Operation helvetie

Operation helvetie

Das Manöver H, nach anderen Quellen als dem Bonjourbericht auch Plan H oder Operation Helvétie genannt, war eine geplante französisch-schweizerische Militärkooperation während des Zweiten Weltkrieges.

Das „Manöver H“ war für einen deutschen Umgehungsversuch der Maginot-Linie über schweizerisches Staatsgebiet vorgesehen. Der Operationsplan, der einen Einmarsch französischer Truppen in die Schweiz, die Besetzung von durch die Schweiz vorbereiteten Verteidigungsstellungen und einen gemeinsamen Kampf gegen die Wehrmacht beinhaltete, war mit der Schweiz abgesprochen und wäre innerhalb von Stunden nach einem Angriff der Wehrmacht auf die Schweiz umgesetzt worden.

Da der deutsche Angriff auf Frankreich im Mai 1940 an anderer Stelle erfolgte, wurde „Manöver H“ nicht umgesetzt.

Inhaltsverzeichnis

Ausgangslage

Politische Ausgangslage

Die Schweiz war ab 1933 („Machtergreifung“ in Deutschland, „Selbstausschaltung des Parlaments“ in Österreich) mehrheitlich von Nachbarländern mit autoritären Regierungsformen umgeben (Italien wurde bereits seit 1922 autoritär regiert). Einzige Ausnahmen waren Frankreich (parlamentarische Demokratie) und Liechtenstein (konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratisch-parlamentarischer Grundlage).

Die Gleichstellung der Begriffe „Volk“ und „Nation“ sowohl der deutschen wie auch der italienischen Faschisten bedeutete, dass die deutschsprachigen und die italienischsprachigen Teile der Schweiz dem jeweiligen „Volk“ zugerechnet wurden. Die Gefahr für die Integrität der Schweiz bestätigte sich mit dem Anschluss Österreichs und der Sudetenkrise. Ab September 1938 war die deutschsprachige Schweiz neben dem (französischen) Elsass das einzige grössere Gebiet im Westen mit einem mehrheitlich deutschsprachigen Bevölkerungsanteil, welches nicht an das Dritte Reich angeschlossen war.

Für die Schweiz konnte Frankreich spätestens ab 1938 als einzige noch an sie grenzende grosse Demokratie und aufgrund ähnlicher Interessen (Gefährdung der Integrität bei Abspaltung des deutschsprachigen Gebietes), als de facto-Verbündeter angesehen werden.

Strategische Ausgangslage

Karte der Maginot-Linie im Elsass

Die Befestigungen der Maginot-Linie deckten die französische Ostgrenze bis zur Schweizer Grenze. Ein direkter Angriff auf die Stellungen dieser Linie wäre mit den 1939 vorhandenen Mitteln zum Scheitern verurteilt gewesen. Ein Angriff auf Frankreich musste somit die Maginot-Linie umgehen.

Eine südliche Umgehung der Maginot-Linie war nur über schweizerisches Gebiet möglich. Sie hätte kleinräumig via Birstal/Col des Rangiers/Ajoie oder grossräumig via Mittelland/Pässe des Jura erfolgen können.

Die im Herbst/Winter 1939/40 errichteten Befestigungen der Limmatstellung (Linie Sargans, Walensee, Zürichsee, Limmat, Bötzberg, Farnsburg, Gempen) waren darauf ausgerichtet, einen Vorstoss der Wehrmacht durch das Mittelland zu bremsen. Der hohe Zeitdruck beim Bau führte dazu, dass die Soldaten den Stellungen den Spitznamen „Mag-I-No-Ko-Linie“ (Sinngemäss „Kann ich sie noch rechtzeitig beenden?“) verpassten.

Die Führung der Schweizer Armee rechnete damit, die Limmatstellung ca. eine Woche lang halten zu können. Einer kleinräumigen Umgehung in der Nordwestschweiz hatten sie jedoch nicht viel entgegenzusetzen, da diese das Kernland nicht berührte. Es lag im beidseitigen strategischen Interesse, diese kleinräumige Umgehung zu verhindern.

Strategische Bedeutung des Gempenplateaus

Für die kleinräumige Umgehung war der Rhein das Haupthindernis. Für mechanisierte Verbände geeignete Brücken gab es in Basel und in Rheinfelden. Der Übergang beim Wasserkraftwerk Augst war nur für Fusstruppen geeignet. Beide Brückenköpfe der Basler Brücken liegen auf schweizerischem Gebiet und innerhalb der Stadt Basel, eine handstreichartige Besetzung der Brücken (vor ihrer Sprengung) wäre nur schwer möglich gewesen. In Rheinfelden verläuft die Staatsgrenze hingegen in der Flussmitte, hier hätte ein solches Vorgehen leichter zum Erfolg geführt.

Während die französische Artillerie des Secteur Fortifié de Altkirch das ganze Basler Stadtgebiet abdeckte, lagen die weiteren am Hochrhein gelegenen Übergänge ausserhalb ihrer Reichweite. Auch eine ab Birsfelden rheinaufwärts errichtete Pontonbrücke hätte von Frankreich aus nicht mehr beschossen werden können.

Eine Abdeckung dieser Bereiche war durch auf dem Gempenplateau errichtete Artilleriestellungen möglich. Zudem konnten die Batterien auf dem Gempenplateau sowohl die Eingänge ins Tal der Birs als auch jene ins Tal der Ergolz abdecken. Es mangelte der Schweiz jedoch an Truppen und Geschützen, um diese auch zu besetzen.

Ausarbeitung des Planes

Nach Hans Senn fanden erste informelle Kontakte zwischen schweizerischen und französischen Offizieren ab 1936 statt. An diesen Kontakten war der Korpskommandant (und spätere General) Henri Guisan mitbeteiligt.

Spätestens ab Oktober 1939 waren die Kontakte und Abmachungen formell. Dies zeigt auch der Operationsbefehl 2 „Fall Nord“ der Schweizer Armee, der grosse Truppenkontingente von der Grenze mit Frankreich zur Grenze mit Deutschland (und in die zu bauende Limmatstellung) verschob.

Ende März 1940 war das Manöver H vollständig ausgearbeitet und umsetzungsbereit.[1]

Der Plan sah neben der Verstärkung der Division Gempen der Schweizer Armee durch die 8. französische Armee auch den Einsatz der 6. französischen Armee im Raum Olten/Zofingen vor.[2]

Der Plan selbst war nur innerhalb der Armeeführung und beim für das Militärdepartement zuständigen Bundesrat Rudolf Minger bekannt, wodurch eine glaubhafte Abstreitbarkeit zumindest bis zum späteren Aktenfund durch die Deutschen gegeben war.[3]

Umsetzung des Plans

Befestigungsarbeiten in der Schweiz

1939 begann der Bau von verbunkerten Feldartilleriestellungen. Die Bunker waren so gebaut, dass sie sowohl für schweizerische als auch für französische Artilleriegeschütze geeignet waren.[4] Zusätzlich zu den Artilleriebunkern wurden auch zahlreiche Geländepanzerhindernisse (Toblerone-Sperren), Infanteriebunker und Artilleriebeobachtungsbunker erstellt. Gut erhaltene (und heute denkmalgeschützte) Beispiele für Toblerone-Sperren und Infanteriebunker finden sich im Gebiet Hülftenschanz im unteren Ergolztal sowie im Gebiet Mayenfels bei Pratteln.

Division Gempen

Die ad hoc aufgestellte Division Gempen unter Oberst Du Pasquier hatte gemäss Operationsbefehl 4 folgenden Auftrag:

  • Sicherung des Rheinabschnitts zwischen Pratteln (inkl.) und Basel (inkl.),
  • Verlegung des Schwergewichts auf das Gempenplateau, welches unter allen Umständen zu halten ist,
  • Halten der westlichen Frontlinie MünchensteinBinningenAllschwil,
  • Sperrung der Eingänge ins Birs- und Birsigtal auf dieser Front,
  • Verriegelung der Engstelle (Klus von Angenstein) bei Aesch mit einem Bataillon.

Hauptaufgabe der Division Gempen war es, den Gegner so lange wie möglich aufzuhalten und so den französischen Einmarsch hinter der Linie Münchenstein–Binningen–Allschwil zu decken. An der Grenze standen Verbindungsoffiziere bereit, welche die französischen Truppenteile zu ihren vorbereiteten Stellungen geleitet hätten.

Bemerkenswerterweise verfügte die Division Gempen bei einem Bestand von ca 20.000 Mann (Mai 1940) über keinerlei schwere Artillerie.[5] Die vorbereiteten verbunkerten Artilleriestellungen in den Bereichen Reinach (Bruderholz und Reinacherheide), Arlesheim (Ermitage), Liestal (Sichtern) und Nuglar-St. Pantaleon waren somit leer und für die Belegung mit französischen 15- und 7,5-cm-Geschützen und Bedienmannschaften bereit.

Ausser im Divisionsstab war der Truppe die vorgesehene Zusammenarbeit mit der französischen Armee nicht bekannt.

Weitere Kriegsentwicklung

Frankreichfeldzug

Der Verlauf von Fall Gelb
Die für "Manöver H" bereitstehenden französischen Einheiten sind als "Swiss Group" gekennzeichnet.

Der tatsächliche deutsche Angriff auf Frankreich vollzog sich ab dem 10. Mai 1940 nicht durch Umgehung der Maginot-Linie im Süden, sondern im Norden. ("Fall Gelb") Die in Süddeutschland bereitstehende Heeresgruppe C konnte der schweizerischen und der französischen Militärführung jedoch weiterhin erfolgreich eine Angriffsgefahr am Südende der Maginotlinie vortäuschen und so die französischen Truppen noch für eine volle Woche binden.

Erst nach Durchbruch der deutschen Truppen bei Sedan am 17. Mai 1940 wurden grössere Teile der für Manöver H bereitstehenden französischen Truppen aus ihrem Bereitschaftsraum nahe der Schweizer Grenze abgezogen und in Richtung Somme verschoben. Das XLV. französische Armeekorps verblieb im Jura und wurde nach dem Zusammenbruch Frankreichs in der Schweiz interniert.[6]

Bekanntwerden des Plans

Der Schweizer Generalstab vernichtete seine Planungsunterlagen zum Manöver H nach dem Fall Frankreichs.

Die französischen Dokumente wurden am 16. Juni 1940 in einem auf einem Nebengleis des Bahnhofs La Charité-sur-Loire abgestellten Zug, zusammen mit anderen Ministerialdokumenten, gefunden. Weitere Dokumente fanden sich in der Kaserne von Dampierre bei Dijon.[7] Wesentliche Auszüge aus den Akten waren spätestens im Juli 1940 im Führerhauptquartier bekannt.[8] Wegen ihres hohen propagandistischen Werts (Verletzung der „Absoluten Neutralität“ der Schweiz) wurden sie von Deutschland nicht publik gemacht und als Kriegsgrund für die Umsetzung des Operationsplans Tannenbaum in Reserve behalten. Sie dienten zudem (durchaus erfolgreich) als Druckmittel gegenüber der Schweizer Regierung und Militärführung, um diese in den folgenden Kriegsjahren auf einen deutschlandfreundlicheren Kurs zu zwingen.[9]

Unmittelbare politische Folgen in der Schweiz

Nach Analyse von E. Bonjour war die Existenz des Planes bis zum Sommer 1940 im Bundesrat einzig dem Vorsteher des Militärdepartements Rudolf Minger bekannt. Bundesrat Minger reichte am 8. November 1940 unter Angabe anderer Gründe[10] seinen Rücktritt zum Ende des Jahres ein.

Nachkriegszeit

1961 erfolgte die Publikation der „Beuteakten“. Die Publikation veranlasste den Bundesrat, nachdem die Echtheit der Dokumente zunächst angezweifelt wurde, 1962 Edgar Bonjour mit der Verfassung des ab 1965 veröffentlichten mehrbändigen Berichtes zur Neutralitätspolitik der Schweiz zu beauftragen.

Mit der Armeereform 95 wurden grosse Teile der Schweizer Befestigungswerke ausser Betrieb gesetzt und deklassifiziert. Nun war eine Kartografierung der bisher geheimen Stellungen und Auflistung ihrer Waffenwirkung möglich und der tatsächliche Umfang der baulichen Vorbereitungen wurde ersichtlich.

Literatur

  • Edgar Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutralität, Band 5. Helbing & Lichterhahn, Basel 1970, ISBN 3-7965-1171-6. 

Weblinks

Einzelnachweise

  1. E. Bonjour, Gesch. der schweiz. Neutr., Band 5, Seite 31
  2. E. Bonjour, Gesch. der schweiz. Neutr., Band 5, Seite 29
  3. E. Bonjour, Gesch. der schweiz. Neutr., Band 5, Seite 31/32
  4. http://www.ar.admin.ch/internet/armasuisse/de/home/themen/immo/historische.parsys.0007.downloadList.00071.DownloadFile.tmp/denkmalsobsbl.pdf Militärische Denkmäler in den Kantonen Solothurn, Basel-Stadt und Basel-Landschaft, Armasuisse
  5. http://www.schweiz1940.ch/limmat40-en/swiss/OOB0540/GEMPEN.htm Aufstellung, Gefechtsordnung und Aufträge der Division Gempen gemäss Operationsbefehl 4
  6. E. Bonjour, Gesch. der schweiz. Neutr., Band 5, Seite 29
  7. E. Bonjour, Gesch. der schweiz. Neutr., Band 5, Seite 13
  8. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D3352-3-6.php
  9. E. Bonjour, Gesch. der schweiz. Neutr., Band 5, Seite 24ff
  10. http://www.mingerruedi.ch/S_Politik%2005.htm Webseite www.mingerruedi.ch mit vollständigem Rücktrittsschreiben.

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