Nationalbolschewismus

Nationalbolschewismus

Nationalbolschewismus ist die Bezeichnung einer politischen Strömung, die zur Zeit der Weimarer Republik eine Anlehnung des Deutschen Reiches an die Sowjetunion anstrebte, aber keine weltweite kommunistische Revolution forderte.

Nationalbolschewistische Gedanken konnten sehr verschiedene Formen annehmen, so dass die entsprechenden Gruppierungen vielfach zerstritten waren.[1] Das Wort Nationalbolschewist wird auch als Schimpfwort für kommunistische oder für sozialrevolutionäre Nationalisten gebraucht. Als Erfinder des Begriffs gilt Karl Radek, der damit, nach der Abspaltung der KAPD von der KPD, abfällig die syndikalistisch orientierte kommunistische Politik der Hamburger Revolutionäre Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim bezeichnete (Hamburger Nationalkommunismus).

Inhaltsverzeichnis

Begriff

Als Hauptbegründer des Nationalbolschewismus gelten zwei Gründungsmitglieder der KPD, Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim, in Hamburg. Ihre Grundthese besagte, dass die „Verstümmelung des deutschen Reichskörpers“ durch das „Versailler Diktat“ und die Bedingungen der Entente zwangsweise zu einer Proletarisierung des gesamten deutschen Volkes, mit Ausnahme einer kleinen Zahl von Kapitalisten, führen müsse. Dementsprechend sahen sie nicht mehr nur die Arbeiterklasse, sondern fast das gesamte Volk als revolutionäres Subjekt, dessen Zukunft das sozialistische Rätesystem sei.

Dabei betrachteten sie Nationalismus und Sozialismus als untrennbar miteinander verbunden. Der Begriff eines „Volksganzen“ taucht 1919 erstmals in ihren Schriften auf. Sie sehen den Klassenkampf als eine Vorstufe zum „Volkskampf“ an. Die Arbeiterklasse, als fortschrittlichster Teil des „Volksganzen“, sollte die Befreiung aller unterdrückten „Volksmassen“ anführen, wobei die kommunistische Organisation eine Avantgardefunktion innehabe, ohne jedoch neue Führer zu schaffen. Damit werde aus der proletarischen Klassenorganisation eine „proletarische Volksorganisation“. Laufenberg und Wolffheim waren auch von syndikalistischen Ideen beeinflusst.

Weimarer Republik

Otto-Ernst Schüddekopf analysierte 1960 den Nationalbolschewismus in seiner einflussreichen Studie Linke Leute von Rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik[2] als bestehend aus drei Aspekten: einerseits nationalistische Tendenzen im Kommunismus, andererseits sozialistische Bestrebungen im völkischen Lager – und drittens das zeitweilige Bündnis beider Strömungen im innenpolitischen Kampf gegen Weimar und im außenpolitischen Wunsch nach deutsch-sowjetrussischer Kooperation.

Grundlagen des Nationalbolschewismus sah Schüddekopf in den Ideen von 1914, in der unvollendeten Novemberrevolution, der Ablehnung der daraus hervorgegangenen Weimarer Republik und der damit einhergehenden Zurückweisung des Friedensvertrages von Versailles, in der die Kommunisten und die Rechtsradikalen gemeinsame Gegner der Weimarer Koalition waren. Auch die straffe Organisation der KPD als Massenpartei und die Rücksichtslosigkeit der Sowjetregierung faszinierte die rechten Nationalisten.[3] Darüber hinaus nahm Klaus W. Epstein an:

„[Eine] Erklärung der Tatsache, warum diese Bewegung trotz ihrer universalgeschichtlichen Wurzeln nur in Deutschland wirkliche Bedeutung gewann“, liegt „in der Stärke der romantisch-nationalen antiwestlichen ‚deutschen Bewegung‘ des 19. Jahrhunderts – auf die die Nationalbolschewisten besonders stolz waren –, teilweise [auch] in der besonderen Tragik der deutschen politischen Entwicklung seit 1914.“

Klaus W. Epstein[4]

Der Begriff Nationalbolschewismus bezeichnet auch die Verschmelzung von konservativen und nationalistischen Gedanken mit dem Bolschewismus. Die Überwindung des Klassenkampfes, der vom Marxismus propagiert wird, war Teil der Ideologie der rechten Nationalbolschewisten. Ernst Niekisch grenzte sich von der „zugespitzte(n) Formulierung der Tatsache des Klassengegensatzes“[5] durch den Marxismus ab und propagierte gegen den marxschen Internationalismus einen starken Staat ohne Parteien, der sich an die Sowjetunion anlehnen solle. Linke Nationalbolschewisten wiederum traten für den Klassenkampf ein, wie beispielsweise Karl Otto Paetel. Insgesamt lässt sich der Nationalbolschewismus jedoch in das geistige Umfeld der Konservativen Revolution einordnen.

Verbindung zum Nationalsozialismus

Teile des Nationalbolschewismus waren auch in der NSDAP beheimatet oder standen deren linkem Flügel um Ernst Röhm, Gregor Strasser und Otto Strasser zeitweise nahe: Diese waren zwar Antisemiten,[6] stellten aber das Ziel eines nationalen Sozialismus in den Vordergrund. Otto Strasser trat bereits am 4. Juli 1930 gemeinsam mit einigen Gesinnungsgenossen aus der NSDAP aus und veröffentlichte den Aufruf Die Sozialisten verlassen die NSDAP [7] in der irrigen Hoffnung, die Partei damit zu spalten.

Gegenwarts-Rezeption

Ein Kopf des Nationalbolschewismus war Ernst Niekisch, der Herausgeber der Zeitschrift Widerstand. Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik, die im Widerstands-Verlag, Berlin, erschien. Manche Vertreter der heutigen Neuen Rechten beziehen sich unter Anwendung der Querfront-Strategie auf diese Ideologie und greifen deren Ideen auf. Neben der Gruppe um Ernst Niekisch firmierte ein Kreis um Karl Otto Paetel als Gruppe Sozialrevolutionärer Nationalisten. Für Ruth Fischer, die 1959 in den Frankfurter Heften über den National-Bolschewismus am Beispiel Ernst Niekischs publizierte, waren alle Nationalbolschewisten „Wanderer ins Nichts“.

Seit den 1990er Jahren zeigt sich eine Form des Nationalbolschewismus auch in der umstrittenen Nationalbolschewistischen Partei Russlands.

Literatur

  • Hans von Hentig: Die Besiegten. Zur Psychologie der Masse auf dem Rückzug. Deutscher Taschenbuchverlag (dtv), München 1966 (nach dem Ersten Weltkrieg war von Hentig ein führender Nationalbolschewist. Dieser militärgeschichtliche Essay handelt auch von deutscher Geschichte, aber nicht vom Nationalbolschewismus).
  • Ernst Niekisch & Andreas Paul Weber (Hrsg.): Widerstand. Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik. Widerstands-Verlag, Berlin (Juli 1926 bis September 1934).
  • Gerd Koenen: Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53512-7 (Inhalt, PDF).
  • Otto-Ernst Schüddekopf: Linke Leute von Rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik. Stuttgart 1960 (gekürzte Ausgabe: Nationalbolschewismus in Deutschland 1918–1933. Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-548-02996-5).
  • Karl Radek: Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts. [ohne Ort] 1923. In: Herrmann Weber (Hrsg.): Der deutsche Kommunismus. Dokumente 1915–1945. Köln 1972, S.142–147 (online).
  • Karl Otto Paetel: Nationalbolschewismus und nationalrevolutionäre Bewegungen in Deutschland. Geschichte, Ideologie, Personen. Verlag Siegfried Bublies, Schnellbach 1999, ISBN 3-926584-49-1 (Erstveröffentlichung 1965 unter dem Titel Versuchung oder Chance? Zur Geschichte des deutschen Nationalbolschewismus).
  • Erich Müller: Nationalbolschewismus. Hanseatische Verlagsanstalt, Hamburg 1933.
  • Alexander Bahar: Sozialrevolutionärer Nationalismus zwischen Konservativer Revolution und Sozialismus: Harro Schulze-Boysen und der "Gegner"-Kreis, Koblenz 1992

Weblinks

Einzelnachweise

  1. „Es gab keine nationalbolschewistische Partei, nur eine Unzahl von Bünden, Gruppen und Zeitschriften.“ Klaus Epstein: Rezension zu Schüddekopf, Otto-Ernst, Linke Leute von Rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960. In: Historische Zeitschrift 193, 1961, S. 676–681, hier S. 679.
  2. Stuttgart 1960.
  3. Klaus Epstein: Rezension zu Schüddekopf, Otto-Ernst, Linke Leute von Rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960. In: Historische Zeitschrift 193, 1961, S. 676–681, hier S. 678.
  4. Klaus Epstein: Rezension zu Schüddekopf, Otto-Ernst, Linke Leute von Rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960. In: Historische Zeitschrift 193, 1961, S. 676–681, hier S. 678.
  5. Ernst Niekisch: Der Weg der deutschen Arbeiterschaft zum Staat. Berlin 1925, S. 8.
  6. Robert S. Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich. Ein biographisches Lexikon. Harnack Verlag, München 1983, S. 262ff.; zum grundsätzlichen Antisemitismus der nationalsozialistischen Linken siehe das Glossar Rechtsextremismus der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung.
  7. Wortlaut des Aufrufs

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