Gilles-de-la-Tourette-Syndrom

Gilles-de-la-Tourette-Syndrom
Klassifikation nach ICD-10
F95.2 Kombinierte vokale und multiple motorische Tics [Tourette-Syndrom]
ICD-10 online (WHO-Version 2006)
Gilles de la Tourette.

Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (kurz: Tourettesyndrom) ist eine neurologisch-psychiatrische, ätiologisch noch ungeklärte Erkrankung, die durch das Auftreten von Tics charakterisiert ist. Bei den Tics handelt es sich um unwillkürliche, rasche, meistens plötzlich einschießende und mitunter sehr heftige Bewegungen, die immer wieder in gleicher Weise einzeln oder serienartig auftreten können. Verbale, ungewollte Äußerungen zählen mit dazu sowie Ausrufe oder eigenartige Geräusche.

Benannt ist das Syndrom nach dem französischen Arzt Georges Gilles de la Tourette, der die Symptomatik erstmals um 1885 auf wissenschaftlicher Basis beschrieb. Gilles de la Tourettes Arbeit geriet im Laufe der Zeit jedoch wieder in Vergessenheit, so dass in der Folge meist falsche Diagnosen gestellt wurden. Erst in den 1990ern trat die Krankheit in Deutschland wieder verstärkt in das öffentliche Interesse.

Inhaltsverzeichnis

Symptome

Die verschiedenartigen Tics, die für das Tourettesyndrom typisch sind, treten häufig im Alter von ca. sieben Jahren zum ersten Mal auf und prägen sich meist bis ungefähr zum 14. Lebensjahr voll aus. Eine Verstärkung ist oft in der Pubertät festzustellen, während bei 70% aller Betroffenen die Intensität der Tics zwischen dem 16. und 26. Lebensjahr wieder nachlässt. Obwohl bei einigen Patienten die Auffälligkeiten im Laufe der Jahre sogar wieder vollständig verschwinden, muss die Mehrheit lebenslang versuchen, mit den Tics zurechtzukommen.

Einfache motorische Tics können sich als Augenblinzeln, Naserümpfen, Kopfwerfen oder Grimassen manifestieren. Beispiele für einfache vokale Tics sind das Ausstoßen von bedeutungslosen Lauten, Husten oder das Nachahmen von Tiergeräuschen.

Unter die Kategorie der komplexen Tics fallen im motorischen Bereich das Grimassieren, das Imitieren anderer Leute (Echopraxie) oder auch selbstverletzende Handlungen. Komplexe vokale Tics sind das Wiederholen von Wörtern (Echolalie bzw. Palilalie) oder das als Koprolalie bekannte Herausschleudern obszöner und aggressiver Wörter.

Die Symptome treten mehrfach am Tag (zumeist in Serien) auf oder kehren zwischendurch immer wieder. Anzahl, Häufigkeit, Art und Lokalisation der Tics befinden sich in einem wiederkehrenden Wechsel. Während des Schlafs kommt es in fast allen Fällen zu einem Verschwinden der Beschwerden, verstärkt treten die Tics in emotional belastenden Situationen (Ärger, Anspannung, Stress etc.) auf.

Manche Patienten können die spontan auftretenden Tics in einem gewissen, aber beschränkten Maße kontrollieren. Dies führt zu einer zeitlichen Verschiebung der heftigen sogenannten „Tic-Entladungen“, jedoch kann der Tic nicht gänzlich unterdrückt werden. Als Vergleich hierzu werden manchmal das Niesen oder der Schluckauf herangezogen. Wenn möglich, ziehen sich Menschen mit Tourettesyndrom meist in einen Schonraum zurück, um ihren Symptomen freien Lauf zu lassen, wenn sie die Tics zuvor über längere Zeit (z. B. in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit) unterdrücken konnten.

Die breite Palette der möglichen Tics ist äußerst vielfältig und erschwert auf diese Weise die eindeutige Diagnose. Der Verlauf der Erkrankung ist in der Regel chronisch, Betroffene zeigen eine gewöhnliche Normalverteilung bezüglich ihrer Intelligenz. Die Lebenserwartung ist nicht eingeschränkt.

Komorbidität

Ein großer Anteil der Tourette-Patienten zeigt häufig noch weitere Störungen und Auffälligkeiten (Komorbidität). So werden beispielsweise Zwangsverhalten, ADS/ADHS, Asperger-Syndrom, Restless-Legs-Syndrom, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten, Schlafstörungen und Depressivität bei ihnen gehäuft festgestellt. Auch Hypersexualität ist zuweilen mit dem Syndrom assoziiert.

Psychosoziale Folgen

Die Betroffenen leiden vor allem unter der Reaktion ihrer Umwelt auf ihre Symptome. Gerade weil Menschen mit Tourettesyndrom teilweise keine Einflussmöglichkeiten auf ihre Ticsymptomatik haben, werden die mit dem Tourettesyndrom verbundenen Auffälligkeiten häufig als schlechte Angewohnheiten gedeutet.

Dies führt dazu, dass Eltern von betroffenen Kindern oft Schuldgefühle wegen ihrer vermeintlich verfehlten Erziehung entwickeln. Die Heranwachsenden selbst treffen in Öffentlichkeit und Schule auf viel Unverständnis und Ablehnung, was wiederum zu einer Verstärkung der Auffälligkeiten führen kann. Auch Erwachsene mit Tourettesyndrom werden vielfach diskriminiert und erfahren oft Einschränkungen in ihrer beruflichen und privaten Entfaltung.

Außenstehende fühlen sich oft durch die unwillkürlichen Tics persönlich provoziert. Dies ist besonders bei Koprolalie und Kopropraxie zu beobachten und kann zu einer Zuspitzung solcher Situationen führen.

Tourette-Patienten sind für gewöhnlich ebenso leistungsfähig wie ihre Altersgenossen und können theoretisch in Freizeit und Beruf alle ihre Wünsche verwirklichen. Erschwert wird die praktische Umsetzung jedoch durch die Reaktionen von uninformierten oder gar intoleranten Mitmenschen. Problematisch können weiterhin eine Neigung zu selbstverletzendem Verhalten und schwere vokale Tics bei der Berufsausübung in Bereichen mit Publikumsverkehr sein.

Positive Auswirkungen des Tourette-Syndroms

Viele Menschen mit Tourettesyndrom besitzen eine gute Reaktionsfähigkeit. Durch geringere zentralnervöse Hemmungsmechanismen lassen sich Bewegungen leichter auslösen. Die psychomotorische Genauigkeit ist bei vielen Patienten erhöht. Oliver Sacks schreibt von „außerordentlich raschen und genauen Reaktionen“ sowie „überschäumenden, zügellosen motorischen Impulsen“, weswegen viele Betroffene eine Neigung zu Sport und Musik hätten.

Nach Kirsten Müller-Vahl besitzen viele Tourette-Betroffene ein sehr rasches Auffassungsvermögen und eine besondere Schlagfertigkeit. Auch ein gutes mathematisches Verständnis, sowie ein ausgeprägtes Langzeit-, Personen- und Zahlengedächtnis seien häufig zu beobachtende Fertigkeiten. Daneben sollen nahezu alle Betroffenen besonders pünktlich sein.

Ursachen

Die pathophysiologischen Ursachen sind noch nicht vollständig bekannt. Untersuchungen deuten darauf hin, dass bei Tourette-Patienten Stoffwechselvorgänge im Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten (in den Basalganglien). Insbesondere betrifft dies die Neurotransmitter Dopamin und Serotonin. Diese dienen im Gehirn der Signalübertragung (beispielsweise für Bewegungsabläufe) und sind teilweise übermäßig aktiv.

Aktuellen Erkenntnissen zufolge wird neben einer nicht-genetischen Form auch eine genetische Form des Tourettesyndroms vermutet. Wissenschaftler haben Hinweise darauf, dass Mutationen im Gen SLITRK1 auf Chromosom 13q31.1 die normale Ausbildung von Nervenzellen behindern und diese Fehlbildung zum Tourettesyndrom führen könnte. Wenn ein betroffener Elternteil die nicht notwendigerweise vorhandene Erbanlage für das Tourettesyndrom in sich trägt, wird vermutet, dass sein Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von 5 bis 10 % von Tics (nicht zwangsläufig vom Vollbild eines Tourettesyndroms) betroffen sein kann.

In den letzten Jahren mehren sich Hinweise darauf, dass das Tourette-Syndrom eine Autoimmunerkrankung sein könnte, die sich nach einer Infektion des Hals- und Rachenraums bzw. des Mittelohrs mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A (Scharlach, Otitis media) manifestiert: Für derartige Erkrankungen wurde der Oberbegriff PANDAS geprägt: Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorders Associated with Streptococcal Infections. Antikörper, die ursprünglich eine Oberflächenstruktur der infizierenden Bakterien erkannten, entwickeln sich zu Autoantikörpern, die gegen die Basalganglien gerichtet sind und greifen diese an.

Auftreten

Es ist nicht bekannt, wie hoch die Zahl der Patienten mit Tourettesyndrom tatsächlich liegt, da das relativ seltene Syndrom bis heute oft fehldiagnostiziert wird. Allgemein geht man davon aus, dass etwa 0,05 % aller Menschen mit dem Tourettesyndrom leben. Männer sind dabei etwa dreimal so häufig betroffen wie Frauen.

Diagnose

Die Diagnose des Tourettesyndroms wird rein aufgrund der beobachteten Symptome und des bisherigen Krankheitsverlaufs gestellt. Es existieren keine neurologischen oder psychologischen Verfahren, die eine Diagnose des Tourettesyndroms leisten können.

Mit Hilfe von Fragebögen und Schätzskalen zur Beurteilung des Tic-Schweregrads und medizinischen Untersuchungen wie z. B. einem Elektroenzephalogramm wird eine Abgrenzung des Syndroms von anderen Erkrankungen versucht. Beispielsweise unterscheidet sich gemäß ICD-10 die 'multiple Ticstörung' (F95.1) vom 'Tourettesyndrom' (F95.2) dadurch, dass letzteres auch einen vokalen Tic beinhaltet. Weiterhin muss ausgeschlossen werden können, dass die Auffälligkeiten eine körperliche Reaktion auf eine eingenommene Substanz darstellen oder einem anderen medizinischen Krankheitsfaktor entspringen.

Bedingungen für die Diagnose sind mindestens ein vokaler und mindestens zwei motorische Tics in der Anamnese; diese müssen aber nicht gleichzeitig aufgetreten sein. Beim Tourettesyndrom treten die Tics mehrmals täglich zumeist anfallartig entweder fast jeden Tag oder über ein Jahr lang wiederkehrend auf. Die Symptome müssen vor dem 21. Lebensjahr erstmals aufgetreten sein, die Stärke der Tics spielt keine Rolle in der Diagnosestellung.

Dem ICD-10 und der aktuellen Version des DSM-IV (siehe [1]) folgend ist ein zusätzlicher Befund einer stärkeren inneren Anspannung und negativer Folgen in wichtigen Lebensbereichen für die Diagnose des Tourettesyndroms nicht mehr erforderlich.

Therapie

Zur Abklärung individuell abgestimmter eventueller Therapiemaßnahmen ist der fachliche Rat von Ärzten, Psychiatern oder Nervenärzten einzuholen. Pädagogische und sonderpädagogische Beratung können beispielsweise im Umgang mit den häufig auftretenden zusätzlichen Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen hilfreich sein. Eine eigentliche Heilung ist derzeit nicht möglich.

Die beobachtbaren Symptome lassen sich hauptsächlich durch Behandlung mit Psychopharmaka aus der Gruppe der Neuroleptika mindern, jedoch sind die meisten Personen mit Tourettesyndrom nicht so schwerwiegend beeinträchtigt, dass eine Medikation oder sonstige fachliche Hilfen notwendig werden.

Wenn trotzdem eine medikamentöse Intervention erforderlich wird, stehen verschiedene Präparate zur Verfügung, deren individuell verschiedene notwendige Dosis durch behutsame Steigerung erst herausgefunden werden muss. In Deutschland wird gewöhnlich Tiaprid (Tiapridex) eingesetzt, daneben gelten Pimozide (Orap) und Haloperidol (Haldol) als erfolgversprechend. In den USA kommen zusätzlich die nur wenig getesteten Präparate Fluphenazin (Dapotum, Lyogen) und Clonazepam (Rivotril) zum Einsatz.

Dagegen können Stimulantien wie Methylphenidat (Ritalin) oder Pemoline (Tradon) unter Umständen Tics verstärken. Bei begleitenden Zwangsstörungen können Fluvoxamin (Fevarin), Clomipramin (Anafranil), Paroxetin (Tagonis) oder auch Fluoxetin (Fluctine) hilfreich sein.

Dass THC, einer der Hauptwirkstoffe von Cannabis, Tics wirksam reduziert, bestätigten die Ergebnisse einer sechswöchigen Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover.

Auch Tiefe Hirnstimulation wird erfolgreich zur Behandlung eingesetzt,[1] in Deutschland vor allem an der Universitätsklinik Köln[2].

Alternativ gibt es Entspannungsverfahren und verschiedene verhaltenstherapeutische Ansätze, die den Umgang mit Stresssituationen, die zu einer Verstärkung der Tics führen, lehren können. Durch Selbstkontrolltrainings können teilweise sozial unangenehme Tics durch einen sozial eher akzeptierten Tic ersetzt werden.

Positive Ergebnisse bei der Sublimierung von Tics sind auch aus der Musiktherapie bekannt. Teilweise lassen sich nervöse Impulse durch das Spielen eines Instrumentes ableiten. Besonders geeignet erscheinen hierzu schnelle Instrumente sowie Instrumente, bei denen der Spieler mit Händen und Füßen aktiv ist, z. B. das Schlagzeug und die Orgel. Auch kommt die Neigung zur Palipraxie dem steten Wiederholen von Phrasen, Takten und Tonleitern beim Üben entgegen. Weiterhin gibt es die Möglichkeit, Kontrollzwänge sinnvoll in den Übungsablauf einzubauen. Vokale Tics können in manchen Fällen dagegen in Stimmbildungsübungen oder bläserische Artikulationsübungen umgewandelt werden.

Hilfsorganisationen

Nach US-amerikanischem Vorbild bildeten sich auch in anderen Ländern Hilfsorganisationen, die sich allgemein zur Aufgabe machen, durch Information und Aufklärung zu vermehrter Toleranz zu führen, aber auch die Ausbildung von Fachpersonal zu verbessern, so dass sowohl medizinische Früherkennung als auch pädagogischer Umgang mit den Symptomen forciert werden. Zudem wird die Hilfe zur Selbsthilfe propagiert und Selbsthilfegruppen bieten die Möglichkeit des Austausches unter Betroffenen.

In Deutschland wurde 1993 der „Tourette-Gesellschaft Deutschland e.V.“ (TGD) gegründet, 2007 folgte der „InteressenVerband Tic & Tourette Syndrom e.V.“ (IVTS).

Siehe auch

Literatur

  • Uttom Chowdhury, Isobel Heyman: Tics and Tourette Syndrome: A Handbook for Parents and Professionals. Jessica Kingsley Publishers, New York 2004. ISBN 1-8431-0203-X
  • James F. Leckman, Donald J. Cohen: Tourette's Syndrome Tics, Obsessions, Compulsions: Developmental Psychopathology and Clinical Care. John Wiley & Sons, New York 2002. ISBN 0-4711-1375-1
  • Barbara Moe: Coping with Tourettes and Tics. Rosen Publishing Group, New York 2004. ISBN 0-8239-4089-6
  • Angela Scholz, Aribert Rothenberger: Mein Kind hat Tics und Zwänge. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003. ISBN 3-5254-5885-1
  • Adam Ward Seligman, John S. Hilkevich: Don't Think About Monkeys: Extraordinary Stories by People With Tourette Syndrome. Hope Press, Duarte, CA 1992. ISBN 1-8782-6733-7
  • Jonathan Lethem: Motherless Brooklyn. Goldmann, München 2004. ISBN 3442541875

Zeitschriften:

Einzelnachweise

  1. http://www.neurotherapeutics.org/article/S1933-7213(08)00010-X/abstract
  2. http://www03.wdr.de/studio/koeln/lokalzeit/serien/medizinzeit/tourette.jhtml

Weblinks

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