimative Rettung vor dem Verschwinden (Vergessen) dar und sein vollständiges Aufgehen in der Gemeinschaft der Lebenden.

Aus der evangelisch-reformierten Lebensweise hat sich der Ahnenkult bis auf sporadische Besuche auf dem Friedhof verabschiedet - wenn ein "Kontakt" mit dem Verstorbenen überhaupt gewünscht ist, findet er rein geistig, also von außen nicht bemerkbar, statt. Katholische Gläubige zünden ab und zu eine Kerze für ihre Toten an (Brandopfer).

Doch darf dabei nicht übersehen werden, dass auch in Deutschland nicht wenige Familien eine unkirchliche Form der Verehrung von Vorfahren kennen, die durchaus ihre Riten hat; in Adelsfamilien lässt es sich empirisch leichter beobachten.

Siehe auch

Literatur

  • Émile Durkheim: Elementare Formen des religiösen Lebens. Frankfurt 1994
  • Kwame Bediako: Biblical Christologies in the Context of African Traditional Religions, in: Sharing Jesus in the Two Thirds World. Eerdmans. Grand Rapids. 1983
  • Bénézet Bujo: Afrikanische Theologie in ihrem gesellschaftlichen Kontext. Patmos, Düsseldorf 1986
  • Sylvester Kahakwa: Theology of Ancestors from African Perspective, in: Africa Theological Journal, Vol.30, No.3. 2007
  • John Mbiti: Afrikanische Religion und Weltanschauung. de Gruyter. Berlin. 1974
  • Charles Nyamiti: Christ as our Ancestor. Mambo Press. Gweru. 1984

Weblinks


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