Nicolaus Bruhns

Nicolaus Bruhns

Nicolaus (auch: Nikolaus) Bruhns (manchmal Bruhn oder Bruns; * Dezember 1665 in Schwabstedt; † 29. März 1697 in Husum) war ein Komponist der norddeutschen Orgelschule und ein Orgel- und Geigenvirtuose. Sein überliefertes Werk umfasst vier vollständige Orgelwerke sowie zwölf geistliche Kantaten und enthält einige außergewöhnlich originelle Stücke.

Stammtafel der Musikerfamilie Bruhns

Inhaltsverzeichnis

Leben

Bruhns entstammte einer schleswig-holsteinischen Musikerfamilie. Sein Großvater Paul war Lautenist und Musikmeister in der Kapelle des Gottorper Herzogs. Nicolaus’ Onkel Friedrich Nicolaus Bruhns war Direktor der Hamburger Ratsmusik. Nicolaus’ Vater Paul – möglicherweise ein Schüler von Franz Tunder – war Organist in Schwabstedt, wo er die Tochter des Vorgängers heiratete.

Der Werdegang von Nicolaus Bruhns ist nur bruchstückhaft überliefert.

Lübeck und Kopenhagen

Nicolaus erhielt ersten Unterricht vermutlich von seinem Vater. Wie Ernst Ludwig Gerber später in seinem Lexikon der Tonkünstler schrieb, beherrschte er bereits in frühem Alter das Orgelspiel und fertigte „gute“ Kompositionen für Klavier und Stimme an. Wahrscheinlich wirkten auch musikalische Eindrücke aus dem benachbarten Husum, der wohl reichsten Stadt der nordfriesischen Küste, auf ihn ein. Nicolaus bewies genügend Talent, um auf Anraten seines Vaters mit 16 Jahren bei seinem Onkel Peter, Ratsmusiker in Lübeck, Geige und Gambe zu erlernen. Auf diesen Instrumenten erwarb er „eine solche Fähigkeit, dass ihn jeder, wer ihn nur hörte und kennen lernte, bewundern und schätzen musste“ (Gerber). Von allen Lübecker Violinisten – deren Kunstfertigkeit im In- und Ausland bestaunt wurde – war Bruhns der jüngste Vertreter. Außerdem war er der Lieblingsschüler Dietrich Buxtehudes, bei dem er Komposition studierte und sein Orgelspiel vervollkommnete. Laut Matthesons Musiklexikon war Buxtehude Bruhns’ größtes Vorbild.

Nachdem Bruhns einige Zeit in der umliegenden Region umherreiste, erlangte er dank eines an den Organisten der Kopenhagener Nicolaikirche, Johann Lorenz d. J., gerichteten Empfehlungsschreibens von Buxtehude eine Stelle als Komponist und Geiger am dortigen Hof – derartige Fahrten in die Nordländer kamen unter Lübecker Musikern des Öfteren vor. Sein späterer Schwager Johann Hermann Hesse, der in Kopenhagen Beziehungen hatte, verhalf ihm zu dieser Reise. Bruhns blieb einige Jahre in Kopenhagen; die genauen Umstände seines Aufenthalts sind unbekannt. Beamtet war Bruhns nicht, als sicher gilt jedoch, dass er stellvertretender Organist von Lorenz war. Wahrscheinlich trat er als Orgel- und Violinvirtuose in dessen gerühmten Abendkonzerten sowie am königlichen Hof auf.

Husum

Nach dem Tod des alten Organisten Friedrich zur Linden der – heute nicht mehr bestehenden – Husumer Stadtkirche im Januar 1689 wollte der Stadtrat dem bereits zu gewissem Ruhm gekommenen Bruhns diese Stelle anbieten. Da man nicht wusste, wo er sich gerade aufhielt, wurde die Orgel nur vorläufig besetzt, und die Stadtväter versuchten, Bruhns ausfindig zu machen. Dies geschah in großer Eile – sogar des Nachts war ein Kurier nach Schwabstedt unterwegs, um vom Vater oder Bruder dessen Anschrift zu erhalten. Möglicherweise interessierten sich andere, konkurrierende Städte für den begabten Musiker. Nach einem Probespiel am 29. März in Husum wurde er schließlich einstimmig angenommen, „da vorher seinesgleichen von Kompositionen und Traktierung allerlei Arten von Instrumenten in dieser Stadt nicht war gehöret worden“. Mit seiner Berufung zum Organisten heiratete Bruhns Anna Dorothea Hesse, die Stiefschwester seiner Tante.

Drei Monate später bot der Kieler Stadtrat ihm eine Stelle als Nachfolger des damaligen Organisten der St. Nikolaikirche Claus Dengel an, was zu einem heftigen Streit zwischen beiden Städten führte. Bruhns, von einer von Kiel „mittels gewisser Vorwände“ geschürten Intrige eingeschüchtert, reiste am 22. Juli des Jahres dorthin und versprach, in drei Wochen sein Amt anzutreten. Nachdem die Stadt Husum, die sich in ihrer Ehre verletzt fühlte, Bruhns als einzigem Organisten eine Erhöhung des ausgezahlten Gehalts um 100 auf 500 Taler jährlich versprochen hatte, blieb er weiterhin in Husum.
Mit dem Wechsel der Husumer Deputierten im Jahr 1691 wurde Bruhns, gegen den Willen des Stadtrates, die außergewöhnliche Gehaltserhöhung verweigert. Er reichte beim Gottorper Herzog eine Klage ein, die er auch gewann. In seinem Schreiben deutete der Herzog an, dass Bruhns das Geld dringend benötigte.

Neben der 1629 von Gottfried Fritsch restaurierten Orgel stand Bruhns auch der Vokalchor der Kirche zur Verfügung. Zwei Jahre lang arbeitete er mit dem örtlichen Kantor Georg Ferber zusammen, der für seine ausnehmende Bassstimme bekannt war und schließlich von Petrus Steinbrecher abgelöst wurde. Die Leitung des Instrumentalensembles übernahm der Stadtmusikant Heinrich Pape.

Quittung von Georg Bruhns, Nicolaus’ Bruder

Quittung von Georg Bruhns,
dem Bruder von Nicolaus

Bis zu seinem frühen Tod im Alter von 31 Jahren[1] blieb Bruhns weiterhin in Husum. Am 2. April 1697 wurde er zu Grabe getragen, „von jedermann bedauert, dass ein solcher trefflicher Meister in seiner Profession, auch vertragsamer Mann nicht länger hat leben sollen“.[2] Laut dem Kirchenarchiv der Stadt starb Bruhns an der „Schwindsucht“.

Bruhns hinterließ fünf Kinder, die von seinem Schwager in väterliche Obhut aufgenommen wurden; sein einziger Sohn studierte später Theologie. Nicolaus hatte einen Bruder, Georg, der sein Amt in Husum übernahm. Allerdings sind von diesem weder Kompositionen noch Hinweise auf eine historische Nachwirkung bekannt, sodass mit Nicolaus auch die Geschichte der Musikerfamilie Bruhns erlosch.

Spieltechnik

Bruhns galt weit über die Stadtgrenzen Husums hinaus als Orgel- und Violinvirtuose. Wie Mattheson berichtet, habe er dann und wann gleichzeitig Geige und an der Orgel mit dem Pedal den Bass gespielt.[3] Gerber berichtet 1790/92, dass er währenddessen sogar gesungen habe, sodass sich sein Spiel wie von mehreren Personen anhörte. Möglicherweise führte Bruhns seine Kantate Mein Herz ist bereit auf diese Art auf.

Bruhns soll auf der Geige eine Spieltechnik besessen haben, die es ihm erlaubte, aushaltende vierstimmige Akkorde zu spielen. Albert Schweitzer führt in seiner Monographie über Johann Sebastian Bach bei der Besprechung von Bachs Solo-Violinsonaten Bruhns als einen Beleg dafür an, dass in der Zeit vor und bis Bach das mehrstimmige Spiel auf der Geige ohne die heute üblichen Intervallzerlegungen oder das Arpeggieren möglich und üblich gewesen sei.

Das überlieferte Werk lässt keine Rückschlüsse auf das ebenfalls von Gerber berichtete Geschick im Gambenspiel zu, jedoch finden sich Hinweise darauf möglicherweise in den Kompositionen Buxtehudes: Wahrscheinlich schrieb Buxtehude seine Kantate Jubilate Domino für Alt und obligate Gambe für Bruhns und sah ihn als Gambensolisten der Kantate Gen Himmel vor. Sollte dies stimmen, so würden die virtuosen Läufe der Gambenstimmen beweisen, dass die Gambe nicht nur ein Nebeninstrument von Bruhns war.[4]

Werk

Aufgrund seines frühen Todes sind von Bruhns nur vier vollständige Orgelwerke und zwölf geistliche Kantaten eindeutig überliefert. Er schrieb auch Kammermusik, die jedoch verschollen ist.

Geck charakterisierte Bruhns als einen Komponisten „mit der Leidenschaft eines Künstlers, der nicht über seinem Werk steht, sondern in ihm aufgeht“. Bruhns’ Kompositionen werden in hohem Maße von ihrer erwünschten emotionalen Wirkung bestimmt, die über formale Aspekte vorherrscht.

Orgelwerk

Manuskript des kleinen Präludiums in e-Moll (Tabulatur)

In Quantz’ Versuch einer Anweisung… wurde Bruhns zu den besten Verfassern von Orgelwerken seiner Zeit gerechnet. Drei als „Präludium“ oder „Präludium und Fuge“ bezeichnete Tokkaten, sowie eine Fantasie über den Choral Nun komm der Heiden Heiland stammen mit Sicherheit von Bruhns.

Die Orgelwerke weisen typische Merkmale des norddeutschen Orgelstils auf: Kontrast von homophonen und fugierten Abschnitten, Arpeggii und virtuose Pedalpassagen mit Trillern. Auffallend sind die kühne Harmonik und verschachtelte Rhythmik. Bruhns schöpfte alle Freiheiten des Stylus Phantasticus aus, um affektreiche, zuweilen herb und fast „modern“ anmutende Kompositionen zu schaffen. Da die schnellen Läufe der Präludien klare und präzise Rhythmik – teilweise unter Einsatz des Doppelpedals – erfordern, stellen sie hohe Anforderungen an den Interpreten.

„Großes“ Präludium in e-MollSound-icon.png Hörbeispiel (Info), Partitur

Dieses Präludium ist zweifellos Bruhns’ eigenwilligstes Orgelwerk. Es besteht aus zwei voneinander unabhängigen Fugen mit jeweiligem Vor-, Zwischen- und Nachspiel, in die freie Abschnitte eingestreut sind. Mit seiner enormen Vielfältigkeit treibt es den „Fantastischen Stil“ auf die Spitze. Apel verglich das Stück – möglicherweise in Anlehnung an eine Charakterisierung des Stylus Phantasticus in Matthesons Werk Der vollkommene Capellmeister – mit einem „magischen Theater, in dem jeden Augenblick neue Personen auftreten, sich über die Bühne bewegen und wieder verschwinden“.[5]
Die freie Einleitung besteht aus einer Chromatik, die mit im späteren ersten Fugenthema verdeutlichten kürzeren Tonfolgen verwoben ist. Die Fuge beginnt mit einer chromatischen Tonfolge, der das vom Einsatz der zweiten Stimme begleitete Hauptthema folgt:
Noten: Fuge 1
Die Fuge geht mittels einer freien Überleitung in einen Abschnitt im 12/8-Takt über. Diesem schließt sich eine unerwartete Arpeggio-Passage an. Im darauf folgenden Ostinato wechseln sich Manual und Pedal ab. Schließlich setzt die zweite Fuge mit ihrem synkopierten Hauptthema ein:
Noten: Fuge 2
Der im 24/16-Takt gehaltene Schlussteil ist von komplexem Aufbau und endet mit einem auf E aufgebauten Akkord.

„Kleines“ Präludium in e-MollSound-icon.png Hörbeispiel und Partitur

Das „kleine“ e-Moll-Präludium ist nicht so reichhaltig wie das größere, aber von ebenso zerstückeltem Aufbau. Der Einleitung, die aus einer schnellen Pedalfolge mit punktweiser Begleitung durch das Manual besteht, schließt sich ein langer Echoteil an. Darauf folgt ein fröhlich anmutendes Fugato. Dem nächsten Abschnitt in Allegro folgen einige Arpeggio-Takte, die zum Schlussteil überleiten.

Präludium in G-Dur

Dieses Werk ist formal ähnlich wie viele andere norddeutsche Tokkaten aufgebaut. Es besteht aus Vorspiel, Fuge mit Reperkussionsthema, Zwischenspiel, Fuge über die Dreiertakt-Variante des Themas und Nachspiel. Es handelt sich hierbei im Gegensatz zu den beiden e-Moll-Präludien um ein Stück, das trotz scheinbar unterschiedlicher Abschnitte über innere Kohärenz verfügt und von sorgfältigem Aufbau zeugt.
Nach einer Tokkata und einigen einleitenden Takten beginnt die erste Fuge, deren Thema, ähnlich wie bei Buxtehude, wiederholte Noten enthält. In schneller Abfolge setzen vier weitere Stimmen ein. Einige Stellen verwenden das Doppelpedal und sind somit sechsstimmig; die Unterschiede in der Tonhöhe beider Pedalstimmen erreichen bis zu zwei Oktaven. Einem Zwischenspiel folgt die ebenfalls fünfstimmige zweite Fuge. Ein virtuoses Pedalspiel leitet schließlich das dramatische Nachspiel ein.

Choralfantasie: Nun komm der Heiden Heiland

Nun komm der Heiden Heiland ist eine deutsche Übersetzung des mittelalterlichen Hymnus Veni redemptor gentium und wurde im ersten lutherischen Gesangbuch von 1524 in Erfurt veröffentlicht. Sie wird hier von der ersten, im Tenor gehaltenen Begleitstimme grob wiedergegeben:
Noten: Thema
Nacheinander übernehmen der Alt und schließlich das Pedal diese Melodie. Mit der Zeit kommen immer neue Figuren und Melodiefragmente mit Echopassagen und Einschüben im Stil der Partita hinzu. Mit einer jähen Unterbrechung endet der Klangreichtum, um schließlich in einen gleichförmig fließenden letzten Abschnitt zu münden, der relativ unspektakulär abschließt.

Vokalwerk

Bruhns’ Vokalwerk lässt sich grob in drei Kategorien teilen. Einen Teil bilden die durchkomponierten Konzerte, die nur aus einem zusammenhängenden Stück bestehen und die Texte der Schriften unverändert übernehmen.
Den anderen großen Teil bilden die durchnummerierten Konzerte, die – wie auch die Kantate im engeren Sinn – aus mehreren Sätzen bestehen und die Originaltexte paraphrasieren. Dabei verwenden sie alle Techniken, die auch in der Oper Gebrauch finden, wie Ritornelle, Arien, Duos, Trios und Chöre.
Schließlich ist noch eine als lutherisches Kirchenlied konzipierte Choralkantate überliefert.

Bruhns vereinte Stilelemente zweier entgegengesetzter Musikgattungen, nämlich des von Schütz geprägten geistlichen Konzerts und des bis dahin weitgehend der weltlichen Musik vorbehaltenen Madrigals. Ebenso wie die Kompositionen für Orgel zeugen die Vokalwerke von einem großen Gespür für die Affektwirkung.

Einige der Werke verlangen eher instrumentale, andere eher vokale Souveränität. Ebenso finden sich fugierte Abschnitte, die instrumentale und vokale Stimmen vereinen, wie etwa bei der Kantate Jauchzet dem Herren. Dies lässt darauf schließen, dass Bruhns Stimmen und Instrumente weitgehend als eine Einheit betrachtete. Die Instrumentation ist allerdings recht begrenzt, was damit zusammenhängen dürfte, dass Bruhns keine Gelegenheit zu diesbezüglicher Ausbildung erhielt.

Nur vereinzelt sind die Originaltitel der Vokalwerke – wie etwa „Madrigal“ (Hemmt eure Tränenflut) oder „Canzon spirituale“ (O werter heil’ger Geist) – überliefert. Heute werden sie gemeinhin unter dem Begriff „Kantaten“ zusammengefasst. Eine Datierung ist nur grob und vereinzelt möglich. Die Reihenfolge der im Folgenden näher erläuterten Werke folgt der Gesamtausgabe.

Durchkomponierte Konzerte

Die Zeit meines Abschieds ist vorhanden

Vierstimmiger Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass), Saiteninstrumente, Generalbass
Text: 2. Timotheus, Kapitel 4, Verse 6–8
Dieses Werk steht noch größtenteils in der Tradition der Konzertmotette: Jede Idee des Textes wird motivisch selbstständig umgesetzt. Das Werk gliedert sich in fünf literarische Abschnitte, die in drei musikalischen Sätzen zusammengefasst sind. Die Fünfgliederung erinnert an Tunder, wirkt jedoch wegen ausgeglichenerer Abschnitte homogener.
Anfang von Die Zeit meines Abschieds ist vorhanden, Partiturabschrift von Georg Österreich
Das Stück beginnt mit einer vierstimmigen Fuge in D-Dur, die aus dem Thema Die Zeit meines Abschieds ist vorhanden und einem Gegenthema über Ich habe einen guten Kampf und einer harmonischen Sequenz über gekämpfet besteht. Der Hauptidee des zweiten Textabschnitts (Ich habe den Lauf vollendet), der „Lauf“, wird durch Betonungen des Vokals, begleitet von einem Echo der Saiteninstrumente, hervorgehoben. Der Zentralabschnitt wird von der schrittweisen chromatischen Erhöhung von hinfort, sowie einem harmonischen Abschluss über der Gerechtigkeit bestimmt. Der letzte Abschnitt (Nicht mir aber allein) beginnt mit Sopran und Alt, die von Tenor und Bass verstärkt werden.

Der Herr hat seinem Stuhl im Himmel bereitet

Bass, zwei Violinen, zwei Gamben, Violine oder Fagott, Generalbass
Text: 103. Psalm, Verse 19–22
Von der Stimmführung her ist diese Kantate in A-Dur wie ein dreistimmiges Concertato aufgebaut und enthält zahlreiche fugierte Abschnitte. Der erste Textabschnitt wird vom Solobass eröffnet, auf den das fünfstimmige Instrumentalensemble antwortet. Den Kern des Werkes bilden die Verse 20 sowie 21/22. Eine breit ausgeführte Allelujah-Fuge schließt das Werk ab, in dem Bruhns eher auf einen mathematisch genauen formalen Aufbau als auf eine getreue musikalische Umsetzung des Textmaterials Wert legt.

Jauchzet dem Herren, alle Welt

Tenor, zwei Violinen und Generalbass
Text: 100. Psalm
Diese Kantate gliedert sich in drei große Teile. Der erste reiht Rezitative und Ariosos aneinander, die ob ihrer schnellen Tonfolgen hohe Ansprüche an den Tenor stellen. Der zweite (Geht zu seinen Toren) enthält eine vierstimmige Fuge, die neben dem Sänger alle Instrumente mit einbezieht. Der dritte Teil ähnelt dem ersten.

De profundis

Bass, 2 Violinen und Generalbass
Text: 130. Psalm, Verse 1–8
Diese Bass-Solokantate, möglicherweise auch die beiden virtuosen Stücke Der Herr hat seinem Stuhl im Himmel bereitet und Die Zeit meines Abschieds ist vorhanden, könnte Bruhns in Husum für Ferber geschrieben haben. Es handelt sich dabei um eine der beiden überlieferten Kompositionen in lateinischer Sprache. Die Bassstimme findet ihr Gegenstück in den wenigen Instrumenten, die zeitweise in den Vordergrund rücken.
Das Stück beginnt mit einer schwermütigen Sinfonia. Die Tiefe wird durch einen chromatischen Abstieg bei Fiant aures tuae intendentes symbolisiert. Der Zentralteil stellt den zweifelnden Gläubigen mit einem zögernden Wechsel zwischen langsamen Rezitativen und schnelleren Ariosos dar. Eine fröhlich anmutende Beschleunigung des Tempos bei et ipse redimet legt jeden Zweifel beiseite und mündet schließlich in ein jubilierendes Amen.

Mein Herz ist bereitSound-icon.png Hörbeispiel und Partitur

Bass und obligate Violine
Text: 57. Psalm, Verse 8–12
Diese Komposition ist diejenige, die einen Einblick in Bruhns’ Spieltechnik gibt. Insbesondere im Präludium wird das virtuose Geigenspiel, bei dem häufig zwei oder drei Saiten gleichzeitig erklingen, als Effekt verwertet. Der Text ist die deutsche Übersetzung von Paratum cor meum. Die Kantate besteht aus fünf Abschnitten und ist von komplexer Struktur. Die naiv-heitere Grundstimmung wird durch zahlreiche Figuren, wie die Melodie Wache auf, meine Ehre und den Wechsel zwischen Stimme und Instrumenten erreicht.

Nummerkonzerte

Wohl dem, der den Herren fürchtet

2 Sopranos, Bass, Streicher und Generalbass
Text: 128. Psalm, Verse 1–6
Diese Kantate besteht aus vier Sätzen. Der Einleitung im konzertanten Stil folgt der zweite Satz (Dein Weib wird sein), der ausschließlich den Sopranos vorbehalten ist. Der dritte Satz (Siehe, also wird gesegnet der Mann) wird dementsprechend vom Bass bestimmt. Der vierte und letzte Satz schließlich (Der Herr wird dich segnen aus Zion) besteht aus Wechseln zwischen den Stimmen.

Paratum cor meum

Zwei Tenöre, Bass, Violine, zwei Gamben, Generalbass
Text: 57. Psalm, Verse 8–12 (lat. Fassung)
Dieses Konzert besteht aus einem eröffnenden Allelujah und drei Sätzen. Der erste (Verse 8–9) und der letzte (Vers 12) Satz ist dreistimmig mit Instrumentalensemble. Der auf den übrigen Versen aufgebaute solistische Mittelteil besteht aus einem Rezitativ und Arioso für den ersten Tenor sowie zwei Ariosi für den zweiten Tenor.

Ich liege und schlafe

Vierstimmiger Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass), vier Einzelstimmen, Streicher, Generalbass
Text des Anfangs- und Schlusssatzes: 4. Psalm, Vers 9; Mittelsatz: Ich hab Gott Lob das Mein vollbracht (Georg Werner)
Dem Text entsprechend ist die Kantate in der „tragischen“ Tonart c-Moll gehalten. Eine Sinfonia der Streicher geht dem Einzug der Stimmen voran. Der zweite Satz ist eine Soloarie für Sopran. An ein instrumentales Ritornell schließt sich das Tenor-Alt-Duo In Jesu Namen an. Nach einem zweiten Ritornello folgt eine Soloarie für Bass in der Tradition Buxtehudes.
Die ergreifende, von einigen Autoren als „mystisch“ bezeichnete musikalische Umsetzung der Betrachtungen über den Tod macht die ganz besondere Qualität dieser Kantate aus.
Der Ecksatz dieses Stückes ist auch mit dem Text Ich habe Lust abzuscheiden (nach Phil. I, 23) als Parodie überliefert.

Muss nicht der Mensch

Vierstimmiger Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass), vier Einzelstimmen, Streicher, zwei Clarini, Generalbass
Text: Paraphrase von Hiob VII, Kapitel I, 1
Diese Kantate ist vermutlich ein unter der Aufsicht Buxtehudes entstandenes Jugendwerk, in dem Bruhns versuchte, den Stil der „großen Abendmusiken“ seines Lehrers zu imitieren. Sie beginnt mit einer Ouvertüre, in der Clarini, Streicher und Clarini aufeinanderfolgen. Darauf folgen drei Strophen, die allesamt mit einem Chor über das fugierte Thema Da gibt es schon auf allen Seiten abschließen. Der zweite Teil der Kantate besteht aus je einer Strophe für Bass und Tenor und mündet schließlich in die Schlussstrophe über Triumph, der Kampf ist gekämpfet.
Parallelen zwischen diesem Madrigal und Buxtehudes Abendmusik „Das Jüngste Gericht“, BuxWV 129, deuten darauf hin, dass Bruhns an der Entstehung letzterer lebhaften Anteil hatte (Lit.: Kölsch 1957, S. 22).

O werter heil’ger Geist

Vierstimmiger Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass), vier Einzelstimmen, zwei Clarini, Streicher und Generalbass
Text: Paraphrase des Luther-Chorals Komm heiliger Geist
Text und ausgereifter Stil dieser viersätzigen Kantate deuten darauf hin, dass sie 1691 zur Amtseinführung eines Predigers geschrieben wurde. Der erste Satz besteht aus einem Ritornello in C-Dur, gefolgt von einem Refrain über Die sündliche Schwachheit, der wiederum mit einem Ritornello abschließt. Die drei folgenden Sätze bestehen aus Einsätzen der Solisten, die gelegentlich vom anfänglichen Ritornello unterbrochen werden und mit einem Schlusschor enden.

Hemmt eure Tränenflut

Vierstimmiger Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass), vier Einzelstimmen, Streicher und Generalbass
Textquelle unbekannt
Dieses möglicherweise letzte Werk des Meisters zelebriert das Osterfest. Intstrumentale Ritornellos und im Sologesang vorgetragene Strophen wechseln ab. Am Schluss steht ein Amen, das auf dem Choral Christ lag in Todes Banden basiert.

Choralkonzert

Erstanden ist der heilige Christ

2 Tenöre, 2 Violinen und Generalbass
Die Choralkantate basiert auf dem aus dem 14. Jahrhundert stammenden lateinischen Gesang Surrexit Christus hodie, der 1531 im Brüdergesangbuch von Michael Weisse veröffentlicht wurde. Der von Bruhns angewandte Cantus firmus wurde bereits 1555 von Valentin Triller verwendet.

Fragmentarische und ungewisse Werke

Manuskript der Fuge in g-Moll

Ein Präludium in g-Moll, das ähnlich lang wie das kleine e-Moll-Präludium ist, wurde 1970 entdeckt. Das Vorspiel macht Gebrauch von Parallelbewegungen auf dem Manual, die mit einem Pedalsolo abwechseln. Ein kurzes Adagio, das mit einem Orgelpunkt abschließt, leitet die schwungvolle Fuge ein. Der Schluss kommt unerwartet in Form eines wiederholten Akkords. Kollmannsperger schreibt dieses Präludium Arnold Matthias Brunckhorst zu. Anzeichen für eine fremde Verfasserschaft ist die – verglichen mit den anderen Orgelwerken Bruhns’ – recht einfache Struktur der Komposition. Der Autor ist in der einzigen Quelle mit Mons: Prunth. angegeben.[6]

Von einem weiteren Orgelwerk von Bruhns, einem Präludium in D-Dur, ist nur ein Adagio-Abschnitt überliefert.

Eitner schrieb noch die Kantate Wie lieblich sind deine Wohnungen und das Madrigal Satanas und sein Getümmel Nicolaus Bruhns zu.[7] Als Autor ersterer wurde allerdings sein Onkel Friedrich Nicolaus mit hoher Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Zweitere muss aus stilistischen Gründen Bruhns abgesprochen werden; vermutlich stammt sie ebenfalls vom hamburgischen Ratsmusikanten.

Nachwirkung

Musikalischer Einfluss

Ob und wie Nicolaus Bruhns die spätere Barockmusik direkt beeinflusst hat, lässt sich angesichts der knappen Quellenlage nicht eindeutig feststellen. Ein Schriftstück, in dem sein Name auftaucht, ist ein 1775 von Carl Philipp Emanuel Bach verfasster Brief an Johann Nikolaus Forkel, aus dem kurz hervorgeht, dass sein Vater Johann Sebastian die Orgelwerke mehrerer norddeutscher Komponisten – darunter auch Bruhns – sowie einiger französischer Komponisten „geliebt und studiert“ haben soll. Ähnliches schrieb er 1754 in seinem Nekrolog auf Johann Sebastian Bach. Der Grund lag wohl in Johann Sebastians Zugang zur so genannten Möllerschen Handschrift und zum Andreas-Bach-Buch seines älteren Bruders und Klavierlehrers Johann Christoph Bach. Diese Musiksammlungen enthalten Bruhns’ Präludien in e-Moll sowie das Präludium in G-Dur. Riedel untersuchte mögliche formale Gemeinsamkeiten im Werk Bruhns’ und Bachs.[8] Einige von Bachs frühen Werken enthalten zwar Motive, die eine oberflächliche Ähnlichkeit zu denen von Bruhns aufweisen. Da diese aber zur damaligen Zeit weit verbreitet waren, kann kein beweiskräftiger Zusammenhang zwischen den Werken der beiden Musiker hergestellt werden.

Über das Vokalwerk sind keine Referenzen bekannt. Mehrere Musikwissenschaftler folgten jedoch Steins Darstellung von Bruhns als einem der Komponisten, die den Weg zur madrigalischen Kantate ebneten;[9] dies wird von Webber bestritten.[10]

Moderne Wiederentdeckung

In den 1930er Jahren wurden erstmals moderne biografische Nachforschungen über Bruhns betrieben. Damals kannte man vom Werk nur vier der Orgeltokkaten sowie eine Bass-Solokantate. Stein veröffentlichte 1939 die erste Gesamtausgabe des Werks als „Urtext“. Ebenso wie bei den meisten norddeutschen Meistern fehlt es auch bei Bruhns sowohl an gesichertem autographem Quellenmaterial als auch an Mehrfachüberlieferungen, sodass auf einzelne Abschriften zurückgegriffen werden muss, wie sie unter anderem von Agricola, Walther und Österreich angefertigt wurden. Neuere Ausgaben der Werke versuchen dies zu berücksichtigen und bei der Abschrift entstandene eventuelle Fehler zu korrigieren.

Nicolaus Bruhns wird kurz in einem Abschnitt der Novelle Renate (1878) des gebürtigen Husumers und Musikfreundes Theodor Storm erwähnt, in dem das abendliche Orgelspiel von Georg Bruhns stimmungspoetisch verwertet wird. Leben und Werk des Komponisten bilden die Grundlage für den Roman Mitternacht von Andreas Nohr (Röll-Verlag 2000, ISBN 3-89754-175-0).

Husum war Sitz der mittlerweile aufgelösten Nicolaus-Bruhns-Gesellschaft e. V., die 1947 im Anschluss an ein vom Rundfunk übertragenes Bruhns-Konzert unter der Leitung von Kurt Rienecker gegründet wurde. Vorsitzende waren Rienecker und Walter Rath; Fritz Stein war Ehrenvorsitzender der Gesellschaft, die über einen eigenen Chor sowie ein eigenes Orchester verfügte und weit über 100 Musikveranstaltungen mit Werken von Bruhns und anderen Komponisten durchführte.

Existierten 1965 nur drei Schallplattenaufnahmen,[2] so ist die Auswahl an Tonträger-Veröffentlichungen von Bruhns’ Werken mittlerweile erheblich gewachsen – darunter finden sich hochwertige, von Musikzeitschriften ausgezeichnete Interpretationen. Die Orgelwerke wurden relativ häufig, auch als Gesamtaufnahmen, veröffentlicht. Den Vokalwerken hingegen wurde bisher eine geringere Aufmerksamkeit geschenkt: Neben mehreren Veröffentlichungen einzelner Stücke gibt es nur eine Gesamtaufnahme auf CD (Ricercar Consort, RIC204).

Literatur

  • Michel Fructus: L’œuvre d’orgue de Nicolaus Bruhns (1665–1697), Essai sur la persuasion musicale dans l’Allemagne baroque du XVIIe siècle (Diplomarbeit), Lyon 1999
  • Michel Fructus: Les cantates de Nicolaus Bruhns (1665–1697) (Dissertation), Lyon 2009
  • Martin Geck: Nicolaus Bruhns – Leben und Werk. Musikverlag Hans Gerig, Köln 1968
  • Heinz Kölsch: Nicolaus Bruhns. Schriften des Landesinstituts für Musikforschung. Bärenreiter, Kassel 1958 (Wiederveröffentlichung einer Dissertation von 1938, Kiel)
  • Martial Leroux: Nicolaus Bruhns. In: Edmond Lemaître (Hrsg.): Guide de la musique sacrée et chorale profane – L’âge baroque (1600–1750). Éditions Fayard, Paris 1992, ISBN 2-213-02606-8
  • Michel Roubinet: Nicolaus Bruhns. In: Gilles Cantagrel (Hrsg.): Guide de la musique d’orgue. Éditions Fayard, Paris 1991, ISBN 2-213-02772-2

Weblinks

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Kölsch sowie einige Nachschlagewerke geben 32 Jahre an, was aber im Widerspruch zu den Lebensdaten steht.
  2. a b Nicolaus-Bruhns-Gesellschaft (Hrsg.): Festschrift zum 300. Geburtstag von Nicolaus Bruhns 1665–1697. Petersen, Husum 1965, S. 37.
  3. Johann Mattheson:Grundlage einer Ehrenpforte Hamburg 1740: „Weil er sehr stark auf der Violine war, und solche mit doppelten Griffen, als wenn ihrer 3. oder 4. wären, zu spielen wußte, so hatte er die Gewohnheit, dann und wann auf der Orgel die Veränderung zu machen, daß er die Violine zugleich, mit einer sich dazu gut schickenden Pedalstimme ganz allein, auf das annehmlichste hören ließ.“
  4. Kölsch, a. a.  O. S. 21
  5. Willi Apel: Geschichte der Orgel- und Klaviermusik bis 1700. Bärenreiter, Kassel 1967, S. 621.
  6. Dietrich Kollmannsperger: „Mons. Prunth“, Präludium g-Moll – eine Neuzuweisung, in: Ars Organi. März 2006.
  7. Robert Eitner: Biographisch-bibliographisches Quellen-Lexikon der Musiker und Musikgelehrten christlicher Zeitrechnung bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Leipzig 1900–1904.
  8. F. Riedel, in: Die Musikforschung. 11.1958, S. 281 f.
  9. Fritz Stein: Nicolaus Bruhns, Gesamtausgabe der Werke. Braunschweig 1937–39.
  10. Geoffrey Webber: North German church music in the age of Buxtehude. Clarendon Press, Oxford 1996, ISBN 0-19-816212-X (Buchbesprechung von David Yearsley)


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