Nicolas Bourbaki

Nicolas Bourbaki

Nicolas Bourbaki ist das kollektive Pseudonym einer Gruppe vorwiegend französischer Mathematiker (Autorenkollektiv), die seit 1934 an einem vielbändigen Lehrbuch der Mathematik in französischer Sprache, den Éléments de mathématique, arbeitete und mehrmals jährlich an verschiedenen Orten Frankreichs in Seminaren ihr gemeinsames Buchprojekt vorantrieb. Angeblich arbeitete Bourbaki an der Universität von Nancago (Pseudonym: zusammengezogen aus Nancy und Chicago, Jean Dieudonné bewohnte in Nizza die Villa Nancago). Die Veröffentlichungen stehen in der Tradition der axiomatischen Begründung der Mathematik.

Inhaltsverzeichnis

Aufgabenstellung

Bourbaki sah es nicht als seine Aufgabe an, neues mathematisches Wissen zu schaffen. Vielmehr sollten bestehende mathematische Erkenntnisse neu aufbereitet und in einen stringenten Zusammenhang gestellt werden. Als Basis diente die an die Schule von David Hilbert angelehnte axiomatische Darstellung der Mengenlehre, an deren überragender Leistungsfähigkeit zur Zeit der Gründung von Bourbaki kein Zweifel bestand.

Aufbau und Notation des Werks sind außerordentlich rigide. Die Argumentation geht grundsätzlich vom Allgemeinen zum Besonderen. Alles, was gesagt wird, ist aus dem vorher Gesagten begründet. So ist das Referenzsystem in den ersten sechs Büchern absolut linear: Jeder Verweis bezieht sich auf einen früheren Bourbaki-Text. Verweise auf andere Werke werden als überflüssig angesehen. Zugeständnisse an den Leser werden nicht gemacht.

Das ursprüngliche Ziel war, nur Themen zu behandeln, die für einen systematischen Aufbau der Grundlagen der Mathematik notwendig waren.[1] Ausgeschieden wurden so die Verbandstheorie, die Zahlentheorie und natürlich die gesamte angewandte Mathematik.[2] Die Geometrie wird mit der Behandlung der topologischen Vektorräume als erledigt angesehen.[3]

Arbeitsweise

Zu den Grundregeln der Gruppe gehörten die anonyme Veröffentlichung unter dem gemeinsamen Pseudonym, die gnadenlose Diskussion jedes Redaktionsvorschlags und das Ausscheiden mit Erreichen des fünfzigsten Lebensjahres. Die Zusammensetzung der Gruppe und ihre Arbeitsweise blieben lange Zeit geheimnisumwittert; erst im Alter begannen die Gründungsmitglieder, öffentlich über Bourbaki zu sprechen. Inzwischen weiß man, dass Jean Dieudonné den größten Anteil an der Endredaktion der erschienenen Bände hatte.

Bei ihren Treffen diskutierte die Gruppe oft sehr heftig Entwürfe einzelner Lehrbuch-Kapitel, beschloss unzählige Veränderungen, und übergab die Manuskripte dann jeweils neuen Autoren zur Weiterbearbeitung. Beim nächsten Treffen war aber niemand mehr an die zuvor gefassten Beschlüsse gebunden; es wurde von neuem kritisiert und eine neue Umarbeitung beschlossen. Jedes Kapitel erfuhr typischerweise zehn Umarbeitungen, die sich über acht bis zwölf Jahre hinzogen.

Ergebnisse

1939 erschien der erste der insgesamt 40 Bände, die wiederum in sechs Bücher zusammengefasst sind:

I Mengenlehre
II Algebra
III Topologie
IV Funktionen einer reellen Variablen
V Topologische Vektorräume
VI Integration

Danach kam die Arbeit weitgehend zum Stillstand. Es erschienen noch:

VII Kommutative Algebra
VIII Lie-Gruppen
IX Spektraltheorie

Als letzter Band kam 1983 die Spektraltheorie (Band IX) hinzu. Das bisher letzte Kapitel und die letzte Veröffentlichung von Bourbaki war das Kapitel 10 zur Kommutativen Algebra 1998.

Die erfolgreichsten Bände waren vielleicht die über Liegruppen und kommutative Algebra. Die immer wieder eingestreuten Exkurse zur Mathematikgeschichte gab Jean Dieudonné separat als Bourbakis „Eléments d'histoire de mathématique“ (1960, 1969) heraus. Er schrieb auch eine Übersicht über die moderne Mathematik aus „Bourbakisicht“: „Panorama of pure mathematics as seen by Bourbaki“ 1982.

Geschichte

Charles Denis Bourbaki (um 1870)

Die sechs Gründungsmitglieder der Gruppe waren Henri Cartan, Claude Chevalley, Jean Delsarte, René de Possel, Jean Dieudonné, André Weil, die kurz zuvor die École Normale Supérieure absolviert hatten, nun an französischen Provinzuniversitäten unterrichteten und die verfügbaren Lehrbücher inadäquat und hoffnungslos veraltet fanden, insbesondere im Vergleich zu der gleichzeitig blühenden deutschen axiomatischen Schule um David Hilbert und Emmy Noether in Göttingen und Emil Artin in Hamburg, bei denen einige Gründungsmitglieder studiert hatten. Im Zentrum der mathematischen Forschung in Frankreich lag damals die dort traditionell starke Analysis, repräsentiert etwa durch Jacques Hadamard, während Algebra und Zahlentheorie kaum gepflegt wurden. Bei ihren gelegentlichen Treffen beschlossen sie, ein eigenes Lehrbuch der Analysis[4] zu verfassen und kamen bald darauf zum Schluss, eigentlich die gesamten Grundlagen der Mathematik neu schreiben zu müssen. Ursprünglich schätzten sie, dafür drei Jahre zu benötigen. Tatsächlich dauerte es vier Jahre, bis auch nur das erste Kapitel erschien. Bei einem ihrer ersten Treffen wählte die Gruppe den Namen Bourbaki, nach einem Legende gewordenen Studentenscherz[5] der École Normale Supérieure und indirekt nach General Charles Denis Bourbaki aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71.

Bald nach Gründung der Gruppe wurde Szolem Mandelbrojt hinzugezogen, in den 1940ern Laurent Schwartz, Samuel Eilenberg, Jean Leray (der aber nur kurz Mitglied war) und Jean-Pierre Serre. In späteren Jahren wurde Nachwuchs unter den begabtesten Studenten der Mitglieder rekrutiert: die jungen Mathematiker nahmen probeweise an einem Treffen der Gruppe teil, wo von ihnen erwartet wurde, aktiv zur Diskussion beizutragen, die oft leidenschaftlich und scheinbar chaotisch geführt wurde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörten zu Bourbaki außerdem unter anderem Paul Dubreil (kurzzeitig), Charles Ehresmann, Pierre Cartier, Pierre Samuel, Alexander Grothendieck, Jacques Dixmier, Jean-Louis Koszul, Roger Godement, Armand Borel, Alain Connes, Serge Lang, Francois Bruhat, John Tate, Pierre Deligne, Adrien Douady, Bernard Teissier, Michel Demazure, Jean-Louis Verdier, Arnaud Beauville, Jean-Christophe Yoccoz, Charles Pisot, Claude Chabauty, Hyman Bass, Michel Raynaud, Joseph Oesterlé, Guy Henniart sowie der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Gérard Debreu. Sowohl Grothendieck als auch Lang verließen die Gruppe aber vorzeitig im Streit. Allerdings dominierten viele Grothendieck-Schüler ab den 1960er Jahren die Gruppe.

Seit etwa zwanzig Jahren gibt es keine bedeutenden Veröffentlichungen mehr. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sagte Cartier, Bourbaki sei ein Dinosaurier, dessen Kopf zu weit von seinem Schwanz entfernt sei.

Der langsame Verfall der Gruppe hat etliche Gründe, die sich vielleicht so zusammenfassen lassen:

  • Bourbaki hat seine Aufgabe erfüllt:
    • Mit den ersten sechs oder acht Büchern wurde die ursprüngliche Aufgabe, die essenziellen Grundlagen der Mathematik aufzuschreiben, erledigt.
    • Inzwischen gibt es, ganz entscheidend unter dem Einfluss von Bourbaki, eine große Auswahl moderner Lehrbücher in axiomatischem Stil.
  • Bourbaki ist überholt:
    • Die rigide Schreibweise macht es außerordentlich schwierig, neue mathematische Entwicklungen einzubeziehen.
    • Der Anspruch, die gesamte Mathematik in einem geschlossenen System darzustellen, hat sich aus praktischen Gründen als undurchführbar erwiesen. Nach dem Ausscheiden Dieudonnés gab es niemanden mehr, der das gesamte bisher veröffentlichte Korpus wirklich überblickte.

Hinzu kommt, dass es Ende der 1970er Jahre einen langen, unerfreulichen Rechtsstreit mit dem Verleger gab.

Bis heute gibt es L'Association des Collaborateurs de Nicolas Bourbaki (Die Gesellschaft der Mitarbeiter von N.B.), die dreimal jährlich die berühmten Bourbaki-Seminare (Seminaire Bourbaki) organisiert. Dies sind internationale Konferenzen, an denen gewöhnlich mehr als 200 Mathematiker teilnehmen. Sie finden heute im Institut Henri Poincaré statt.

Nachwirkung

Der streng logische Stil Bourbakis hat die heutige Mathematik entscheidend mitgeprägt.

Konkret verdanken wir Bourbaki das Zeichen ø für die leere Menge, das Zeichen \Rightarrow für die Implikation, die Abkürzungen N, Z, Q, R, C für die Mengen der natürlichen, ganzen, rationalen, reellen und komplexen Zahlen (nebst der Schreibweise mit dem doppelten Strich \N, \Z, \Q, \R, \C ) sowie die Wörter bijektiv, injektiv und surjektiv für Eigenschaften von Funktionen.

In Frankreich beherrscht Bourbakische Axiomatik häufig noch den gesamten Hochschulunterricht in Mathematik als Haupt- oder Nebenfach; ausländische Beobachter wie Wladimir Arnold[6] halten diesen dogmatischen Formalismus für ein Verbrechen an den Studenten.

Von dem in den 1960er Jahren unternommenen Versuch, einen mengentheoretischen Aufbau der Mathematik auch im Elementarunterricht durchzusetzen („Neue Mathematik“), hat sich Jean Dieudonné stets distanziert.

Literatur

  • Amir Aczel The artist and the mathematician. The story of Nicholas Bourbaki, the genius mathematician who never existed, High Stakes Publishing 2007
  • Jean A. Dieudonné: „The work of Nicolas Bourbaki“. In: American Mathematical Monthly. Band 77, 1970, S. 134, Online
  • Pierre Cartier: „The continuing silence of Bourbaki“ (Interview mit M. Senechal), In: Mathematical Intelligencer. 1998, Nr. 1
  • Armand Borel: „25 years with Bourbaki 1949–1973“. In: Mitteilungen DMV. 1998, Notices AMS 1998, online als pdf Datei: [2]
  • Borel, Cartier, Chern, Iyanaga, Chandrasekharan: „Nachruf André Weil“. In: Notices AMS. 1998 Nr. 4, sowie H. Cartan ibid. 1999, Nr. 6
  • André Weil: The Apprenticeship of a mathematician. 1992 (seine Autobiographie)
  • Christian Houzel: „Bourbaki und danach“. In: Mathematisch-Physikalische Semesterberichte. Band 49, 2002, S. 1
  • Guedj: „Bourbaki – a collective mathematician“, Interview mit Claude Chevalley, In: Mathematical Intelligencer. 1985, Nr. 7
  • L. Beaulieu: „A parisian Café and ten pro-Bourbaki meetings“. In: Mathematical Intelligencer. 1993, Nr. 1 (zu den Anfangsjahren 1934/5, ausführlich in seiner Dissertation in Montreal 1989)
  • Maurice Mashaal: Bourbaki – a secret society of Mathematicians. American Mathematical Society, 2006
  • David Aubin: „The Withering Immortality of Nicolas Bourbaki: A Cultural Connector at the Confluence of Mathematics“. In: Science in Context. Band 10, 1997, S. 297–342. [3]
  • Gottfried Köthe: N. B. – Die neue Ordnung der Mathematik. in: Schwerte & Spengler (Hgg): Forscher und Wissenschaftler im heutigen Europa 1: Physiker, …, Mathematiker. Reihe: Gestalter unserer Zeit Bd. 3. Stalling, Oldenburg 1958, S. 367–375

Weblinks

Bemerkungen

  1. Bei der Entscheidung, was hierzu gehört, mögen allerdings auch subjektive Interessen der Mitglieder eine Rolle gespielt haben, beispielsweise im Band Lie-Gruppen (Armand Borel))
  2. Allerdings nahm bis 1939 auch der Geophysiker Coulomb an den Sitzungen Teil, der den angewandten Teil betreuen sollte. Dies wurde nie verwirklicht.
  3. Einen gewissen Ausgleich schufen jedoch andere Lehrbücher von Gruppenmitgliedern, insbesondere die mehrbändigen Éléments d’Analyse von Jean Dieudonné, die Bücher von Serge Lang, sowie die Bourbaki-Seminare, in denen über die aktuelle mathematische Forschung berichtet wurde.
  4. In der Reihe der in Frankreich traditionellen „Cours d’Analyse“, z. B. von Camille Jordan oder Édouard Goursat.
  5. Raoul Husson, Student der ENS, verkleidete sich im November 1923 als schwedischer Professor Holmgoren und hielt mit falschem Bart eine Vorlesung vor den Erstsemestern. Dabei schrieb er einen Satz an, der von „Nicolas Bourbaki“ stammen sollte. Nach einer anderen Überlieferung wählte André Weil den Namen nach dem Standbild des Generals in Nancy, wo Jean-Pierre Serre unterrichtete.
  6. Interview, Notices American Mathematical Society 1997, Nr. 4, online als pdf Datei hier: [1]

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