Lochstab

Lochstab
Verzierter Lochstab aus dem Landesmuseum Konstanz
Lochstab des Magdaléniens

Als Lochstab wird ein im Jungpaläolithikum und Mesolithikum verbreiteter Fundgegenstand aus Rengeweih, Rothirschgeweih oder Mammut-Elfenbein bezeichnet, der in West-, Mittel- und Osteuropa vorkam. Die Funktion ist bis heute umstritten. Die meisten dieser Objekte stammen aus dem Magdalénien Südfrankreichs.

Inhaltsverzeichnis

Material,Verarbeitung und Dekor

Lochstäbe bestehen meist aus Abwurfstangen von Ren oder Rothirsch, seltener aus Elfenbein des Wollhaarmammuts.[1] Die Abwurfstangen wurden proximal und distal von der Gabelung zweier Sprossen abgeschnitten und im Bereich der Gabelung durchbohrt. Die Oberfläche ist häufig geglättet und oft mit geometrischen oder figürlichen Ritzlinien verziert. Durch die zum Teil komplexen bildlichen Darstellungen sind Lochstäbe wichtige Objekte der jungpaläolithischen Kleinkunst. Die Technik der Gravuren ist zur selben Zeit auch in Gestalt der Petroglyphen auf Felswänden bekannt.

Im Aurignacien wurden die ersten, meist unverzierten Lochstäbe hergestellt. Zu diesen gehören die Lochstäbe aus Mammut-Elfenbein der Vogelherdhöhle[2] sowie aus dem Geißenklösterle.

Aus dem Gravettien gibt es unverzierte Lochstäbe, wie zum Beispiel aus der Brillenhöhle und dem Hohlen Fels bei Blaubeuren[3], aber auch mit ersten oberflächigen Ritzverzierungen. Das Dekor besteht aus einfachen geometrischen Mustern, wie Linien, Kreuzen oder Zickzackbändern. Erst ab dem „Proto-Magdalénien“ in Südfrankreich gibt es figürliche Motive auf den Lochstäben. Ein Beispiel ist der Lochstab aus Laugerie-Haute mit der Darstellung zweier sich gegenüberstehender Mammuts.[4]

Im frühen Magdalénien wurden die Lochstäbe meist mit groben Tierköpfen, aber auch mit einfachem linearem Dekor verziert. Daraus entwickelte sich in der Folgezeit eine naturnahe und immer komplexer werdende Verzierungsart. Ein berühmtes Beispiel hierfür wäre die Phallusdarstellung auf dem Lochstab aus der Gorge d’Enfer[5] oder das Fragment eines Lochstabes aus der Höhle von Isturitz, das einen Bisonkopf als Flachrelief zeigt. Letzterer kann mit einer Darstellung in der Höhle von Niaux in Verbindung gebracht werden und gehört somit laut André Leroi-Gourhan zum Kunst-Stil IV.[6]

Zu den am häufigsten abgebildeten Themen gehören das Pferd, Fische und verschiedene Hakenzeichen. Daneben wurden auch menschliche Figuren auf den Lochstäben abgebildet.[7] Ein solches Objekt wurde in Saint Marcel (Indre) entdeckt. Es zeigt eine männliche Person, die durch das gebohrte Loch im mittleren Bereich in zwei Hälften geteilt wird.[8] André Leroi-Gourhan betont, dass ein Großteil der Lochstäbe mit männlichen Motiven verziert worden wäre und die Lochstäbe selbst oft die Form eines Phallus besitzen.

Neben der Speerschleuder gehört der Lochstab zu den typischen Geräteformen des Magdalénien. Ein Lochstab aus Mammutknochen wurde auch in der Clovis-Station Murray Springs in Arizona gefunden.

Im Mesolithikum gibt es eine Reihe von Lochstäben aus Rothirschgeweih.[9]

Mögliche Nutzung

Der Verwendungszweck der Lochstäbe ist bis heute unklar. Während die ersten Vermutungen einen rein dekorativen Kommandostab favorisierten[10][11], geht die neuere Forschung von einem Werkzeug aus. Hier käme die Funktion als Strecker von Speeren bzw. Pfeilen in Frage, um mittels Hebelwirkung aus gekrümmten Geweihstangen oder Holz über Feuer und Wasserdampf gerade Schäfte herzustellen.[12] Möglicherweise wurden Lochstäbe aber auch dazu benutzt, Riemen mit Hilfe von Öl elastischer zu machen. Weitere Theorien betreffen die Nutzung der Lochstäbe als Zelthäringe für frühe Behausungen oder auch als Vorläufer der zweiteiligen Fibel.[13]

Lochstäbe könnten auch als Maulknebel gedient haben, um widerspenstige Tiere ruhig zu stellen.[14] Dabei verlief eine Schnur durch die Bohrung und durch das Maul des Tieres. Beim Anziehen verengt sich die Schnur und verursacht dem Tier Schmerzen. Solche Knebel werden auch heute noch verwendet. Für diese Deutung spricht einiges: Größe und Form der paläolithischen Lochstäbe entsprechen den modernen. Es finden sich auch ausgebrochene Lochkanäle an den Stellen, an denen diese bei entsprechender Nutzung zu erwarten wären. Besonders viele Pferde- und Rentierzeichnungen finden sich auf den Funden, meist nur der Kopf der Tiere. Einige dieser Darstellungen zeigen dabei Ornamente am Maul, die durchaus als Maulknebel gedeutet werden können. Vermutlich wurden im Magdalénien Hanf-, Bast-, Tiersehnen-, Leder- oder Fellriemen als Schlaufen benutzt. Sollte diese Deutung zutreffen, wäre der Lochstab der erste Beweis einer Tierhaltung.

In der Forschung wird der Lochstab unter anderem auch als eine abgewandelte Form der Speerschleuder gedeutet.[15] Dies würde bedeuten, dass bereits im Aurignacien erste Speerschleudern in Form von Lochstäben in Gebrauch waren. Auch das Volk der Inuit benützen durchlochte Geräte, um die Wurfdistanz zu verlängern, doch scheinen die prähistorischen Lochstäbe nach Experimenten aufgrund ihres Material und ihrer Form besser für die Jagd geeignet gewesen zu sein.

Literatur

  • Nicholas J. Conard (Hrsg.): Eiszeit. Kunst und Kultur. Ostfildern 2009
  • Franz Eppel: Fund und Deutung. Eine europäische Urgeschichte.Wien/München. 1958.
  • Franz Eppel: Funktion und Deutung der Lochstäbe aus dem Magdalénien, in: Prähistorische Zeitschrift 36 (1958) 220-223
  • Joachim Hahn: Erkennen und bestimmen von Stein- und Knochenartefakten. Tübingen 1991
  • André Leroi-Gourhan: Prähistorische Kunst. Breisgau. 1971.
  • Gustav Riek: Die Eiszeitjägerstation am Vogelherd. Tübingen 1934
  • Leon Underwood[1]: Le baton de commandement, in: Man 65 (1965) 140-143

Einzelnachweise

  1. G. Bosinski u. D. Evers: Jagd im Eiszeitalter. Schr. Jagd- u. Naturkdemus. Burg Brüggen 2, Köln 1979
  2. Riek 1934, S. Tafel XXXI
  3. Conard 2009, S. 121
  4. Hahn 1991, S. 295
  5. Conard 2009, S. 297
  6. Leroi-Gourhan 1971, S. 74
  7. Leroi-Gourhan 1971, S. 71
  8. Leroi-Gourhan 1971, S. 449
  9. Bernhard Gramsch: Zwei neue mesolithische Hirschgeweih-Lochstäbe mit Verzierungen aus dem Bezirk Potsdam. Veröff. Mus. Ur- u. Frühgesch. Potsdam 12, 1979, S. 39–50
  10. Hugo Obermaier: Kommandostäbe. In: Max Ebert (Hrsg.) Reallexikon der Vorgeschichte, Bd. 7, Berlin 1926, S. 15–16
  11. Riek 1934, S. 66
  12. Hahn 1991, S. 294
  13. Eppel 1958, 220
  14. Eppel 1958, 221-223
  15. Underwood 1965, S. 140

Weblinks


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