Ständemehr

Ständemehr

Das Ständemehr (französisch majorité des cantons, italienisch maggioranza dei Cantoni, rätoromanisch maioritad dals chantuns) ist ein Begriff aus dem schweizerischen Bundesstaatsrecht. Es bedeutet, dass zur Annahme einer Abstimmungsvorlage in bestimmten Fällen zusätzlich zum Volksmehr (der Mehrheit der abstimmenden Bürger) auch die Mehrheit der Stände (d. h. der Kantone) einer Vorlage zustimmen muss.

Inhaltsverzeichnis

Wurzeln des Ständemehrs

Die Wurzeln des Ständemehrs liegen in der historischen Autonomie der Kantone in der alten Eidgenossenschaft. Einziges Eidgenössisches Organ war bis zum Franzoseneinfall 1798 die Tagsatzung, in der jeder Stand ungeachtet seiner Einwohnerzahl eine Stimme hatte. Eidgenössische Belange wurden also in dieser Zeit ausschliesslich durch das Ständemehr entschieden.

Nach dem Franzoseneinfall und dem Scheitern der zentralistisch organisierten Helvetischen Republik wurde mit der Mediation 1803 die Tagsatzung wieder eingeführt. Auch hier wurde nach Ständen abgestimmt; allerdings hatten die Standesstimmen der sechs grössten Kantone doppeltes Gewicht.

Nach der Niederlage Napoleons wurde die Tagsatzung im Bundesvertrag von 1815 bis 1848 wiederum einziges gesamteidgenössisches Organ. Auch unter dem Bundesvertrag war allein das Ständemehr in Abstimmungen entscheidend; die Stimmen aller Stände waren erneut gleichwertig.

Bei der Schaffung des Bundesstaats 1848 wollten die Kantone nach den Erfahrungen mit der Helvetischen Republik sichergehen, dass es nicht ein weiteres Mal über ihren Kopf hinweg zu einer zentralistischen Verfassung kommen würde, weshalb ein zweikammriges Parlament aus Volks- und Kantonsvertretung eingerichtet wurde. Auf diese Weise soll dem Prinzip des Föderalismus Rechnung getragen werden. Das Beibehalten des Ständemehrs bei Abstimmungen zu Verfassungsfragen ist als ein weiterer Ausdruck dieses Ziels anzusehen.

Geltungsbereich

Das Ständemehr ist gemäss Art. 140 Abs. 1 Bundesverfassung (BV) in folgenden Fällen zusätzlich zum Volksmehr nötig:

  • Annahme einer Änderung der Bundesverfassung (über Volksinitiative oder obligatorisches Referendum)
  • Beitritt zu Organisationen kollektiver Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften
  • Dringlich erklärte Bundesgesetze ohne Verfassungsgrundlage mit Geltungsdauer über einem Jahr

Bei fakultativen Referenden genügt das Volksmehr zur Annahme der Vorlage.

Ermittlung des Ständemehrs

Die sechs Halbkantone Obwalden, Nidwalden, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden haben aus historischen Gründen je eine halbe Standesstimme (Art. 142 Abs. 4 BV). Die übrigen 20 Kantone jeweils eine ganze Standesstimme. Somit ergeben sich 23 Standesstimmen.

Das Ständemehr bei einer Vorlage ist erreicht, wenn eine Mehrheit der Standesstimmen erreicht ist. Ein Gleichstand, also 11,5 zu 11,5 Standesstimmen (11 zu 11 vor Gründung des Kantons Jura 1979), zählt als Ablehnung.

Am Anfang des modernen Bundesstaates 1848 konnte jeder Kanton selbst entscheiden, wie seine Standesstimme ermittelt wird. So galt etwa im Kanton Tessin die Regel, dass das Kantonsparlament, der «Grosse Rat», ein eigenes Votum abgab, das nicht unbedingt mit der Volksmehrheit übereinstimmen musste.

Mittlerweile gilt die bundesrechtliche Regelung, dass die Standesstimme mit der Mehrheit des Volksvotums im betreffenden Kanton identisch ist: Stimmt eine Mehrheit der abstimmenden Bürger einer Vorlage zu, so gilt dies als zustimmende Standesstimme. Lehnt die Mehrheit der Abstimmenden die Vorlage ab, so wird dies als ablehnende Standesstimme gewertet (Art. 142 Abs. 3 BV).

Auswirkungen in der Praxis

Da für Verfassungsänderungen eine Mehrheit von Volk und Ständen (Kantonen) erforderlich ist, bedeutet dies, dass das Ständemehr eine Volksmehrheit aufheben kann, so dass nicht diejenige Entscheidung getroffen wird, die von den meisten Abstimmenden gewünscht ist, sondern jene, welche von der Mehrheit der Kantone vorgezogen wird. Umgekehrt kann eine Vorlage auch abgelehnt werden, wenn die Mehrheit der Kantone sie befürwortet, sie jedoch kein Volksmehr erreicht. Das bisher grösste Volksmehr, das am Ständemehr scheiterte, lag bei 55,4 Prozent und das bisher grösste Ständemehr bei ablehnendem Volksmehr bei 14:8 (siehe unten).

In der Praxis stimmen Volks- und Ständemehr nur selten nicht überein. Ist dies jedoch der Fall, so bevorteilt ein Stände-Nein die kleinen, ländlichen und eher konservativen Kantone der deutschen Zentral- und Ostschweiz gegenüber den grossen städtischen Agglomerationen und gegenüber der französischsprachigen Schweiz. Im Gegensatz dazu bevorzugt ein Volks-Nein die grossen Agglomerationen und Kantone gegenüber den kleinen ländlichen Kantonen (wobei die grossen Städte und die französischsprachige Schweiz oft ähnlich abstimmen).

Ein demokratierechtliches Problem liegt darin, dass beim Ständemehr eine Stimme aus dem Kanton Appenzell Innerrhoden (15'000 Einwohner, eine halbe Standesstimme) 40,95-mal mehr Gewicht hat als eine aus Zürich (1'228'600 Einwohner, eine Standesstimme). Obwohl diese Tatsache immer wieder kritisiert wird, besteht ein Konsens, dass am Ständemehr, einem der Grundpfeiler des schweizerischen Föderalismus, nicht gerüttelt werden darf. Da ausserdem jede Änderung des gegenwärtigen Zustandes bei der abschliessenden Abstimmung auf das Erreichen des Ständemehrs angewiesen wäre, ist eine Abschaffung dieser Regelung unrealistisch.

Vorlagen, die trotz Volksmehr am Ständemehr scheiterten

  • 1866: Obl. Referendum zu Mass und Gewicht: 50,4 % ja, aber Ständemehr 9,5:12,5
  • 1955: Initiative «Mieter- und Konsumentenschutz»: 50,2 % ja, aber Ständemehr 7:15
  • 1970: Obl. Referendum zur Finanzordnung: 55,4 % ja, aber Ständemehr 9:13
  • 1973: Obl. Referendum zum Bildungswesen: 52,8 % ja, aber Ständemehr 10,5:11,5
  • 1975: Obl. Referendum zum Konjunkturartikel: 52,8 % ja, aber Ständemehr 11:11
  • 1983: Obl. Referendum zum Energieartikel: 50,9 % ja, aber Ständemehr 11:12
  • 1994: Obl. Referendum zum Kulturartikel: 51,0 % ja, aber Ständemehr 11:12
  • 1994: Obl. Referendum erleichterte Einbürgerung: 52,8 % ja, aber Ständemehr 10:13

Vorlagen, die trotz Ständemehr am Volksmehr scheiterten

  • 1910: Initiative «Proporzwahl des Nationalrats»: 47,5 % ja, aber Ständemehr 12:10
  • 1957: Obl. Referendum zum Zivilschutzartikel: 48,1 % ja, aber Ständemehr 14: 8
  • 2002: Initiative «Gegen Aslyrechtsmissbrauch»: 49,9 % ja, aber Ständemehr 12,5:10,5

Siehe auch

Weblinks


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