Éric Rohmer

Éric Rohmer
Éric Rohmer, 2004

Éric Rohmer (* 21. März 1920[1] in Tulle, Département Corrèze; † 11. Januar 2010 in Paris; eigentlich Jean-Marie Maurice Schérer[2]) war ein französischer Film- und Theaterregisseur, Essayist, Filmkritiker und -theoretiker.

Inhaltsverzeichnis

Pseudonym

Zur Wahl seines Pseudonyms erklärte Rohmer: „Es war ein Name, den ich einfach so gewählt habe, aus keinem bestimmten Grund, einfach weil er mir gefiel“.[3] Mit diesem Pseudonym signierte er erstmals 1950 einen Artikel in der Zeitschrift La Gazette du Cinéma. Eine Zeit lang zeichnete er wechselnd als Scherer oder Rohmer, bevor er ab 1955 nur noch den Namen Rohmer verwendete. Ebenfalls benutzte er die Namen Gilbert Cordier, Dirk Peters und Sébastien Erms.

Leben und Werk

Nach dem Studium der klassischen Literatur arbeitete Rohmer von 1944 bis 1952 als Lehrer in Paris, anschließend bis 1955 in Vierzon. 1946 publizierte er seinen einzigen Roman Elisabeth, der 2003 auf Deutsch erschien, unter dem Pseudonym Gilbert Cordier. Im Juni 1948 erschien sein erster Artikel in der berühmten, aber kurzlebigen La Revue du Cinéma.

Im Juni 1951 veröffentlichte Rohmer seinen ersten Artikel in der neu gegründeten Zeitschrift Cahiers du cinéma. 1955 publizierte er dort in fünf Folgen den filmtheoretischen Essay Le Celluloid et le Marbre („Zelluloid und Marmor“), erstmals in den Cahiers unter dem Pseudonym Eric Rohmer. Rohmer entfernte sich jedoch später von den damals geäußerten theoretischen Positionen; einen Nachdruck des Essays verweigerte er.

Seit 1957 vertrat er kommissarisch den schwerkranken André Bazin als Chefredakteur der Cahiers, ab 1959 bekleidete er offiziell diese Stellung. Über die 50er Jahre hindurch arbeitete er an mehreren Kurzfilmen zusammen mit seinen Kritikerkollegen. 1955 publizierte er zusammen mit Claude Chabrol das erste Buch überhaupt über Alfred Hitchcock.

1959 drehte Rohmer seinen ersten Spielfilm Im Zeichen des Löwen (Le Signe du Lion), der erst 1962 einen Verleih fand. Zu diesem Zeitpunkt war die Nouvelle Vague nicht mehr so en vogue wie noch einige Jahre zuvor, und der Film wurde ein Misserfolg in den Kinos. Rohmer ließ sich durch ein Erlebnis von Paul Gégauff, einem bedeutenden Drehbuchautor der Nouvelle Vague und häufigem Co-Autor von Claude Chabrol, zu diesem Film inspirieren. Die Persönlichkeit von Gégauff stand Pate für zahlreiche Figuren in den Filmen von Rohmer und anderen Nouvelle Vague-Regisseuren.

1962 gründete Rohmer zusammen mit Barbet Schroeder die Produktionsfirma Les Films du Losange. „Losange“ ist Raute, das Firmenzeichen der Gesellschaft.

1963 wurde Rohmer von Jacques Rivette aus der Chefredaktion der Cahiers verdrängt.

In der Folgezeit konnte sich Rohmer ganz der Filmarbeit widmen. Bereits 1962 hatte er mit dem Kurzfilm Die Bäckerin von Monceau seinen ersten Filmzyklus Contes Moraux (Moralische Erzählungen) eröffnet, innerhalb dessen er bis 1972 weitere fünf Filme realisierte: Die Karriere von Suzanne (La Carrière de Suzanne, Kurzfilm, 1963), Die Sammlerin (La Collectioneuse, 1966), Meine Nacht bei Maud (Ma nuit chez Maud, 1969), Claires Knie (Le genou de Claire, 1970) und L’Amour L’Après-midi (1972). Meine Nacht bei Maud, der wegen fehlender Unterstützung der französischen Filmförderung Avance sur recettes (= Vorschuss auf das Einspielergebnis) um drei Jahre verschoben werden musste, wurde überraschend ein großer Publikumserfolg und Rohmers erfolgreichster Film. Wie fast im gesamten Werk von Rohmer war auch in diesem Film das zentrale Thema die Liebe.[4]

Während dieser Zeit entstanden auch über zwanzig Filme für das französische Schulfernsehen vor allem zu literarischen und historischen Themen; außerdem ein langer Fernsehfilm Le celluloid et le marbre (1966), eine Dokumentation über den dänischen Filmregisseur Carl Theodor Dreyer (1965) und der Kurzfilm Place de l’Étoile als Beitrag zu dem Episodenfilm Paris vu par …(1965), dessen andere Teile von Jean-Daniel Pollet, Jean Rouch, Jean Douchet, Jean-Luc Godard und Claude Chabrol stammen.

1972 legte Rohmer mit seiner Dissertation L’organisation de l’espace dans le Faust de Murnau sein Doktorexamen an der Universität Paris I (Panthéon-Sorbonne) ab (deutsch als Murnaus Faustfilm bei Hanser, München, 1980). Von 1972 an hatte Rohmer einen Lehrauftrag für Filmregie an der Universität Paris-Nanterre.

1976 entstand Die Marquise von O. (La Marquise d’O …) nach der Novelle von Heinrich von Kleist. Der Film wurde mit deutschen Schauspielern in deutscher Sprache im Schloss Obernzenn in Mittelfranken gedreht.

1978 realisierte Rohmer Perceval le Gallois nach einem mittelalterlichen Stoff, dem Perceval-Roman des französischen Schriftstellers Chrétien de Troyes. Rohmer verwendete ein extrem stilisiertes theatralisches Dekor und ließ die Schauspieler in mittelalterlicher Sprache sprechen. In diesem Film traten zum ersten Mal zahlreiche Schauspieler auf, die auch später noch mehrfach in Rohmers Filmen zu sehen waren, wie Arielle Dombasle, Anne-Laure Meury, André Dussollier und Marie Rivière.

1979 inszenierte Rohmer im Maison de la Culture in Nanterre Das Käthchen von Heilbronn von Heinrich von Kleist. Das Projekt fiel bei Publikum und Kritik durch. Besonders die von Rohmer angefertigte Versübersetzung und die Besetzung wurden kritisiert.

1981 begann Rohmer mit Die Frau des Fliegers (La femme de l’aviateur) einen neuen sechsteiligen Filmzyklus unter der Überschrift Comédies et proverbes (Komödien und Sprichwörter). Der Film wurde mit dem sehr niedrigen Budget von 125.000 Euro realisiert. Jedem Film dieser Serie ist ein bekanntes, manchmal auch abgewandeltes Sprichwort als spielerisches Motto vorangestellt.

Weitere Filme dieses Zyklus sind: Die schöne Hochzeit (1982) mit Béatrice Romand, Pauline am Strand (Pauline à la plage, 1982), Vollmondnächte (Les nuits de la pleine lune, 1984), der sehr stark improvisierte Le rayon vert (1986), für den er den Goldenen Löwen auf dem Filmfestival von Venedig gewann, und Der Freund meiner Freundin (1986). Gleichfalls 1986 entstand außerhalb des Zyklus Quatre aventures de Reinette et Mirabelle, ein vierteiliger Episodenfilm. Für die Produktion dieses Films gründete Rohmer die Produktionsgesellschaft C.E.R. (Compagnie Eric Rohmer), um das finanzielle Risiko dieses kleinen und sehr billigen Films von Les films du Losange fernzuhalten.

1984 erschien eine Sammlung von Rohmers Filmkritiken unter dem Titel Le gout de la beauté in der Buchreihe der Cahiers du cinéma, eingeleitet von einem längeren Interview.[5]

1987 schrieb Rohmer das Theaterstück Le trio en mi-bémol, eine Comédie en sept tableaux für zwei Personen. Im Dezember 1987 hatte das Stück in der Regie von Rohmer Premiere am Théatre Renaud-Barrault in Paris, gespielt von Jessica Forde und Pascal Greggory. Zu dem Stück entstand auch eine Fernsehfassung.

Mit Frühlingserzählung (Conte de Printemps) eröffnete Rohmer 1990 seinen dritten Filmzyklus Contes des quatre saisons (Erzählungen der vier Jahreszeiten). Es folgte 1992 Conte d’hiver.

1993 entstand außerhalb des Zyklus wiederum produziert von der C.E.R. L’arbre, le maire et la médiathèque ou les sept hasards, der billigste Spielfilm seiner Karriere. In diesem fröhlichen Allotria um Kommunalpolitik in der französischen Provinz spielen die bekannten Gesichter Arielle Dombasle, Pascal Greggory und Fabrice Luchini. Der satirische Aspekt ging allerdings in all den Wortkaskaden ein wenig unter.

1995 folgte Les Rendez-vous de Paris, ein dreiteiliger Episodenfilm, in dessen Mittelpunkt Paare in unterschiedlichen Stadtvierteln von Paris stehen.

Auch publizistisch wurde Rohmer wieder aktiv: 1996 erschien der Essay De Mozart en Beethoven. Essai sur la notion de profondeur en musique bei Actes Sud.[6] Rohmer hatte sich schon immer auch für klassische Musik interessiert.

Der Jahreszeiten-Zyklus wurde 1996 mit Conte d’été fortgesetzt, der in der Bretagne gedreht wurde. 1998 folgte Conte d’automne.

Mit 81 Jahren realisierte Rohmer 2001 seinen kostspieligsten Film. Die Lady und der Herzog (L’Anglaise et le Duc) entstand durchgehend mit den Mitteln digitaler Videotechnik. Die Handlung basierte auf den Erlebnissen der Engländerin Grace Elliott während der Französischen Revolution. Die gemalten Kulissen für die Außenszenen wurden mit den Aufnahmen der Schauspieler tricktechnisch kombiniert.

Im Jahr 2004 erlebte Triple Agent seine Premiere auf der Berlinale. Die deutsche Kritik war allerdings nur mäßig angetan von der Agentengeschichte aus den 1930er Jahren.

Im Frühjahr 2004 zeigte die Cinémathèque française eine komplette Retrospektive seiner Werke. Mit Erscheinen der dritten Box wurde auch die DVD-Edition von Rohmers Filmen komplettiert. Die Cahiers du cinéma widmeten Rohmer im März 2004 ein längeres Dossier. Im Interview verkündete Rohmer das Ende seiner Karriere: „En fin de compte, je n’ai rien dans mes tiroirs“. Trotzdem arbeitete Rohmer noch weiter: 2005 dreht er den Kurzfilm Le canapé rouge mit Marie Rivière. Im Mai und Juni 2006 fanden die Dreharbeiten für Rohmers letztes Projekt Les amours d'Astrée et de Céladon nach einem Roman des 17. Jahrhunderts von Honoré d’Urfé statt. Der Film kam am 5. September 2007 in die französischen Kinos und feierte seine Premiere auf den 64. Filmfestspielen von Venedig, wo das Drama im offiziellen Wettbewerb vertreten war, jedoch unprämiert blieb.

Trotz dieser vielfältigen Aktivitäten rund um die Theorie und Praxis des Films und des Theaters fand Rohmer stets die Zeit, sich mit Literatur, Philosophie, Musik, Architektur und Stadtplanung zu befassen. Er sprach Deutsch[7], spielte Klavier und galt als hervorragender Balzac-Kenner, was ihm im Mammutwerk Out One (1970) von Jacques Rivette einen kleinen Auftritt als Balzac-Spezialist einbrachte.

Rohmer war mit der 1929 geborenen Thérèse Barbet verheiratet, die er 1957 kennengelernt hatte. Sie bekamen zwei Söhne: Denis Schérer (* 1958), der unter dem Pseudonym René Monzat als Journalist tätig ist, und Laurent.[8]

Eric Rohmer ist auf dem Friedhof Montparnasse in Paris beigesetzt.[9]

Filme

Es sind nur die langen Spielfilme aufgeführt. Kurzfilme sind nur als Bestandteile der Zyklen erwähnt.

Moralische Erzählungen

(Contes Moraux)

Komödien und Sprichwörter

(Comédies et proverbes)

Erzählungen der vier Jahreszeiten

(Contes des quatre saisons)

Filme außerhalb von Zyklen

  • 1959: Im Zeichen des Löwen (Le signe du Lion)
  • 1965: Place de l’Étoile, Episode aus Paris gesehen von... (Paris vu par...)
  • 1976: Die Marquise von O. (La Marquise d’O)
  • 1978: Perceval le gallois
  • 1986: Vier Abenteuer von Reinette und Mirabelle (Quatre aventures de Reinette et Mirabelle)
  • 1993: Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek (L’arbre, le maire et la médiathèque ou les sept hasards)
  • 1994: Rendezvous in Paris (Les rendez-vous de Paris)
  • 2001: Die Lady und der Herzog (L’anglaise et le duc)
  • 2004: Triple agent
  • 2007: Les amours d’Astrée et de Céladon

Literatur

  • Viennale (Hrsg.): Retrospektive Eric Rohmer. Wien 2010, ISBN 978-3-901770-27-2 bzw. im Vertrieb des Schüren Verlags ISBN 978-3-89472-699-7
  • Pascal Bonitzer: Eric Rohmer; Paris: Editions Cahiers du Cinéma, 19992 (in französischer Sprache)
  • Joel Magny: Eric Rohmer; Rivages, 19953 (in französischer Sprache)
  • Emilie Bickerton: Eine kurze Geschichte der Cahiers du cinéma, diaphanes 2010, ISBN 978-3-03734-126-1 (A short history of Cahiers du cinema, London [u.a] : Verso, c2009, ISBN 978-1-8446-7232-5)

Einzelnachweise

  1. Man findet gelegentlich auch andere Geburtsjahre (1921,1923 und 1928), -tage (4. April, 1. Dezember) und -orte (Nancy, Nuits-les-Saulniers).
  2. Andere Quellen sprechen von Maurice Henri Joseph Schérer.
  3. Eric Rohmer im New York Times Magazine, 1971: „It was a name I chose just like that, for no particular reason, only because I liked it“.
  4. Er hat für das Kino die Liebe gerettet (Die Zeit)
  5. Deutsch: Der Geschmack des Schönen; Verlag der Autoren, Frankfurt/M., 2000.
  6. Deutsch: Von Mozart zu Beethoven, Residenz-Verlag, Salzburg, 1997.
  7. s. dazu das Faksimile eines von Rohmer in deutscher Sprache verfassten, handgeschriebenen Briefes vom 8. November 1972 an das Österreichische Filmmuseum, veröffentlicht in: Viennale (Hrsg.): Retrospektive Eric Rohmer, Seiten 63 ff.
  8. s. Stefan Flach: Eric Rohmer, in: Viennale (Hrsg.): Retrospektive Eric Rohmer, Seite 174
  9. s. Stefan Flach: Eric Rohmer, in: Viennale (Hrsg.): Retrospektive Eric Rohmer, Seite 175

Weblinks


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