Erdbeben von Lissabon 1755

Erdbeben von Lissabon 1755
Darstellung des Erdbebens auf einem zeitgenössischen Kupferstich
Ausbreitung des Tsunamis. Rot: 1 – 4 h, gelb: 5 – 6 h, grün: 7 – 14 h, blau: 15 – 21 h

Das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 führte in Verbindung mit einem Großbrand und einem Tsunami zur nahezu vollständigen Zerstörung der portugiesischen Hauptstadt Lissabon. Das Erdbeben, dessen Epizentrum im Atlantik etwa 200 Kilometer südwestlich des Cabo de São Vicente vermutet wird, erreichte auf der Richterskala eine geschätzte Magnitude (Stärke) von etwa 8,5 bis 9. Mit 30.000 bis 100.000 Todesopfern gehört es zu den verheerendsten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte.

Das Erdbeben hatte erhebliche wissenschaftliche, politische und kulturelle Auswirkungen: Es war der Anlass zur Entwicklung der modernen Seismologie, verschärfte die innenpolitischen Spannungen in Portugal und hatte einen Bruch in den kolonialen Bestrebungen des Landes zur Folge. Zudem löste es aufgrund des Ausmaßes der Zerstörung vielfältige Diskurse unter den Philosophen der Aufklärung aus. Insbesondere warf es das Theodizeeproblem neu auf, wie ein gütiger Gott das Übel in der Welt zulassen könne.

Inhaltsverzeichnis

Das Beben und seine Folgen

Chronologie der Ereignisse in Lissabon

Um 9:40 Uhr des Allerheiligentages 1755 erschütterte das Erdbeben Lissabon nach Augenzeugenberichten zwischen drei und sechs Minuten lang, riss dabei meterbreite Spalten im Boden auf und verwüstete das Stadtzentrum. An zahlreichen Stellen brachen Brände aus. Die Überlebenden der Erdstöße flüchteten sich in den Hafen und sahen dort, dass das Meer zurückgewichen war und einen mit Schiffswracks und verlorenen Waren bedeckten Seeboden freigab. Wenige Minuten danach überrollte eine Flutwelle den Hafen und schoss den Tejo flussaufwärts. Zwei kleinere Wellen folgten nach. Die Flutwellen löschten zwar die Feuer, rissen aber durch ihre Wucht die noch stehenden Gebäude mit sich. In den Gegenden, die nicht vom Tsunami betroffen waren, wüteten die Brände noch tagelang. Dem Erdbeben folgten zwei Nachbeben mit einer ungefähren Dauer von je zwei Minuten.

Ort des Erdbebens

Lissabon war nicht allein von der Katastrophe betroffen. Besonders an der Algarve im Süden des Landes wurden alle Städte weitgehend zerstört. Das Beben war in ganz Europa spürbar, sogar in Finnland oder in Luxemburg, wo eine Kaserne einstürzte und mehrere Soldaten starben, aber auch in Afrika, auf den Azoren und auf den Kapverden. In Schottland und der Schweiz kam es zu Seiches in Binnenseen, es stiegen die Wasserstände plötzlich an und kehrten wieder zum Normalstand zurück. Flutwellen von 20 Metern Höhe überrollten auch die Küste Nordafrikas und überquerten den Atlantik, wo sie Martinique und Barbados verwüsteten. Die englische Südküste wurde von einer drei Meter hohen Flutwelle getroffen. In den Niederlanden und in Schweden wurden Schiffe aus ihren Verankerungen gerissen. Der damals in den "Piombi" gefangene Giacomo Casanova sah wie das bleierne Dach über dem Dogenpalast in Venedig stark in Bewegung kam.[1]

Der Katastrophe fielen bis zu 90.000 der 275.000 Einwohner Lissabons und der umliegenden Dörfer und Kleinstädte zum Opfer. Weitere 10.000 Menschen starben an der Mittelmeerküste, etwa im heutigen Marokko. Etwa 85 Prozent aller Gebäude Lissabons wurden zerstört, darunter die berühmten königlichen Paläste und Bibliotheken, die brillante Beispiele der manuelinischen Architektur des 16. Jahrhunderts waren. Was nicht durch das Beben zerstört wurde, fiel den Flammen zum Opfer, etwa ein erst kurz zuvor eröffnetes großes Opernhaus. Der königliche Palast am Tejoufer, auf der heutigen Praça do Comércio, wurde ebenfalls zerstört, und mit ihm die riesige Staatsbibliothek mit über 70.000 Büchern und unwiederbringlichen Malereien von Tizian, Rubens und Correggio. Auch die Aufzeichnungen von den Expeditionen Vasco da Gamas und anderer Seefahrer gingen verloren.

Die Ruinen des Convento do Carmo

Das Erdbeben zerstörte auch fast alle religiösen Bauten von Lissabon, besonders die Kathedrale Santa Maria, die Basiliken von São Paulo, Santa Catarina und São Vicente de Fora, aber auch die Kirche Igreja da Misericórdia. Das Hospital Real de Todos os Santos (königliches Allerheiligenhospital) wurde durch die anschließenden Brände zerstört, wobei auch Hunderte der Patienten umkamen. Die Statue des Nationalhelden Nuno Alvares Pereira ging ebenfalls verloren. Bis heute stehen im Zentrum Lissabons die Ruinen des Convento do Carmo, die als Erinnerung an das Beben beim Wiederaufbau der Stadt in ihrem Zustand belassen wurden. Das Rotlichtviertel Lissabons, die Alfama, blieb allerdings verschont, wie auch große Teile der Oberstadt Lissabons.

Viele Tiere hatten die Gefahr gespürt und sich vor Ankunft des Tsunami in höher gelegene Gebiete geflüchtet. Beim Erdbeben von Lissabon wurde dieses Verhalten von Tieren zum ersten Mal in Europa von Menschen registriert.

Folgen des Bebens

König Josef I. von Portugal

Nur durch Zufall überlebten König José I. und seine Familie die Katastrophe. Der König befand sich nach der Morgenmesse des Allerheiligentages in Santa Maria de Belém, als sich das Beben ereignete. Josés Töchter hatten in Abwesenheit ihres Vaters die Stadt ebenfalls verlassen. Nach dem Beben entwickelte der König eine unkontrollierbare Angst davor, innerhalb von vier festen Wänden zu leben. Er zog es vor, eine riesige Zeltstadt in den Hügeln von Ajuda vor den Toren Lissabons errichten zu lassen und von da an dort zu residieren. Diese Klaustrophobie legte sich bis zu seinem Tod nicht. Erst nach dem Ableben des Königs ließ seine Tochter Maria I. den Palácio Nacional da Ajuda auf dem Platz der väterlichen Zeltstadt errichten.

Marquis von Pombal

Der Premierminister Sebastião de Mello, der spätere Marquês de Pombal, überlebte das Beben ebenfalls. Der Pragmatismus seiner Regierungsmethoden wird durch den ihm zugeschriebenen Ausspruch „Und nun? Beerdigt die Toten und ernährt die Lebenden.“ charakterisiert. Er begann sofort, die Rettungs- und Wiederaufbaumaßnahmen zu organisieren. Er stellte Truppen auf, die die Brände zu bekämpfen hatten, andere Truppen mussten Tausende von Leichen aus der Stadt entfernen. Um das Entstehen von Epidemien zu vermeiden, ließ er die Leichen auf Schiffe laden und im Meer bestatten, obwohl dies den damaligen Gebräuchen nicht entsprach und die katholische Kirche es ablehnte. Um Plünderer abzuschrecken, wurden an mehreren prominenten Stellen der Stadt Galgen aufgestellt, und es wurden auch 34 Personen unter dem Vorwurf des Plünderns hingerichtet. Die Armee wurde mobilisiert, um die Stadt abzuriegeln und die Flucht der Unversehrten aus der Stadt zu unterbinden, damit sie gezwungen waren, an den Aufräumarbeiten teilzunehmen.

Europäische Solidarität und Hilfe

Die Solidarität mit der Stadt am westlichen Rand Europas war groß, denn an nahezu jedem der großen europäischen Handelsplätze gab es Kaufleute, die eigene Filialen oder Geschäftspartner in Lissabon hatten. In England, das mit Portugal in engen Handelsbeziehungen stand, bewilligte das Parlament eine Soforthilfe von 100.000 Pfund.

Der Wiederaufbau

Kurz nach der Krise engagierte der Premierminister unter der Leitung von Eugénio dos Santos und Carlos Mardel Architekten und Ingenieure, um den Wiederaufbau zu planen. Bereits ein Jahr nach dem Beben war Lissabon frei von Schutt und der Wiederaufbau hatte begonnen. Beim Wiederaufbau nutzte man die Gelegenheit, die Stadt großzügig und durchdacht zu planen, mit schachbrettartigem Grundriss, breiten Straßen und großen Plätzen. Nach dem Sinn solch breiter Straßen gefragt, soll Pombal geantwortet haben, dass sie eines Tages als klein betrachtet würden.

Es wurde auch versucht, die Gebäude erdbebensicher zu errichten. Dazu wurden Holzmodelle der Häuser gebaut, und man ließ Soldaten um sie herum marschieren, um Erschütterungen zu erzeugen. Das neu errichtete Stadtzentrum Lissabons, die Baixa Pombalina, ist heute eine der großen Touristenattraktionen der Stadt. Nach Pombals Prinzip wurden auch andere portugiesische Städte wiedererrichtet, etwa das an der Algarve gelegene Vila Real de Santo António.

Politische Folgen

Das Erdbeben schlug auch in der Innenpolitik Portugals große Wellen. Der Premierminister war zu dieser Zeit bereits ein Protegé des Königs, während die alteingesessene Aristokratie ihn aufgrund seiner Herkunft als Landjunker verunglimpfte. Der hohe Adelstitel eines Marquês de Pombal wurde ihm erst 1770, also 15 Jahre nach dem Erdbeben, verliehen. Der Premierminister verachtete seinerseits den Adel, den er als korrupt und unfähig zu konstruktivem Handeln bezeichnete. Während vor dem Beben ein zäher Machtkampf zwischen Premier und Aristokratie herrschte, änderte sich die Lage nun aufgrund der Kompetenz des Premiers rasch zu seinen Gunsten. Der König distanzierte sich langsam vom Adel. Der Machtkampf fand seinen Höhepunkt in einem Attentat auf den Monarchen, in dessen Folge der mächtige Herzog von Aveiro und der Távora-Clan eliminiert wurden.

Geburt der modernen Seismologie

Der Premierminister beschränkte seine Tätigkeit nicht nur auf den Wiederaufbau, sondern ordnete auch eine Umfrage bei allen Pfarrern an, um Informationen über das Beben und seine Auswirkungen zu sammeln. Die Umfrage erfasste Daten über

  • die Dauer des Erdbebens
  • die Anzahl der Nachbeben
  • die durch das Beben verursachten Schäden
  • besondere Verhaltensweisen von Tieren vor dem Erdbeben
  • Besonderheiten in Brunnen und Wasserlöchern

Die Antworten auf diese Fragen sind bis heute erhalten und liegen im Torre do Tombo, dem Zentrum des Nationalarchivs von Portugal. Das Studium der Aussagen der Priester erlaubt es modernen Wissenschaftlern, das Beben zu rekonstruieren, was ohne die Umfrage des Marquês de Pombal nicht möglich gewesen wäre. Er wird deshalb als Vorläufer der modernen Seismologie betrachtet.

Die geologischen Ursachen, die zu dem Beben geführt haben, sind bis heute umstritten. Da Lissabon inmitten einer tektonischen Platte und nicht in einer Bruchzone liegt, ist ein Erdbeben solchen Ausmaßes ungewöhnlich, auch wenn Analysen darauf hinweisen, dass es regelmäßig alle 300 Jahre ein größeres Erdbeben gegeben haben muss. Es gibt eine Hypothese, die besagt, dass das Erdbeben auf den Beginn der Bildung einer Subduktionszone im Atlantischen Ozean hinweisen könnte.

Philosophische Auswirkungen

Das Erdbeben warf für Philosophen und Theologen ein altes Problem neu auf: Wie kann ein allmächtiger und gütiger Gott ein so gewaltiges Unglück wie das Erdbeben von Lissabon zulassen? Warum hatte das Beben die Hauptstadt eines streng katholischen Landes getroffen, das sich auch für die Verbreitung des Christentums in der ganzen Welt eingesetzt hatte? Und warum überdies am Festtag Allerheiligen? Und warum waren zahlreiche Kirchen dem Beben zum Opfer gefallen, aber ausgerechnet das Rotlichtviertel Lissabons, die Alfama, verschont geblieben? An diesem Diskurs beteiligten sich Gelehrte wie Voltaire, Kant und Lessing.

Voltaire

Viele Denker der Aufklärung wurden durch das Erdbeben stark beeinflusst. Zahlreiche zeitgenössische Philosophen erwähnen das Erdbeben in ihren Schriften oder spielen zumindest darauf an. Voltaire etwa schrieb ein Poème sur le désastre de Lisbonne (Gedicht über die Katastrophe von Lissabon). Vor allem aber inspirierte ihn das Beben in seinem Roman Candide zu einer bissigen Satire auf die Philosophie Leibniz’ und Wolffs, wonach die existierende Welt die beste aller möglichen Welten sei. Theodor Adorno schrieb 1966 in Negative Dialektik „das Erdbeben von Lissabon reichte hin, Voltaire von der Leibnitz'schen Theodizee zu heilen“.[2] Zwischen Voltaire und Rousseau entwickelte sich eine Kontroverse über den Optimismus und die Frage des Schlechten in der Welt. Adorno sah eine Analogie zwischen dem Erdbeben von 1755 und dem Holocaust; beide Katastrophen seien so groß gewesen, dass sie die europäische Kultur und Philosophie zu transformieren vermochten.

Der junge Immanuel Kant war von dem Beben fasziniert und sammelte alle Informationen darüber, die ihm zugänglich waren. Kant veröffentlichte drei Texte über das Erdbeben und versuchte eine Theorie über die Entstehung von Erdbeben zu formulieren. Kants Theorie, die annahm, dass es unter dem Meeresboden riesige, mit heißen Gasen gefüllte Höhlen gebe, stellte sich zwar später als falsch heraus, war jedoch einer der ersten systematischen Versuche, Erdbeben auf natürliche Ursachen zurückzuführen. Walter Benjamin schreibt, dass das erste Buch Kants über das Erdbeben wahrscheinlich der Anfang der wissenschaftlichen Geographie in Deutschland und sicherlich auch der Seismologie gewesen sei. Auch Kants Theorie des Erhabenen ist vom Erlebnis der Katastrophe von Lissabon beeinflusst.

Werner Hamacher behauptet, dass die Grundlage der Philosophie von René Descartes im Gefolge des Bebens zu wanken begann und das Erdbeben sogar Auswirkungen auf das Vokabular der Philosophie gehabt habe. Die häufig gebrauchte Metapher einer festen Grundlage für die Argumente eines Philosophen sei angesichts des Bebens zu einer Worthülse verkommen.

Literarische und musikalische Verarbeitungen

In der Literatur wurde die Theodizeeproblematik bis heute immer wieder mit den Geschehnissen vom 1. November 1755 verknüpft. Von Voltaires philosophischem Roman Candide oder der Optimismus (1759) und Kleists Erzählung Das Erdbeben in Chili (1807) über Reinhold Schneiders Erzählung Das Erdbeben (1932) bis zur Verwendung in Peter Sloterdijks Roman Der Zauberbaum (1985) und einem Radioessay für Kinder aus der Feder Walter Benjamins wurde das Erdbeben von Lissabon zum Sinnbild für die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt.

Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) gibt im ersten Buch seiner autobiographischen Schrift Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit folgende Schilderung des Ereignisses:

„Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im Tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zugrunde, und der glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. Die Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine Schar sonst verborgner, aber durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür.
Schneller als die Nachrichten hatten schon Andeutungen von diesem Vorfall sich durch große Landstrecken verbreitet; an vielen Orten waren schwächere Erschütterungen zu verspüren, an manchen Quellen, besonders den heilsamen, ein ungewöhnliches Innehalten zu bemerken gewesen: um desto größer war die Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im Allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelheiten sich rasch verbreiteten. Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. So vieles zusammen richtete die Aufmerksamkeit der Welt eine Zeit lang auf diesen Punkt, und die durch fremdes Unglück aufgeregten Gemüter wurden durch Sorgen für sich selbst und die Ihrigen um so mehr geängstigt, als über die weitverbreitete Wirkung dieser Explosion von allen Orten und Enden immer mehrere und umständlichere Nachrichten einliefen. Ja vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet.
Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubens-Artikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten.“

Goethe, der zur Zeit des Erdbebens sechs Jahre alt war, versucht in seinem 1811 entstandenen Werk aus einem Abstand von mehr als fünf Jahrzehnten die damalige Perspektive des Kindes zu rekonstruieren und den Eindruck zu schildern, den das Erdbeben auf ihn gemacht hatte. Für die sachlichen Angaben orientierte er sich an zeitgenössischen Beschreibungen, vor allem an der 1756 in Danzig erschienenen Schrift Beschreibung des Erdbebens, welches die Hauptstadt Lissabon und viele andere Städte in Portugall und Spanien theils ganz umgeworfen, theils sehr beschädigt hat, die er im Mai 1811 aus der Weimarer Bibliothek entliehen hatte.

Georg Philipp Telemann komponierte auf Texte aus dem 8. und 29. Psalm die Donner-Ode, die 1756 uraufgeführt wurde. Hier bezieht sich das Bass-Duett „Er donnert, dass er verherrlichet werde“ auf das Erdbeben von Lissabon.

Heutige Untersuchungen des Erdbebens

Bis heute sind zwei Fragen noch nicht abschließend geklärt:

  • Welche Ursachen hatte das Beben?
  • Wo genau lag das Epizentrum?

Portugal liegt eigentlich nicht in einer seismisch besonders aktiven Region. Zwar grenzen die afrikanische Platte und die europäische Platte zwischen Marokko und der iberischen Halbinsel aneinander. Aber im Atlantik vor der iberischen Halbinsel stoßen keine Kontinentalplatten zusammen, wie es in ausgezeichneten Erdbebenregionen der Fall ist, man spricht von einem passiven Kontinentalrand. Auf Höhe von Cádiz verläuft jedoch im Atlantik in ost-westlicher Richtung eine tektonische Verwerfung, die so genannte Gloria-Blattverschiebung. Von einigen Geologen wird auf ihr der Ort des Epizentrums gesucht, jedoch ist diese Stelle recht unwahrscheinlich.

Abgetragenes und weggeschwemmtes Material aus Spanien und Marokko bildet zudem den Gibraltar-Sedimentkeil, der sich westlich von Gibraltar in den Atlantik erstreckt. Einige Geologen halten ihn für eine beginnende Subduktionszone, von der das Erdbeben von Lissabon ausgegangen sein könnte. Zwei weitere tektonische Besonderheiten, die Gorringe-Bank und die Marquês-de-Pombal-Verwerfung, liegen auf Höhe der portugiesischen Südküste. Jedoch hat nur die Gorringe-Bank eine ausreichende Größe, um als Epizentrum eines so schweren Erdbebens in Betracht gezogen zu werden. Gegen diese These spricht, dass sich der Meeresboden um mehr als 20 Meter verschoben haben müsste, außerdem wäre ein von der Gorringe-Bank ausgehendes Erdbeben in Marokko nicht so stark spürbar gewesen.

Am wahrscheinlichsten für das Epizentrum des Erdbebens von Lissabon ist der Punkt, an dem die Gloria-Blattverschiebung und der Gibraltar-Sedimentkeil zusammenstoßen (etwa 160 km südwestlich von Lissabon). Dort entdeckten im Frühjahr 2005 französische Forscher Anzeichen auf eine nicht mehr aktive Subduktionszone, die Strukturen einer vergangenen Verschiebung aufweist. Berechnungen deuten darauf hin, dass sich dort entstehende Spannungen durchaus in einem schweren Erdbeben entladen können. Weitere Bestärkung erhält diese These durch Computermodelle, in denen der Verlauf des Erdbebens aufgrund von Augenzeugenberichten rekonstruiert wurde. Laut diesen Berechnungen ist der Tsunami entstanden, weil sich der Meeresboden an einer Stelle um 11 Meter gehoben und an einer anderen um 6 Meter gesenkt hat, wobei etwa ein Kubikkilometer Gestein bewegt wurde. Untersuchungen des Meeresgrundes im Golf von Cádiz ließen Sedimentschichten erkennen, die wahrscheinlich durch untermeerische Erdrutsche, wie sie bei Seebeben auftreten, entstanden sind. Es ergab sich, dass solche charakteristischen Sedimentschichten etwa alle 1000 bis 2000 Jahre auftreten, zuletzt vor etwa 250 Jahren, was die stärkste Stütze der Theorie darstellt.

In der Region um Cádiz fanden sich auch auf dem Festland Sedimentablagerungen, die aufgrund ihres Alters als vom Tsunami angeschwemmtes Material identifiziert wurden. Darunter fanden sich weitere Schichten, die auf frühere Tsunamis hindeuten.

Heute gilt die Region um Lissabon als wenig erdbebengefährdet, jedoch kam es 1969 zu einem Beben der Stärke 7,9 auf der Richterskala in einem Gebiet ca. 300 km von Lissabon entfernt. Im Mai 2003 sowie im Januar und Februar 2004 wurden leichtere Erdbeben in Nordafrika gemessen. Um künftigen Katastrophen vorzubeugen, werden Beobachtungspunkte am Meeresboden angelegt. Sie sollen Temperatur- und Druckschwankungen messen, die auf Spannungen in der Erdkruste hindeuten, die sich in einem Erdbeben entladen können.

Literatur

Quellen

  • Umständliche und zuverläßige Nachricht von dem entsetzlichen und unerhörten Erdbeben, welches den 1sten Novembris dieses 1755sten Jahrs die welt-berühmte Stadt Lissabon und andere vornehme Orte betroffen : in sicheren Briefen, welche Tit. Herr Rathherr Ruffier, vornehmer Handelsmann alhier, von daher erhalten; zur Erweckung einer wahren Furcht Gottes und christlichen Mitleidens mitgetheilet, Straßburg 1755.
  • Hermann Gottlob: Lissabon, wie es ohnlängst noch im schönsten Flor gestanden, am 1. Novembr. des 1755sten Jahres aber durch ein entsetzliches Erdbeben in einen Stein-Hauffen verwandelt worden : Nebst Geographischer Beschreibung von Belem, Setubal, Coimbra, Braga, Cadix und Conil, Und einigen Betrachtungen vom Erdbeben, ingleichen auch accurater Bestimmung aller von Anfange der Welt biß auf unsere Zeiten entstandenen Erdbeben. … Mit D. J. Olearii Gebet bey entstehenden Erdbeben … / entworffen von M. G. H. Arch. B., Stolpen o.J. [1755?]
  • Die traurige Verwandlung von Lissabon in Schutt und Asche : nachdem es den 1. November 1755 durch ein gewaltiges Erdbeben und eine darauf entstandene hefftige Feuersbrunst heimgesuchet worden / … eine unpartheyische Feder, Frankfurt am Main o.J. [1755?].
  • Wolfgang Breidert (Hrsg.): Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, ISBN 3-534-12079-5 .
  • British Historical Society of Portugal (Hrsg.): O terramoto de 1755: testemunhos britânicos = The Lisbon earthquake of 1755: British accounts, Lisboa 1990, ISBN 972-9394-03-2 .

Sekundärliteratur

  • Erdbeben von Lissabon 1755, mit Beiträgen von Wolf R. Dombrowsky, Odo Marquard, Franz Mauelshagen, Andreas Maurer, Wolfgang Sofsky u. a. In: Neue Zürcher Zeitung, NZZ, Zürich 29./30. Oktober 2005, S.61-65 ISSN 0376-6829.
  • Christiane Eifert: Das Erdbeben von Lissabon 1755. Zur Historizität einer Naturkatastrophe. In: Historische Zeitschrift Nr. 274,3 Oldenbourg, München / Berlin 2002, S. 633–664 ISSN 0018-2613.
  • Matthias Georgi: Das Erdbeben von Lissabon. Primus, Darmstadt 2005, ISBN 978-3-89678-280-9 .
  • Horst Günther: Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa. Fischer-Taschenbuch 16854, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-596-16854-5 .
  • Achim Kopf: Der Untergang von Lissabon. In: Spektrum der Wissenschaft 11/05, Spektrum, Heidelberg 2005, S. 84ff ISSN 0170-2971.
  • Ulrich Löffler: Lissabons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts, de Gruyter, Berlin / New York, NY 1999, ISBN 3-11-015816-7 (Zugleich Dissertation an der Universität Erlangen-Nürnberg 1995/1996).

Siehe auch

Weblinks

 Commons: Erdbeben von Lissabon – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Casanova, Histoire de ma vie
  2. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Surkamp, 1966, Seite 354
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