Klein und Wagner

Klein und Wagner

Klein und Wagner ist eine Erzählung von Hermann Hesse (1877 - 1962), erschienen 1919. (ISBN 3518366165)

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Der Familienvater und Bankbeamte Friedrich Klein flieht, nachdem er eine Summe Geldes veruntreut, Urkunden gefälscht und sich einen Revolver besorgt hat, mit dem Zug Richtung Süden. Voller Verzweiflung versucht er seine Tat zu verstehen, denkt zwanghaft nach und landet schließlich wie zufällig in einer italienischen Stadt. Hier trifft der Flüchtige bald auf die Tänzerin Teresina, an der das Pendeln zwischen seinen tiefen Wünschen und seiner bürgerlichen-moralischen Prägung besonders deutlich wird. Immer wieder befällt Klein der Gedanke an einen Schullehrer, Ernst August Wagner, der in einem Amoklauf seine Familie umgebracht hatte, und mit dem er sich "irgendwie...verknüpft" fühlt. Klein hat mit dem bürgerlichen Leben abgeschlossen; seine späten Bemühungen, seine Identität zu finden und nach dem eigenen innersten Selbst (im Sinne von Carl Gustav Jung) zu leben, sind aber vergebens. Immer wieder gerät er ins Zweifeln, gefolgt von Angst- und Schuldgefühlen. Schließlich gibt Klein seinem langgehegten Selbstmordwunsch nach und ertränkt sich eine Woche nach seiner Flucht im naheliegenden See. Die Erzählung endet mit Kleins letzten epiphanienhaften Augenblicken.

Kurzanalyse

Durch die klassisch dramatische Einteilung in fünf Kapitel, den vorherrschenden inneren Monolog in oft freier, und vor allem auch indirekter Rede, gepaart mit dem ausschließlich inneren Konflikt und der spärlichen, gerade mal typisierenden Beschreibung der Orte und Charaktere wird Hesse Mitbegründer eines neuen Schreibstils und Erzählmodus. Hinter der zunächst nur als einfache Kriminalgeschichte anmutenden, personalen (siehe Erzählperspektive) Erzählung verbirgt sich ein modernes Psychodrama, das formale Ähnlichkeiten zu dem 1922 erschienenen Roman Ulysses von James Joyce aufweist.

Wie man es auch aus dem Roman Der Steppenwolf kennt, ordnet der Autor den Sprachfluss und -rhythmus beim Erzählen dem Empfinden des Protagonisten unter. Klein und Wagner entwirft mit einem Gegensatz (Antagonismus) das Bild eines bürgerlichen Lebens in der frühen Moderne. Einerseits funktioniert Friedrich Klein den bürgerlichen Werten entsprechend, andererseits bricht in einem Moment das unterdrückte Selbst hervor. Die bürgerliche Welt, die konventionellen Normen, Werte und Ziele sind für Klein zu einem unerträglichen Korsett geworden, in das er sich gezwängt und gedrängt fühlt. Eben dieses bürgerliche und für Klein viel zu enge oder sogar gänzlich falsche Leben sorgt bei Klein für den Verstoß gegen die bürgerlichen Normen und Werte. Sein extremes Einhalten dessen, was er selbst für die Normen hält, führt zwar zu einem gesicherten und bequemen gesellschaftlichen Leben, genauso jedoch zu einer wachsenden Unzufriedenheit, die in der Veruntreuung und Flucht ihren ebenso extremen Ausbruch findet. Der Versuch Kleins, das bürgerliche Korsett abzuschnallen, führt ihn zwar hier und da zu großen Einsichten in sein innerstes Selbst. Es sorgt aber auch dafür, das Klein sich hilf- und haltlos fühlt und schließlich stirbt. Er verachtet zwar die bürgerliche Welt, ist aber den Zukunftsängsten und den Lasten der Vergangenheit ebenso unterworfen und schafft es nicht, sich endgültig hiervon zu befreien.

Klein kannte keine Alternativen zu seinen gesellschaftlich geprägten Interpretationsmustern und Voreingenommenheiten; die bürgerliche Welt hatte ihm keine Möglichkeit gelassen, sich selbst kennen, lieben und leben zu lernen.

Mit der Figur des Lehrers Ernst August Wagner greift Hesse auf einen historischen, seinerzeit aktuellen Amokläufer zurück, über den die Tagespresse berichtet hatte. Wegen seiner Popularität ist der Fall Ernst Wagner geeignet, Diskussionen über die Verantwortung des Einzelnen sowie der Gesellschaft anzuregen, sowie die Dringlichkeit und Aktualität des Konfliktes, den Klein ficht, deutlich werden zu lassen.

Autobiographischer Bezug

Als Hesse im April 1919 in die Südschweiz kam und sich schließlich in Montagnola niederließ, hatte er gerade die schwere Entscheidung getroffen, seine Frau und seine drei Söhne zu verlassen. Vorausgegangen war die sehr anstrengende Arbeit beim Aufbau einer Zentrale für Kriegsgefangenenfürsorge in Bern, die die Trennung von seiner Familie erforderte, und die Zerreißproben des Ersten Weltkrieges sowie die Schmähungen und Verunglimpfungen, in denen er als Nestbeschmutzer und vaterlandsloser Gesell bezeichnet wurde. Hesse hatte sich einer aufreibenden, eineinhalbjährigen Psychoanalyse unterzogen, als seine erste Frau Maria im Oktober 1918 in eine derart schwere Gemütskrankheit verfiel, dass ihre depressiven Rückfälle bis 1925 in drei verschiedenen Heilanstalten über längere Abschnitte stationär behandelt werden mussten. Der sie dann betreuende Psychoanalytiker Carl Gustav Jung kam zu dem Ergebnis, dass eine Trennung der Ehepartner in dem Sinne unausweichlich sei, als Maria die drei Söhne übernähme und Hesse getrennt seinen schriftstellerischen Weg verfolgen würde. Mia Hesses Verfassung erlaubte allerdings nicht, dass sie sich um die drei Söhne sorgen konnte, so dass diese bei Freunden, Pflegeeltern und in Landerziehungsheimen untergebracht werden mussten.

Hesse suchte den Irrtum und das Scheitern seiner Ehe nicht bei seiner Frau, sondern bei sich selbst. Zudem war ihm die Tragik der Trennung von seinen Söhnen bewusst. Diese Gesamtkonstellation den vier nächsten Verwandten gegenüber spiegelte Hesse in Klein und Wagner in der Weise, als in der Novelle der Beamte Klein durch den vierfachen Mord an seiner Frau und den gemeinsamen Kindern sein Gewissen auf erdrückende Weise belastet und er sich den Folgen dieser ungeheuren Tat durch Flucht unter dem Decknamen 'Wagner' zu entziehen versucht. [1]

Einzelnachweise

  1. vgl. Volker Michels: „Meine noble Ruine“  –  Hermann Hesse in der Casa Camuzzi, in: Die vielen Gesichter Hermann Hesses, 1996, S.76+78f

Literatur

  • Hugo Ball, Hermann Hesse - Sein Leben und sein Werk; Berlin 1927
  • Die vielen Gesichter Hermann Hesses, Hrsg.: Freundeskreis zur Erhaltung der Hermann Hesse-Stätten, Edition Isele, Eggingen 1996, ISBN 3-86142-078-3
  • Adrian Hsia, Hermann Hesse und China - Darstellung, Materialien und Interpretationen; Frankfurt a.M. 1974
  • Michael Limberg, Hermann Hesse. Leben, Werk, Wirkung; Frankfurt/M.: 2005 (Suhrkamp BasisBiographien Bd.1)
  • Hans Jürg Lüthi, Hermann Hesse - Natur und Geist; Stuttgart 1970
  • Volker Michels, Hermann Hesse - Leben und Werk im Bild; Frankfurt a.M. 1973
  • Joseph Mileck, Hermann Hesse - Dichter. Sucher. Bekenner; München 1987
  • Christian Immo Schneider, Hermann Hesse; München 1991
  • Bernd Neuzner u. Horst Brandstätter, Wagner - Lehrer. Dichter. Massenmörder; Frankfurt a.M. 1996

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