Ikonische Wende

Ikonische Wende

Als ikonische Wende bzw. iconic turn bezeichnet man analog zum Begriff der „linguistischen Wende“ Versuche der Bildwissenschaft zur Anerkennung des strukturierenden Charakters des Bildes. Der Begriff wurde 1994 von Gottfried Boehm in Wiederkehr der Bilder geprägt: „Die Rede vom iconic turn war ein sympathischer, nachdenklicher Versuch, die tief in der deutschen Tradition geborgene Vorstellung von der Absolutheit, der Aura der Kunst gegen den Verbrauch der Bilder durch deren mediales Verständnis zu erretten“.[1]

Ausgangspunkt sind die Feststellungen, dass

  • sich bisher keine mit der allgemeinen Sprachwissenschaft vergleichbare „Wissenschaft vom Bild“ entwickelt habe;
  • eine „Verlagerung von der sprachlichen auf die visuelle Information, vom Wort auf das Bild und – am beunruhigendsten – vom Argument auf das Video“[1] stattfinde und damit
  • eine „Wiederkehr der Bilder“ zu konstatieren sei.

Gefordert wird eine interdisziplinäre Beschäftigung mit der Welt der Bilder, die Erkenntnisse und Methoden der Philosophie, Religionswissenschaft,Theologie, Ethnologie, Kunstgeschichte, Medienwissenschaft, Kognitionswissenschaft, Psychologie und der Naturwissenschaften usw. integriert.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte und Entwicklung

Konzeptionell findet die „ikonische Wendung“ ihre Ursprünge in den Arbeiten Konrad Fiedlers aus dem 19. Jahrhundert, der erstmals das Sehen als aktive und selbstbestimmte Tätigkeit beschrieben habe („Sichtbarkeitsgebilde“).

In den 1980er Jahren löste Vilém Flusser mit seiner Kommunikologie eine kritische Auseinandersetzung mit den technischen Bildern in der telematischen Gesellschaft aus. Flusser verwendet noch nicht den Begriff der „ikonischen Wendung“, bereitet jedoch vor allem mit seinen Arbeiten zur Philosophie der Fotografie (1983) und dem Universum der technischen Bilder (1985) den Boden für eine Neubewertung des Bildes in der Nachmoderne.

„Iconic“ und „pictorial“ Turn

W. J. T. Mitchell prägte 1994 den Begriff des Pictorial turn in einem an Erwin Panofskys Ikonologie angelehnten Versuch, das Denken in Bildern und über Bilder zu rehabilitieren.

Die Begriffe „Iconic“ und „pictorial“ Turn sind nicht gleichbedeutend. Während Mitchell sich am Bildergebrauch in der Alltagskultur und den Wissenschaften orientiert, ist Boehms Fragestellung grundsätzlicher, wenn sie in Anlehnung an den „linguistic turn“ danach fragt, wie Bilder Sinn erzeugen, ob sie also einen eigenen Logos haben.[2]

Weitere Entwicklung

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In dem Jahrzehnt nach der Begriffsprägung von Pictorial und Iconic turn haben nicht nur die historischen Bildwissenschaften Archäologie und Kunstgeschichte diese Anregung aufgenommen:

  • Die Filmwissenschaft priorisiert die Untersuchung der Bildhaftigkeit der Filme; z. B. David Bordwell: Visual Style in Cinema. (2001); Andela Dalle Vacche: Classical Film Theory and Art History. (2003);
  • Die Philosophie nimmt die Beschäftigung mit dem Bild wieder auf, z. B. Oliver R. Scholz; Bild. Darstellung. Zeichen. Philosophische Theorien bildhafter Darstellung. (1991);
  • Die Literaturwissenschaft untersucht das Wechselverhältnis von Schrift und Bild, z. B. Horst Wenzel: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. (1995);
  • Die Geschichtswissenschaft betrachtet Bildquellen nicht mehr nur als Illustration, z. B. Bernd Roeck: Visual turn? Kulturgeschichte und Bilder. (2003); Gerhard Paul: Visual History - Ein Studienbuch (2006, ISBN 978-3-525-36289-1) und Gerhard Paul: Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1949 bis heute 2008, ISBN 978-3-525-30012-1
  • Die Wissenschaftsgeschichte untersucht die visuelle Konditionierung der Wissenschaft, s.a. Sybilla Nikolow und Lars Bluma: Die Zirkulation der Bilder zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Ein historiographischer Essay, in: Frosch und Frankenstein. Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft , hg. v. Bernd Hüppauf/Peter Weingart, Bielefeld 2009, S. 45-78, exemplarisch: Caroline A. Jones und Peter Galison Hgg.: Picturing Science Producing Art. (1998) und Barbara Stafford: Body Criticism. 1991
  • Die Rechtswissenschaft arbeitet an einer Ikonologie des Rechts und thematisiert die Bilderfeindlichkeit des Rechtswesens, z. B. Michael Stolleis: Das Auge des Gesetzes. (2004) und das Projekt Visuelle Rechtskommunikation an der Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Rechtssoziologie und Rechtsphilosophie, um Klaus F. Röhl und Volker Boehme-Neßler: BilderRecht. Die Macht der Bilder und die Ohnmacht des Rechts. ( 2010 ISBN 978-3-642-03877-8)
  • Die Mathematik löst sich mit der Formel Seeing is believing vom Ikonoklasmus der Bourbaki-Gruppe, z. B. Benoît Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur. (1987);
  • Die Biologie erörtert in Anlehnung an Darwin das Kriterium der Schönheit für die natürliche Auslese, z. B. Raghavendra Gadagkar: Is the peacock merely beautiful or also honest? 2003
  • Die Naturwissenschaften und insbes. die Informatik reflektieren den allgegenwärtigen Einsatz von digitaler Bildverarbeitung, Computergrafik und Informationsvisualisierung, z. B. Jochen Schneider, Thomas Strothotte und Winfried Marotzki Hgg.: Computational Visualistics, Media Informatics and Virtual Communities. 2003, ISBN 3-8244-4550-6
  • Jörg R. J. Schirra: Foundation of Computational Visualistics. 2005, DUV, ISBN 3-8350-6015-5

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Willibald Sauerländer: Iconic turn? Eine Bitte um Ikonoklasmus. 2004.
  2. Vgl. hierzu die Briefe beider Autoren in: H. Belting (Hrsg.): Bilderfragen. München 2007.

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