Zerschlagung der Rest-Tschechei

Zerschlagung der Rest-Tschechei

Die „Zerschlagung der Rest-Tschechei“, auch Griff nach Prag oder Erledigung der Rest-Tschechei genannt, war im Sprachgebrauch der NS-Propaganda eine militärische Operation, bei der deutsche Truppen am 15./16. März 1939 das restliche Staatsgebiet der Tschecho-Slowakischen Republik besetzten, woraufhin das Protektorat Böhmen und Mähren errichtet und dort die deutsche Gerichtsbarkeit geschaffen wurde. Deren Territorium war schon zuvor durch die Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich sowie im Zuge ihres Zerfalls ebenso von Teilen der Slowakei 1938 verkleinert worden, zusätzlich erfolgte auf Druck Adolf Hitlers die Abspaltung und Selbständigkeit der Ersten Slowakischen Republik. Nach Androhungen einer Bombardierung Prags marschierte die Wehrmacht ohne Gegenwehr in Böhmen ein.

Aufteilung der Tschechoslowakei:
  • Sudetendeutsche Gebiete werden dem Deutschen Reich im September/Oktober 1938 angegliedert (1).
  • Ungarn besetzt nach einem Wiener Schiedsspruch ab November 1938 Grenzgebiete teils ungarischer Ethnie (2), ebenso
  • ab März 1939 die ruthenischsprachige Karpatoukraine (3).
  • Polen besetzt Anfang Oktober 1938 das Teschener Land (4).
  • Im März 1939 wird die „Rest-Tschechei“ von Deutschland faktisch annektiert und zum Protektorat Böhmen und Mähren erklärt (5).
  • Mit der formellen Unterzeichnung des deutsch-slowakischen Schutzvertrages am 23. März 1939 verzichtet die kurz zuvor unabhängig gewordene Slowakei auf die selbständige Ausübung von Souveränitätsrechten zugunsten des Reiches: sie wird zum Satellitenstaat (6).

Mit diesem Vorgehen ging Hitler über die großdeutsche Zielvorstellung auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes erstmals eindeutig hinaus und brach sein Versprechen, mit dem das Münchner Abkommen über das Sudetenland erzielt worden war.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Ohne an der infolge der Sudetenkrise einberufenen Münchner Konferenz beteiligt gewesen zu sein, besetzte Polen Anfang Oktober das Teschener Olsagebiet und erhielt spätere weitere Gebietsteile zugesprochen. Auch Ungarn trachtete danach, Gebiete zurückzuerlangen, was im Ersten Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938 teilweise umgesetzt wurde.

Das Münchner Abkommen von 1938 hatte dem Deutschen Reich beträchtliche Gebietserweiterungen gebracht, die unter anderem auch die starken tschechoslowakischen Grenzverteidigungsstellungen gegen Deutschland umfassten, die für die Wehrmacht damals nach eigener Einschätzung militärisch nicht zu überwinden gewesen wären. Dennoch zeigte sich Hitler mit dem Erreichten unzufrieden. Schon zehn Tage später legte er Wilhelm Keitel einen geheimen Fragenkatalog über die militärischen Möglichkeiten zur Besetzung des restlichen tschechischen Territoriums vor, obwohl er zuvor in mehreren Reden ein Streben nach tschechischen Gebieten verneint und in München eine Garantie der Grenzen des tschechoslowakischen Reststaats in Aussicht gestellt hatte. Am 21. Oktober erteilte er die Weisung, die militärische „Erledigung der Rest-Tschechei“ vorzubereiten.[1]

Die Unabhängigkeitserklärung der Slowakei

Aufteilung der Tschecho-Slowakei unter Beteiligung von Deutschland, Polen und Ungarn.

Ab Februar 1939 wurden sieben Armeekorps zusammengezogen, die auf den Einmarsch warteten. Die Hoffnung, von den Slowaken um Hilfe gerufen zu werden, erfüllte sich nicht. Nach der Besetzung der autonomen Slowakei am 9. März 1939 durch tschechische Truppen drängte Hitler den am 13. März nach Berlin bestellten abgesetzten bisherigen slowakischen Ministerpräsidenten Jozef Tiso, eine vorgefertigte slowakische Unabhängigkeitserklärung zu unterzeichnen, andernfalls würde das slowakische Territorium zwischen Polen und Ungarn aufgeteilt werden.
Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop berichtete, ungarische Truppen näherten sich bereits der slowakischen Grenze. Tiso weigerte sich aber, diese Entscheidung allein zu treffen, und es wurde ihm deshalb erlaubt, sich mit den Mitgliedern des slowakischen Parlamentes zu beraten.

Am nächsten Tag, dem 14. März, trat das Parlament zusammen und beschloss einmütig, die Slowakei für unabhängig zu erklären. Am selben Tag wurde vom Parlament in Pressburg auch das Unabhängigkeitsmanifest der Slowakischen Republik verlesen.

Inzwischen wurde in der deutschen Presse eine Kampagne inszeniert, in der vom „tschechischen Terrorregime“ gegen Deutsche und Slowaken die Rede war. Hitler legte den Einmarsch deutscher Truppen für den 15. März auf 6 Uhr in der Frühe fest. Hermann Göring wurde am 13. März per Brief Hitlers von seinem Urlaubsort San Remo nach Berlin zurückbeordert, wo er am Nachmittag des 14. März eintraf.

Hácha in Berlin

Der tschechoslowakische Präsident Emil Hacha (zweiter von links) am 14./15. März 1939 in der Reichskanzlei im Gespräch mit Hitler und Göring

Ebenfalls am 14. März traf am Abend der tschechische Staatspräsident Emil Hácha zusammen mit Außenminister František Chvalkovský in der Neuen Reichskanzlei ein. Hácha hatte um dieses Gespräch nachgesucht. Die Gäste wurden mit allen protokollarischen Ehren empfangen, aber erst nach einer langen Wartezeit zwischen ein und zwei Uhr nachts vorgelassen. Hácha dankte Hitler, neben dem Göring und Keitel saßen, von ihm empfangen zu werden. Er distanzierte sich von Masaryk und Beneš, bat aber gleichwohl darum, seinem Volk das Recht auf eine eigenständige Existenz einzuräumen.

Hitler antwortete mit einer langen Rede, in der er unter anderem eine vielfach bezeugte Feindseligkeit der Tschechen und den fortexistierenden Beneš-Geist kritisierte, gegen den die gegenwärtige Regierung im eigenen Lande ohnmächtig sei. Er erklärte, seine Geduld sei nun erschöpft, und um sechs Uhr werde die deutsche Armee in die Tschechei einrücken. Wenn sich das Einrücken der deutschen Truppen zu einem Kampf entwickle, werde dieser Widerstand gebrochen werden. Sollte sich der Einmarsch der deutschen Truppen in erträglicher Form abspielen, könnte ein großzügiges Eigenleben, Autonomie und eine gewisse Freiheit gewährt werden.

Als Hácha fragte, wie er innerhalb von vier Stunden das gesamte tschechische Volk vom Widerstand zurückhalten sollte, verwies ihn Hitler an seine Prager Dienststellen. Nach zwei Uhr verließen Hácha und Chvalkovský Hitlers Arbeitszimmer und versuchten, die telefonische Verbindung nach Prag herzustellen. Es folgten Gespräche mit Ribbentrop und Göring. Bei dieser Gelegenheit drohte Göring mit einem Luftangriff auf Prag und schilderte dessen verheerende Folgen. Dabei erlitt Hácha einen Herzanfall, von dem er sich jedoch durch eine Injektion des herbeigerufenen Dr. Theo Morell wieder erholte.

So konnten Hácha und Chvalkovský die Prager Stellen rechtzeitig anweisen, dem bevorstehenden deutschen Einmarsch keinen Widerstand zu leisten. Kurz vor vier Uhr unterschrieb Hácha eine Urkunde, welche die Souveränität des Staates beendete. Unmittelbar darauf gab sich Hitler gegenüber seiner Umgebung äußerst erfreut über Háchas Unterschrift, ganz anders als nach dem Zustandekommen des Münchner Abkommens.

Einmarsch der Wehrmacht

Adolf Hitler auf der Prager Burg am 15. März 1939

Der Slowakei und der Karpatenukraine waren zwischenzeitlich die jahrelang verweigerte Autonomie gewährt worden, doch die nun unabhängige Slowakische Republik „stellte sich unter den Schutz des Reiches“; sie war fortan ein Satellitenstaat des nationalsozialistischen Deutschlands. Ungarn besetzte die Karpatenukraine.

Am 15. März um sechs Uhr rückten die deutschen Truppen über die Grenze vor und erreichten gegen neun Uhr bei Schneetreiben Prag. Die Mehrheit der Bevölkerung nahm den Einmarsch ohnmächtig oder wütend hin, lediglich die deutsche Minderheit und eine kleine Schicht tschechischer Bürger begrüßte ihn. Die deutsche Armee entwaffnete das tschechische Heer. Mit der Wehrmacht rückte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) ein und begann mit der Verfolgung deutscher Emigranten und tschechischer Kommunisten. Während dieser Aktion, die als „Aktion Gitter“ bekannt wurde, wurden einige Tausend Personen verhaftet. Hitler verließ um acht Uhr Berlin, traf am Abend in Prag ein und verbrachte die Nacht auf dem Hradschin.

Am 16. März verkündete er, die Tschecho-Slowakei habe aufgehört zu bestehen. Die böhmisch-mährischen Länder seien wieder in ihre alte historische Umgebung eingefügt worden. Ein gleichzeitig veröffentlichter Erlass proklamierte das nun unter deutscher Gebietshoheit stehende und dem Reichsprotektor Konstantin Freiherr von Neurath unterstellte Protektorat Böhmen und Mähren.

Folgen

Am 17. März sprach der britische Ministerpräsident Neville Chamberlain von einer schwereren Erschütterung denn je, verwies auf die zahlreichen Wortbrüche Hitlers und rief Botschafter Nevile Henderson für unbestimmte Zeit aus Berlin zurück.

Als am 18. März Henderson und der französische Botschafter Robert Coulondre in Berlin Protestnoten überreichten, hatte Hitler Prag schon wieder in Richtung Wien verlassen. Die Zerschlagung der Tschecho-Slowakei wurde als eindeutiger Bruch des Münchner Abkommens aufgefasst und hatte eine Zuspitzung der internationalen Lage zur Folge. Das Vereinigte Königreich, Frankreich, Polen, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion erkannten die faktische Annexion Tschechiens nicht an. Großbritannien wich von seiner bisherigen Appeasement-Politik ab und erteilte am 31. März gemeinsam mit Frankreich dem polnischen Staat eine Garantieerklärung, die später zum Kriegseintritt der beiden Staaten gegen Deutschland führte.

Die USA reagierten mit einem am 17. März 1939 verhängten Strafzoll in Höhe von 25 % auf alle deutschen Importe. Dies kam für die deutsche Regierung der Erklärung eines Wirtschaftskrieges gleich.[2]

Die „Erledigung der Rest-Tschechei“ gilt als Selbstdemaskierung Hitlers. Golo Mann schrieb in seinem Werk Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: „Vor aller Welt stand er da als Wortbrecher und Lügner“.[3] Joachim Fest bemerkte in seiner Hitler-Biografie: „Hatte er bis dahin immer nur Doppelrollen übernommen und als Widersacher den heimlichen Bündnispartner gespielt oder die Herausforderung eines Zustands im Zeichen seiner Verteidigung begonnen, so gab er jetzt ohne alle Ausflüchte sein innerstes Wesen zu erkennen.“[4]

Hans Kehrl berichtet in seinen Erinnerungen von den „wirtschaftlichen Raubrittern“ während des Einmarsches in die Rest-Tschechei, die das Land „überfluteten“ und sich die tschechische Industrie aneignen wollten. Als Beispiel nennt er den Otto-Wolff-Konzern, der durch einen Teilhaber den Škoda-Konzern unter Druck setzte, Otto Wolff die Generalvertretung für Deutschland sowie für den Export zu übertragen. Nach einer „lebhaften Auseinandersetzung“ zwischen Kehrl und dem Teilhaber in Kehrls Büro wurden keine weiteren Anstrengungen des Wolff-Konzerns in dieser Richtung mehr gemacht.[5]

Bedeutung für das deutsche Militärpotential

Nach Darstellung des Historikers Walther Hofer führte die Zerschlagung der Tschechoslowakei zu einem gewaltigen Kraftzuwachs des deutschen Militärpotentials.[6]

Der Wehrmacht fiel die Ausrüstung von 40 Divisionen der tschechischen Armee in die Hände. In seiner Rede vor dem Reichstag vom 28. April 1939 nannte Hitler als Beute unter anderem:

  • 1582 Flugzeuge,
  • 501 Flakgeschütze,
  • 2175 Geschütze,
  • 785 Minenwerfer,
  • 469 Panzer,
  • 43.876 Maschinengewehre,
  • 114.000 Pistolen,
  • 1.090.000 Gewehre.

Drei der zehn deutschen Panzerdivisionen, die den Sichelschnitt gegen Frankreich ausführten, waren mit tschechischen Panzern ausgestattet. Von besonderer Bedeutung war die schwere Artillerie, über die die Wehrmacht kaum verfügte.

Hinzu kam die Erbeutung der Rüstungsindustrie, besonders der Škoda-Werke, deren Produktion nach den Worten von Winston Churchill „von August 1938 bis September 1939 allein fast ebenso groß war wie die der ganzen britischen Rüstungsindustrie“.[7]

Zudem fielen große Rohstoffbestände sowie die Devisen- und Goldbestände der tschechischen Nationalbank im Wert von einer halben Million Schweizer Franken in die Hände der Nationalsozialisten.

Zusammenfassend urteilt Hofer:

„Ohne diese Beute wäre also der ‚Blitzkrieg’ und damit der ‚Blitzsieg’ von 1940 nicht möglich gewesen.“[8]

Einzelnachweise

  1. NS-Archiv: Erledigung der Rest-Tschechei vom 21. Oktober 1938
  2. Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. München 2007, S. 359.
  3. Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, 1958, S. 885.
  4. Joachim C. Fest: Hitler. Der Führer, Ullstein Buch, 1976, S. 787.
  5. Hans Kehrl: Krisenmanager im Dritten Reich. Düsseldorf 1973, S. 164 f.
  6. Walther Hofer, Herbert R. Reginbogin: Hitler, der Westen und die Schweiz. Zürich 2001, S. 418 ff.
  7. Zit. nach ebda., S. 422.
  8. Ebda., S. 421.

Literatur

  • Joachim C. Fest: Hitler. Zweiter Band: Der Führer, Ullstein Buch, 1976, ISBN 3-548-03274-5.

Weblinks


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