- Marktkirche (Wiesbaden)
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Die neugotische Marktkirche in Wiesbaden ist die evangelische Hauptkirche der hessischen Landeshauptstadt. Sie wurde in den Jahren 1853 bis 1862 von Carl Boos als Nassauer Landesdom am Schlossplatz erbaut und war seinerzeit der größte Backsteinbau des Herzogtums Nassau.
Inhaltsverzeichnis
Geschichte
Vorgeschichte und Bauzeit (1850 bis 1862)
Am 27. Juni 1850 wurde die evangelische Hauptkirche Wiesbadens, die mittelalterliche Mauritiuskirche bei einem Brand zerstört. Nachdem ein Gutachten ergab, dass die noch stehenden Außenwände keine ausreichende Standfestigkeit mehr hatten, entschloss man sich für einen Neubau. Am 26. Januar 1851 wurde der Baumeister Carl Boos damit beauftragt, einen geeigneten Bauplatz zu finden. Boos legte daraufhin drei Vorschläge vor, nämlich den alten Standort der Mauritiuskirche am Mauritiusplatz, den schließlich gewählten am Schlossplatz sowie eine Stelle in den Weinbergen an den Taunushängen.
Da der Neubau dem Repräsentationsbedürfnis der nassauischen Residenz und aufstrebenden Kurstadt entsprechen sollte, verwarf man den alten Bauplatz in der beengten Altstadt. Die fünf Geistlichen im Kirchenvorstand bevorzugten den Standort in den Weinbergen auf der Anhöhe, damit die neue Kirche von weitem sichtbar sei, wurden aber von den sechs Laien überstimmt, die die zentrale Lage am Schlossplatz vorzogen. Der Nassauer Herzog stellte für den Bau das Grundstück zur Verfügung, beteiligte sich aber nicht weiter an den Baukosten.[1]
Carl Boos, der sich bereits durch das 1838 bis 1842 von ihm in Wiesbaden errichtete Ministerialgebäude ausgezeichnet hatte, erhielt ohne Wettbewerb noch im selben Jahr den Auftrag zur Errichtung der neuen Marktkirche.
Am 14. Januar 1852 legte er seine Pläne für einen verputzten Bruchsteinbau vor, änderte seine Pläne aber am 25. Februar 1852 dahingehend, dass er sich nun für einen für die Region untypischen Backsteinbau aussprach. Er orientierte sich dabei an Karl Friedrich Schinkels Friedrichswerderscher Kirche in Berlin. Der ungewöhnliche neugotische Entwurf mit seinen fünf Türmen erntete wegen des Materials, des gotischen Stils und der angeblich zu hohen Türme Kritik, von denen sich Boos aber nicht beeindrucken ließ. Er erhöhte die Türme sogar noch deutlich auf 300 Fuß für den Hauptturm (ca. 98 m), 175 Fuß für die Seitentürme (ca. 57 m) und 220 Fuß für die Chortürme (ca. 73 m). Die Grundsteinlegung fand am 22. September 1853 statt, die Einweihung am 13. November 1862.[2]
Besondere Ereignisse (seit 1862)
Zwischen 1890 und 1896 spielte der Komponist, Organist und Pianist Max Reger während seiner Zeit in Wiesbaden (1890–1898) auf der Orgel der Marktkirche. 1929 wurde Ernst Ludwig Dietrich Pfarrer, der von 1933 bis 1945 Landesbischof der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau war und den völkischen Deutschen Christen angehörte, von denen er sich allerdings 1938 distanzierte. Sein Nachfolger wurde 1934 bis zu seinem Tod im Jahr 1965 Willy Borngässer, der wegen seiner politischen Ansichten von den Nationalsozialisten mehrere Male verhaftet wurde und von 1943 bis 1945 im Zuchthaus saß. Martin Niemöller, Widerstandskämpfer, Mitgründer des Pfarrernotbundes und Ehrenbürger von Wiesbaden, hielt 1937 in der Marktkirche die letzte Predigt vor seiner Verhaftung.
Architektur
Äußeres
Das Vorbild der dreischiffigen Basilika ohne Querschiff in neogotischem Stil mit klassizistischer Ornamentik war die Friedrichswerdersche Kirche von Karl Friedrich Schinkel in Berlin. Die Marktkirche war der erste reine Ziegelbau im Herzogtum Nassau. Der 98 m hohe Westturm (widersprüchliche Angaben sprechen von 92 m) machen sie auch heute noch zum höchsten Gebäude der Stadt. Insgesamt gibt es 5 Türme: neben dem angesprochenem Westturm gibt es vier Ecktürme. Die Seitentürme haben eine Höhe von jeweils 58 m, die beiden Chortürme eine Höhe von 73 m.
Inneres
Das Innere hat eine Länge von 50 m, eine Breite von 20 m und eine Höhe von 28 m und ist von Emporen umzogen. Das Deckengewölbe wurde als Sternenhimmel ausgemalt.
Ausstattung
Orgel
Die ursprüngliche Orgel wurde 1863 von der Firma Eberhard Friedrich Walcker aus Ludwigsburg geliefert. Sie hatte 53 Register und eine mechanische Traktur. Im Jahr 1900 wurde die mechanische durch eine pneumatische Traktur, 1929 durch eine elektropneumatische und schließlich 1970 (Gebr.Oberlinger, Windesheim) durch eine Orgel mit elektrischer Spiel- und Registertraktur ersetzt.
Der letzte Umbau und Erweiterung datiert aus dem Jahr 1982 (Gebr.Oberlinger, Windesheim), bei der man die Anzahl der Register auf 85 (auf Schleifladen) erweiterte. 20 davon stammen noch aus der Ursprungsorgel von 1863.[3] Das Instrument hat insgesamt 6198 Pfeifen. Die Spiel- und Registertrakturen sind elektrisch. Der Hauptspieltisch stammt aus dem Jahre 1982 und ist nach dem Vorbild französischer Cavaillé-Coll-Orgeln angelegt.[4] Die Chororgel lässt sich vom Hauptspieltisch anspielen. Das Chamadenwerk ist frei ankoppelbar.
I Hauptwerk C–g3 Praestant 16' Gedackt 16' Prinzipal 8' Doppelflöte 8' Bourdon 8' Gemshorn 8' Octave 4' Rohrflöte 4' Quinte 22/3' Octave 2' Flachflöte 2' Cornett III-V 22/3' Mixtur V-VI 11/3' Cymbel IV 2/3' Fagott 16' Trompete 8' II Positiv C–g3 Gambe 16' Praestant 8' Gedackt 8' Salicional 8' Unda Maris 8' Principal 4' Salicet 4' Spillflöte 4' Principal 2' Larigot 11/3' Fourniture V 11/3' Dulcian 16' Cromorne 8' Rohrschalmey 8' Tremulant III Schwellwerk C–g3 Bourdon 16' Principal 8' Flûte 8' Flûte à cheminée 8' Viole de Gambe 8' Voix céleste 8' Octave 4' Flûte conique 4' Nazard 22/3' Doublette 2' Tierce 13/5' Septième 11/7' Piccolo 1' Plein Jeu V-VII 11/3' Basson 16' Trompette 8' Hautbois 8' Voix humaine 8' Clairon 4' Tremulant IV Bombardwerk C–g3 Flûte harmonique 8' Flûte octaviante 4' Cornet V 8' Fourniture IV 22/3' Bombarde 16' Trompette 8' Clarion 4' IV Chororgel C–g3 Gedackt 8' Quintatön 8' Praestant 4' Blockflöte 4' Waldflöte 2' Sesquialter II 11/3' Sifflet 1' Scharff IV 1' Vox humana 8' Tremulant Chamaden C–g3 Trompette 16' Trompette 8' Trompette 4' Pedal C–f1 Grand Bourdon 32' Principalbass 16' Violonbass 16' Subbass 16' Octavbass 8' Offenbass 8' Choralbass 4' Bassflöte 4' Basszink II 51/3' Rauschpfeife IV 22/3' Bombarde 32' Posaune 16' Trompete 8' Clarine 4' Pedal Chororgel C–f1 Subbass 16' Principalbass 8' Offenbass 4' - Koppeln: Normalkoppeln, Sub- und Superoktavkoppeln, Chamaden an jedes Teilwerk
- Spielhilfen: 6400-fache Setzeranlage, Sequenzer, Transposer, MIDI, programmierbare Crescendowalze.
Glocken
Die Marktkirche besitzt insgesamt fünf Bronzeglocken. Vier davon wurden 1962 von den Gebrüdern Rincker aus Sinn gegossen. Sie tragen Symbole der vier Evangelisten (Mensch, Löwe, Stier, Adler) sowie ein Wort des jeweiligen Evangeliums. Die fünfte Glocke, die nach einer Sammelaktion durch Kinder heute Kinderglocke genannt wird, stammt noch vom ursprünglichen Geläut aus dem Jahr 1862. Die fünf Glocken haben folgende Schlagtöne:[5]
Nr. Name Gussjahr Gießer Ø (cm) Masse (kg) Nominal Inschrift/Symbol 1 Matthäus 1962 Gebr. Rincker, Sinn h0 Mensch 2 Markus 1962 Gebr. Rincker, Sinn d1 Löwe 3 Lukas 1962 Gebr. Rincker, Sinn e1 Stier 4 Johannes 1962 Gebr. Rincker, Sinn fis1 Adler 5 Kinderglocke 1862 Andreas Hamm, Frankenthal a1 Darüber hinaus existiert noch eine weitere ursprüngliche Glocke (Schlagton gis'), die allerdings beschädigt ist. Sie dient als Taufstein-Sockel im Altarraum.
Glockenspiel (Carillon)
Die Marktkirche besitzt ein Carillon, das in etwa 65 m Höhe im Hauptturm untergebracht ist. Über 290 Treppenstufen kann man die mechanische Klaviatur erreichen, mit der man es bespielen kann. Es besteht aus 49 Bronzeglocken, von denen die größte 2,2 Tonnen, die kleinste 13 kg wiegt. Alle Glocken zusammen wiegen 11 Tonnen, einschließlich der Stahlkonstruktion, an der sie aufgehängt sind, 21 Tonnen. Eingeweiht wurde das Glockenspiel am Reformationstag, dem 31. Oktober 1986. Finanziert wurde es durch die Ev. Marktkirchengemeinde, die Stadt Wiesbaden und durch viele Spenden.
Die Tonfolge des Carillons beginnt mit den Tönen c1, d1, e1, f1 und wird dann chromatisch bis d5 fortgeführt. Mit Ausnahme der großen Matthäus-Glocke wurden die Läuteglocken in das Spiel integriert.[6]
Literatur
- Baedeker Wiesbaden Rheingau, Karl Baedeker GmbH, Ostfildern-Kemnat, 2001
- Die Marktkirche Wiesbaden, ausführlicher und illustrierter Kirchenführer, herausgegeben von der Marktkirchengemeinde, Wiesbaden
Siehe auch
- Liste der Sehenswürdigkeiten von Wiesbaden
- Liste bekannter Kirchengebäude
- Liste der höchsten Kirchtürme der Welt
- Willy Borngässer
Weblinks
Commons: Marktkirche (Wiesbaden) – Sammlung von Bildern, Videos und AudiodateienEinzelnachweise
- ↑ Baedecker
- ↑ Gottfried Kiesow: Architekturführer Wiesbaden - Durch die Stadt des Historismus, 2006, ISBN 3-936942-71-4, S. 60 ff.
- ↑ Kiesow, S. 63
- ↑ Disposition der Orgel, abgerufen am 24. Oktober 2010
- ↑ Informationen zu den Läuteglocken
- ↑ Informationen über das Glockenspiel auf www.marktkirche-wiesbaden.de
50.0822222222228.2427777777778Koordinaten: 50° 4′ 56″ N, 8° 14′ 34″ OKirchen des Historismus in Wiesbaden (Baujahr)Friedenskirche (1898–1900) | Bergkirche (1876–1879) | Bonifatiuskirche (1844–1849) | Dreifaltigkeitskirche (1908–1912) | Englische Kirche (1863–1865) | Maria-Hilf-Kirche (1893–1895) | Marktkirche (1853–1862) | Oranier-Gedächtniskirche (1902–1905) | Ringkirche (1892–1894) | Russische Kirche (1847–1855)
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