Rätesystem

Rätesystem
Barrikaden in Paris während der Pariser Commune.

Eine Räterepublik oder Rätedemokratie ist ein politisches System, bei dem die Herrschaft von der Bevölkerung über direkt gewählte Räte ausgeübt wird.

Inhaltsverzeichnis

Arbeitsweise

In einer Räterepublik sind die Wähler in Basiseinheiten organisiert, beispielsweise die Arbeiter eines Betriebes oder die Bewohner eines Bezirkes. Sie entsenden direkt die Räte als öffentliche Funktionsträger, die Gesetzgeber, Regierung und Gerichte in einem bilden. Es gibt somit keine Gewaltenteilung – im Unterschied zu klassischen Demokratiemodellen nach Locke und Montesquieu. Sie sind der Basis direkt verantwortlich, an deren Weisungen gebunden und jederzeit abrufbar; vgl. imperatives Mandat.

Die Räte werden auf mehreren Ebenen gewählt: Auf Wohn- und Betriebsebene werden in Vollversammlungen Abgesandte in die örtlichen Räte entsandt. Diese delegieren wiederum Mitglieder in die nächsthöhere Ebene, die Bezirksräte. Das System der Delegierung setzt sich bis zum Zentralrat auf staatlicher Ebene fort, die Wahlvorgänge geschehen somit von unten nach oben. Die Ebenen sind meist an Verwaltungsebenen gebunden und haben ein imperatives Mandat, das heißt sie sind an den Auftrag ihrer Wähler gebunden – im Gegensatz zum Freien Mandat, bei dem die gewählten Mandatsträger nur „ihrem Gewissen“ verantwortlich sind. Die Räte können demgemäß von ihrem Posten jederzeit abgerufen oder abgewählt werden.

Entwicklung

Der Rätegedanke beziehungsweise die Idee der Räterepublik entstand aus der Arbeiterbewegung und wurde unterschiedlich sowohl von Michail Bakunin (Anarchismus) als auch von Karl Marx (Sozialismus/Kommunismus), Lenin sowie den Rätekommunisten weiterentwickelt.

Russlands Revolution

Erstes Rätesystem ab 1905

Ein Rätesystem wurde während der russischen Revolution ab 1905 erstmals umgesetzt. Dieses wurde jedoch nach dem Vorbild Pariser Kommune (1871) errichtet. Wie damals in Paris waren auch in den russischen Räten alle gewählten Mitglieder jederzeit rechenschaftspflichtig und abwählbar, außerdem durften sie nur einen durchschnittlichen Lohn verdienen und hatten keine Privilegien. Damals bildeten sich spontane Selbstverwaltungsorgane (Räte, russisch Sowjety) die, von den Bolschewiki unterstützt, nach der Oktoberrevolution 1917 fest eingerichtet wurden und das Grundgerüst der Sowjetunion bildeten.

Nach Ansicht einiger Historiker diente das Attentat auf Lenin den Bolschewiki lediglich als Vorwand, um die Rechte der Räte und der Opposition einzuschränken: Der Hintergrund des Attentats habe nichts mit dem Rätesystem zu tun, mit dem die linken Sozialrevolutionäre vollauf zufrieden gewesen seien, sondern der Anlass sei der Abschluss des Friedensvertrages von Brest-Litowsk mit Deutschland gewesen; kurz nach dessen Abschluss der Bürgerkrieg ausgebrochen war. Die Sozialrevolutionäre und Anarchisten kreideten Lenin den Abschluss dieses Vertrages (wie viele Bolschewiki vor Vertragsabschluss ebenfalls, z. B. Trotzki) als Verrat an der Revolution an. Im Gegenzug nutzten demnach die Bolschewiki unter Lenin die Wirren des folgenden Bürgerkrieges aus, um die Räte nicht nur in ihren Rechten einzuschränken, sondern sie auch zu zerschlagen. Dies sei nicht etwa erst nach Lenins Ableben, wie sonst postuliert, geschehen, sondern schon zu dessen Lebzeiten.

Kronstädter Aufstand

Dies wird teils als einer der maßgeblichen Gründe betrachtet – neben der Niederschlagung des Arbeiteraufstands in Petrograd – warum der Kronstädter Matrosenaufstand ausgebrochen war – es sei den Sozialrevolutionären und Anarchisten dabei hauptsächlich um die Erhaltung des Rätesystems gegangen. Lenin und dessen Partei schränkten die Kompetenzen der Räte stark ein, um die Macht der Partei auch weiterhin sicherzustellen, der Aufstand war eine der Folgen.

Trotzki, der den Kronstädter Matrosenaufstand mit niederschlug und die Anarchisten entmachten wollte, warf den Kronstädtern konterrevolutionäre Absichten vor. Für die Bolschewiki hingegen waren sie ein gewaltiger Störfaktor, weil die Forderung der Kronstädter Matrosen nach unabhängigen Räten der Absicht der Bolschewiki, die Macht ihrer Partei zu sichern, konträr gegenüber stand.

Nach Lenins Tod 1924 und der Machtübernahme Stalins nahm die Bedeutung der Räte in Russland weiter ab.

Schauplatz Ukraine

Der für die Ukraine ungünstige Friedensvertrag von Brest-Litowsk – die Ukraine ging an das Deutsche Reich verloren – trug mit dazu bei, dass dort zwischen 1918 und 1922 unter Nestor Machno und seiner Machnowschtschina eine anarchistische Revolution herrschte. Er installierte ein am Anarchismus orientiertes Rätesystem, das nach dem Rotationsprinzip funktionierte, wie oben geschildert; die Räte waren jederzeit abrufbar.

Der Anarchismus in der Ukraine fand aber 1922 ein jähes Ende: Kaum hatten die ehemaligen Verbündeten, die Bolschewiki, über die Konterrevolutionäre im eigenen Land gesiegt, griffen sie die Machnotschina an und besiegten sie.

Stalin

Unter Stalin wurde der Demokratische Zentralismus in einen „bürokratischen Absolutismus“ umgewandelt, um die Linke Opposition (unter Trotzki) und später die von Stalin als Rechte Opposition bezeichnete Strömung unter Bucharin aus der Partei drängen zu können. Stalin stärkte außerdem die Macht seines Amtes (Generalsekretär der KPdSU) und festigte sie mit der Schaffung eines Personenkults um ihn. Eine kritische Bezeichnung für diese Politik ist „proletarischer Bonapartismus“. Außenpolitisch wurde die Idee der Weltrevolution zugunsten der Doktrin des „Sozialismus in einem Land“ aufgegeben.

Deutschland ab 1918

In der Umbruchzeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs bildeten sich nach dem Vorbild der Russischen Sowjetrepublik auch in Österreich, Ungarn, Deutschland und andernorts spontan Arbeiter- und Soldatenräte, zuerst am 4. November 1918 in Kiel (siehe Novemberrevolution). Bereits im Dezember 1918 beschlossen die Räte aus ganz Deutschland im Reichsrätekongress jedoch, Wahlen zu einer verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung abzuhalten und entschieden sich somit mehrheitlich für eine parlamentarische Demokratie und gegen ein Rätesystem.

Nach dem Spartakusaufstand unter Führung der KPD im Januar 1919 stieg deren Zahl in Deutschland jedoch weiter an – nun gab es Arbeiter- und Soldatenräte auch in Berlin, München, Hamburg, Bremen und dem Ruhrgebiet. Mit der Idee der Räterepublik verbunden war das Ziel der Sozialisierung der Schlüsselindustrien (Kohle, Eisen und Stahl, Banken) im Sinne von Marx und teilweise nach dem sowjetrussischen Modell. Im Frühjahr 1919 wurden nach dem Vorbild der Sowjetunion in Bremen, Mannheim, Braunschweig, Fürth, Würzburg und in München wenige Wochen nach dem tödlichen Attentat auf Kurt Eisner 1919 offiziell Räterepubliken proklamiert. Vorangegangen war eine heftige Streikwelle in ganz Deutschland, die die Nationalversammlung mit rätedemokratischen Forderungen konfrontierte. Führende Verfechter des Rätegedankens in Deutschland waren Ernst Däumig und Richard Müller, die mit ihrer Theorie des "Reinen Rätesystems" einen erheblichen Einfluss auf die Bewegung hatten.[1]

Vertreter der deutschen Wirtschaft bekämpften diese Bewegung. Nachdem zuvor nur von Einzelunternehmen Geld an Freikorps oder antibolschewistische Bewegungen flossen, wurde auf Initiative Eduard Stadtlers, der dazu Anfang Dezember 1918 die Antibolschewistische Liga gegründet hatte, am 10. Januar 1919 im Berliner Flugverbandshaus Blumeshof der 500 Millionen Mark schwere Antibolschewismusfonds gegründet und seine Finanzierung über Wirtschaftsverbände auf deutsche Unternehmen umgelegt. Diese Gelder flossen fortan in viele antibolschewistische Projekte, insbesondere in die Freikorps genannten Privatarmeen, deren Werbebüros, andere aktive Kampfverbände und propagandistische nationalsozialistische Vorläuferorganisationen zwecks Zerschlagung der Rätedemokratie. [2] Auch der damals unbedeutende Adolf Hitler hat durch Ernst Röhm, der Zugang zu Armeegeldern hatte, Ende 1919 von diesen Geldern erhalten. Als Armee-V-Mann war sein Auftrag, die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) zu bespitzeln, die als links verdächtigt wurde. Sie war jedoch durch einen bayerischen Arbeitgeberverbandspräsidenten initiiert worden. Röhm und Hitler sind in die kleine Partei eingetreten. Offenbar durch das Geld – er mietete die erste Parteigeschäftsstelle an – und seinen Aktivismus setzte sich Hitler schnell an die Spitze und hatte als Parteiführer die DAP bereits ein halbes Jahr später, Anfang 1920, in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) umbenannt. Trotzdem war dies damals noch recht unbedeutend und eher propagandistisches Beiwerk gegenüber den militärischen Aktionen, die durch die ebenfalls finanzierten Freikorps und Armeeeinsätze durchgeführt wurden.

Die USPD gab Anfang Januar 1919 die Parole aus: Kein Blutvergießen! Einigung der Arbeiterschaft! Der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner und auch andere Länderregierungen wie Sachsen und Braunschweig forderten die Einstellungen der Kämpfe seitens der mehrheitssozialistischen Ebert-Regierung und Verhandlungen mit den Linkskräften zwecks Bildung einer gemeinsamen Regierung aller Marxistischen Parteien.[3]

Stadtler besuchte nach eigenen Angaben Gustav Noske am 9. Januar. Er behauptete später, er habe „Noskes Zaudern“ gebrochen. Am 10. Januar 1919 gab Noske den Befehl zum Einmarsch in Berlin. Der militärische Erfolg in Berlin brachte aber nicht die gewünschte Ruhe in Deutschland. Auch in Bremen wurde am 10. Januar die Räterepublik ausgerufen. Im Ruhrgebiet gab es Streik und der Arbeiter- und Soldatenrat Essen setzte eine Kontrollkommission über das Kohlensyndikat und den Bergbauverein ein. Wegen des Fehlens von Politikern hohen Formats auf Seiten der mehrheitssozialistischen Regierung und zunehmender Popularität Rosa Luxemburgs und der Spartakisten schien ihm eine rein militärische Lösung nicht für ganz Deutschland geeignet, und er überzeugte deshalb am 12. Januar 1919 im Hotel Eden den Stabschef der Garde-Kavallerie-Schützen-Division Waldemar Pabst von „der Notwendigkeit“, diese zu ermorden. Laut Pabst gab es für den politischen Mord auch das Einverständnis von Gustav Noske und Friedrich Ebert (beide SPD). [4] Pabst fand auch großzügige finanzielle Unterstützung von zwei Großindustriellen. Am 15. Januar wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Leuten des Stabschefs der Garde-Kavallerie-Schützen-Division Waldemar Pabst ermordet. [5]

Im März 1919 beschloss die Reichsregierung, gegen die Räte in ganz Deutschland vorzugehen: Die Reichswehr und Freikorps-Soldaten (sogenannte „Weiße Truppen“) erhielten den Auftrag, gegen die sozialistischen und kommunistischen Rätemilizen, die „Roten Truppen“, vorzugehen und lösten diese Räterepubliken gewaltsam auf. Am 11. August 1919 trat die Weimarer Verfassung in Kraft, die die Weimarer Republik konstituierte. Von den Räten blieb in Deutschland nur das bis heute existierende Rudiment der Betriebsräte, die zwar erhebliche Mitbestimmungsrechte im Unternehmen ausüben, jedoch keine Kontroll- oder Verfügungsgewalt über die Produktion besitzen.

Ungarn und andere Räterepubliken

Auch in Ungarn wurde unter maßgeblichem Einfluss von Béla Kun im März 1919 eine Räterepublik proklamiert, die aber auch nur bis August 1919 Bestand hatte. Weitere Räterepubliken gab es im Sommer 1919 in der Slowakei um die Stadt Košice und 1920-1921 für 16 Monate in der iranischen Provinz Gilan. Die Räte tauchten auch im Ungarischen Aufstand von 1956 wieder auf.

Referenzen

Hannah Arendt sprach sich in mehreren Schriften, insbesondere in ihrem 1963 erschienenen Werk: On Revolution (deutsch: Über die Revolution), für eine Räterepublik aus und zwar in dem Sinne, dass der „Geist der Amerikanischen Revolution“ aufgegriffen und dem Volk eine direkte Beteiligung an politischen Institutionen ermöglicht werden solle. Sie bezog sich hier auf Gedanken, die Thomas Jefferson in Briefen[6] erläuterte. Er sprach sich für ein ward-system („Bezirkssystem“ oder „elementare Republiken“) aus. Diese sollten 100 Bürger umfassen.

»Die Elementarrepubliken der Räte, die Kreisrepubliken, die Länderrepubliken und die Republik der Union sollten sich in einer Stufenfolge von Machtbefugnissen gliedern, deren jede, im Gesetz verankert, die ihr zufallenden Vollmachten besitzt und die alle zusammen in ein System von wirklich ausgewogenen Hemmungen und Kontrollen für die Regierung integriert sind.«[7]

Ansätze zur Verwirklichung des Rätegedankens sah Arendt im Ungarischen Volksaufstand.

Obwohl dann nicht mehr so genannt, hatten 1989 im Endstadium der VR Polen und der Deutschen Demokratischen Republik die „Runden Tische“ räterepublikanische Züge.

Siehe auch

Literatur

  • Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich (deutsch hrsg. von Friedrich Engels 1891)
  • Oscar Anweiler: Die Rätebewegung in Russland 1905-1921, Leiden 1958
  • Sebastian Haffner: Der Verrat. Erstausgabe 1968. Verlag 1900, Berlin 1995, ISBN 3-930278-00-6
  • Ralf Hoffrogge: Richard Müller - Der Mann hinter der Novemberrevolution, Karl-Dietz-Verlag Berlin 2008, ISBN 978-3-320-02148-1
  • Eberhard Kolb, Klaus Schönhoven: Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg Droste, Düsseldorf 1976, ISBN 3-7700-5084-3
  • Alexander Berkman: Das ABC des Anarchismus. Trotzdem Verlag, Grafenau 1999, ISBN 3-931786-00-5
  • Richard Müller: Vom Kaiserreich zur Republik. Wien : Malik, 1924-1925, 2 Bände (Wissenschaft und Gesellschaft, Band 3/4).
    • Band 1: Ein Beitrag zur Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung während des Weltkrieges.
    • Band 2: Die Novemberrevolution. Wien (Malik-Verlag) 1924
Beispiele für moderne Rätedemokratien
  • Ralf Burnicki: Anarchismus und Konsens. Gegen Repräsentation und Mehrheitsprinzip: Strukturen einer nichthierarchischen Demokratie. Verlag Edition AV, Frankfurt 2002, ISBN 3-936049-08-4
  • Takis Fotopoulos: Umfassende Demokratie. Die Antwort auf die Krise der Wachstums- und Marktwirtschaft. Trotzdem Verlagsgenossenschaft, Grafenau 2003, ISBN 3-931786-23-4

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Ralf Hoffrogge, Richard Müller - Der Mann hinter der Novemberrevolution, Berlin 2008, S. 108-116ff.; Haus der Bayerischen Geschichte (Hrsg.): Revolution! Bayern 1918/19. München 2008. S. 25 ff.; DGB-Geschichtswerkstatt Fürth (Hrsg.): Die Revolution 1918/1919 in Fürth. Fürth 1989. S. 35 ff.
  2. Eduard Stadtler, Erinnerungen, Als Antibolschewist 1918–1919, Neuer Zeitverlag GmbH, Düsseldorf 1935, S. 46–49
  3. Eduard Stadtler, Erinnerungen, Als Antibolschewist 1918–1919, Neuer Zeitverlag GmbH, Düsseldorf 1935, S. 46
  4. Eduard Stadtler, Erinnerungen, Als Antibolschewist 1918–1919, Neuer Zeitverlag GmbH, Düsseldorf 1935, S. 46–52
  5. Eduard Stadtler, Erinnerungen, Als Antibolschewist 1918–1919, Neuer Zeitverlag GmbH, Düsseldorf 1935, S. 46–52
  6. Brief vom 2. Februar 1816 an Cabel
  7. Hannah Arendt: Über die Revolution, 1965; Piper, 4. Aufl. München 1994, S. 325f

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