Latrine (Gedicht)

Latrine (Gedicht)

Latrine ist ein Gedicht des deutschen Lyrikers Günter Eich. Es wurde erstmals 1946 in der Zeitschrift Der Ruf publiziert und 1948 in Eichs Gedichtsammlung Abgelegene Gehöfte aufgenommen. Eich kontrastiert in Latrine schöngeistige Betrachtungen mit der Ausscheidung von Exkrementen. Besonders der Reim von Hölderlin auf Urin wirkte auf die zeitgenössische Rezeption schockierend. Er wurde aber auch als Bruch mit überholten Konventionen und Signal für einen Neubeginn der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden. Latrine gilt als typisches Werk der Kahlschlagliteratur und blieb eines der bekanntesten Gedichte Günter Eichs.

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Das Gedicht beginnt mit den Versen:

„Über stinkendem Graben,
Papier voll Blut und Urin,
umschwirrt von funkelnden Fliegen,
hocke ich in den Knien“.

Während der Blick des lyrischen Ichs in die Ferne schweift, bewaldete Ufer, Gärten, ein gestrandetes Boot wahrnimmt, ist das Klatschen des Kots zu hören.

„Irr mir im Ohre schallen
Verse von Hölderlin.“

Im Schnee spiegeln sich die Wolken im Urin. Das Ich erinnert sich an Verse aus Hölderlins Gedicht Andenken: „Geh aber nun und grüße / Die schöne Garonne“.[1] Der Blick nach unten zeigt:

„Unter den schwankenden Füßen
schwimmen die Wolken davon.“[2]

Form

Latrine besteht aus vier Strophen zu jeweils vier Versen, die einen heterogenen Kreuzreim bilden. Für Bruno Hillebrand war diese feste Struktur „[m]öglicherweise formal als Parodie gemeint“.[3] Herbert Heckmann beschrieb die Verse als wie in einem Stenogramm aneinandergereiht, die Sprache bleibe auf das Wesentliche beschränkt. Erst der Reim verbinde die unverbundenen Beobachtungen durch einen gemeinsamen Rhythmus.[4] Werner Weber sah im Reimbild wie in der metrischen Struktur einen Wechsel von Halt und Haltlosigkeit, Ordnung und Unordnung: jeder zweite Vers schwinge in seinem Ende reimlos und ohne Gleichklang aus: „Graben“, „Fliegen“, „Ufer“, „Verwesung“. Dazwischen seien jeweils feste, nicht-ausschwingende Reime gesetzt.[5]

Laut Kurt Binneberg dienten die formalen Mittel des Gedichts vor allem dem Kontrast zwischen Latrinenwirklichkeit und imaginierter Poesie. So legten die Reim- und Klangverbindungen wie die semantischen Bezüge einen Zusammenhang zwischen erster und dritter, sowie zweiter und vierter Strophe nahe, etwa von den „funkelnden“ Schmeißfliegen zu den spiegelnden Wolken oder dem „Papier voll Blut und Urin“ zu den ebenfalls auf Papier festgehaltenen Versen. Eine besondere Bedeutung komme dem doppelt auftauchenden Reimwort „Urin“ zu, das beim zweiten Mal gegen „Hölderlin“ gesetzt werde, was Binneberg „einen schockierenden Reim“ nannte.[6]

Für Gerhard Kaiser entstand die Metrik des Gedichts vollständig aus Hölderlins zitiertem Vers „Geh aber nun und grüße“, dessen drei Hebungen das ganze Gedicht bestimmten. Dies wirke gemeinsam mit den sinntragenden Reimen gegenüber den freien Rhythmen Hölderlins wie ein starres Gitter. Lediglich der zweite Vers Hölderlins „die schöne Garonne –“ steche durch seine Zweihebigkeit hervor. Klanglich beherrsche den Beginn des Gedichts ein I-Vokalismus, der den Abwehrlaut des Ekels in sich trage, ehe die Klangstimmung mit dem Ö-Laut in Hölderlin und dem Ü-Reim zu Wohllauten umschlage. Eine vergleichbare Entwicklung gebe es auch bei den Häufungen und Alliterationen der Konsonanten: Der Missklang „klatscht […] Kot“ des Beginns wandle sich am Ende in den Wohlklang „schwankenden […] schwimmen die Wolken“.[7]

Interpretation

Gerhard Kaiser interpretierte das Gedicht aus der Situation eines Kriegsgefangenen und dessen Gefühlen von Not, Qual und Erniedrigung. In der embryonalen Haltung über dem Graben, dem „Schlamm der Verwesung“, zurückgeworfen nur noch auf den Stoffwechsel, sei allein der die Natur durchstreifende Blick noch frei, doch auch dieser verfange sich letzten Endes in einem gestrandeten Boot. Wie der Körper sei auch der Geist funktionsgestört, halluziniere „irr“ Hölderlin-Verse, zitiere damit Hölderlins Geisteskrankheit und übertrage sie in eine aus den Fugen geratenen Gegenwart. Die Erinnerung an das Gedicht Hölderlins rufe eine Vision hervor: „In schneeiger Reinheit spiegeln sich Wolken im Urin.“ In diesen Zeilen fallen die Reinheit und das Exkrement, das Glück und der Schmerz zusammen. Noch im Kot und Urin, in der Verzweiflung und dem Irrsinn manifestiere sich die Sehnsucht nach der Schönheit. Der Weltentwurf durch die Poesie sei zwar aus der Erniedrigung heraus geboren, doch verkünde er am Ende den Triumph der Imagination und Inspiration. Indem Latrine die Kraft von Gedichten vorführe, noch mit dem Blick auf den Abgrund, die Hoffnung zu erwecken, bestätige es den letzten Vers aus Hölderlins zitiertem Andenken: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“[1][8]

Peter Horst Neumann sah die Widersprüche in Latrine zwischen Unzivilisation und Kultur letztlich unvereinbar. Auf der einen Seite stehen erniedrigende hygienische Bedingungen, auf der anderen Seite die Andenken an Hölderlins gleichnamiges Gedicht und der Blick auf unerreichbare Naturschönheiten. Ein „gestrandetes Boot“ werde zur Parodie der Hölderlinschen Zuversicht von einer „guten Fahrt“ und zum Symbol des Scheiterns, sowohl für das Individuum wie für die deutsche Nation im Gesamten. Der „irre“ Reim Hölderlin/Urin verbinde Unvereinbares, die Latrinen-Realität mit der geistigen Welt schöner Poesie. Durch diese unaufhebbare Gleichzeitigkeit von Unversöhnlichem erhalte Eichs Gedicht seine Spannung, die laut Neumann bis an die Grenze des Erträglichen reiche.[9]

Michael Kohlenbach betonte, dass auch in der vollkommenen Verfremdung, durch die in Latrine Hölderlins Gedicht Andenken zitiert wurde, noch immer der geistige Bezug auf Hölderlin zutage trete. Eichs Gedicht sei auch als eine „poetische Wiedergutmachung“ an dem während der Zeit des Nationalsozialismus ideologisch ausgeschlachteten und im Jahr 1945 dadurch beinahe unlesbar gewordenen Autor zu verstehen. Auch in späteren Texten, so in seinen Prosagedichten Maulwürfe bezog sich Eich immer wieder dezidiert auf Hölderlin.[10]

Für Herbert Heckmann war die herausragende Eigenschaft von Eichs Gedicht seine Nüchternheit. Eich deute nicht, er registriere bloß ohne jedes rhetorische oder ästhetische Engagement. Seine Lakonie komme ohne Pathos oder Sentimentalität aus und zelebriere auch nicht den Ekel. Während die Welt durch den Krieg aus den Fugen geraten sei, beschränke sich das lyrische Ich auf die bloße Wahrnehmung. Nachdem im Dritten Reich gerade die Verehrung Hölderlins zu besonderer Blüte getrieben worden sei, korrigiere Eich die eklatante Distanz zwischen hohem Stil und Wirklichkeit mit seinem Reim von Hölderlin auf Urin. Er stelle die Dinge in den Mittelpunkt, ohne sie durch eine Deutung zu überhöhen. Letztlich sah Heckmann in Latrine den Versuch, aus einem Bewusstsein der Scham heraus die verfälschte Sprache wieder neu zu erlernen.[11]

Für Peter von Matt lag die Leistung in Latrine darin, dass jemand von der Kloake der Geschichte spreche, die hinter und unter ihm liege, dass er auf „schwanken Füßen“ aufrecht stehe und rede, wo eigentlich kein Wort mehr möglich scheine. Indem er sich dem Unerträglichen stelle, trage er dazu bei, das Vergessen zu verhindern. Dabei gehe es nicht nur um Kulturkritik, sondern auch um den Blick auf die eigene Biografie Günter Eichs, der selbst im Dritten Reich systemtragende Hörspiele mit Anklängen an die Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus verfasst hatte.[12]

Entstehungsgeschichte

Latrine wurde in seiner Entstehung vielfach Eichs Zeit in amerikanischer Kriegsgefangenschaft zugerechnet, wo er als ehemaliger Soldat der deutschen Wehrmacht von April bis Sommer 1945 im Lager Goldene Meile bei Sinzig und Remagen interniert war. Axel Vieregg vermutete bei der Herausgabe Eichs Gesammelter Werke 1991 allerdings, dass Latrine bereits bei Eichs Grundausbildung als Rekrut 1940 in Frankreich entstanden sein könnte, einer Phase, der Vieregg auch die motivisch ähnlichen Gedichte Truppenübungsplatz und Puy de Dôme zurechnete.

Eine überlieferte Erstfassung des Gedichts hatte lediglich zwei Strophen, die in groben Zügen der ersten und dritten Strophe der später publizierten Fassung entsprechen. Die im Fieber gehörten Verse von Hölderlin waren in der zweiten Strophe noch gereimt auf: „Im Spiegelbild der Latrine / die weißesten Wolken ziehn.“ Zum ersten Mal veröffentlicht wurde Latrine in der siebten Ausgabe der noch neuen Zeitschrift Der Ruf von Alfred Andersch und Hans Werner Richter vom 15. November 1946.[13] 1948 nahm Eich das Gedicht in seine Lyriksammlung Abgelegene Gehöfte auf, die mit vier Holzschnitten von Karl Rössing im Verlag Georg Kurt Schauer veröffentlicht wurde. Erst 20 Jahre nach der Erstauflage stimmte Eich einer Neuauflage dieses Bandes in der edition suhrkamp zu.[14]

Rezeption

Laut Peter von Matt verstand die zeitgenössische Aufnahme Latrine als literarisches Programm, das für den Kahlschlag und die Stunde Null stand. Das Gedicht wurde als Geburtsstunde der deutschen Literatur nach 1945 stilisiert, Eich von anderen Schriftstellern, etwa aus der Gruppe 47, als Vorkämpfer gefeiert. Insbesondere der Reim von „Hölderlin“ auf „Urin“ markierte ein Fanal für einen radikalen Neubeginn, löste in der Öffentlichkeit aber auch einen Schock und Skandal aus.[15] Im Rückblick Norbert Raths herrschte bei der Erstveröffentlichung „eine gewisse Aufregung mancher Hölderlin-Schützer“ vor, nach deren Auffassung mit diesem Reim „die deutsche Kultur nun wirklich am Ende“ angelangt wäre.[16] Bruno Hillebrand sprach von einem „Kulturschock“, den das Gedicht verursacht habe.[3] Für Gerhard Kaiser kündete Latrine von „einer im Entstehungsaugenblick in Deutschland beispiellosen Modernität“.[17]

Benno von Wiese warnte den Leser noch 1959, Latrine sei „in keiner Weise geeignet, Ihnen zu gefallen. Es hat aber auch gar nicht diese Absicht, da es im Blick auf die Wirklichkeit und in der Durchbrechung einer Tabu-Sphäre den Leser weit eher brüskieren und schockieren, sicher aber nicht bezaubern will.“[18] Kritisch wandte sich Manfred Seidler auch sechs Jahre später gegen „das Prätentiöse […], die mutwillige Übertreibung“, die etwa im Reim Urin-Hölderlin stecke, und die „aus lauter Unsicherheit solcher Lyrik gegenüber“ für bedeutend erachtet werde.[19] Werner Weber fragte weitere zwei Jahre später: „Ist das Gedicht widerlich, ist es nicht moralisch?“ Seine Antwort stellte die These auf: „Die Moral des Stoffs heißt Form. Demnach: Ein Gedicht mit einem widerlichen Motiv ist durch erfüllte Kunst zu einem schönen, zu einem moralischen Gedicht geworden.“[5]

Heinz Ludwig Arnold wertete Latrine als einen „notwendigen Bruch der Konventionen“, wobei Eich den literarischen Kanon nicht vernichtet, sondern in eine neue Beziehung gerückt habe. Gedichte wie Latrine oder Inventur seien „deutliche Signale von der veränderten Bewußtheit einer veränderten Welt“. Dabei verfasste Eich nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige derart programmatische Texte und wandte sich bald schon einer modernen Naturlyrik zu.[20] Wulf Segebrecht stellte zu Eichs 100. Geburtstag fest, dass die öffentliche Anerkennung, die diesem zuteil wurde, nur auf einer Handvoll Gedichte beruhte. Unter jenen habe Latrine nicht zuletzt durch den verursachten Skandal „anhaltende Aufmerksamkeit erregt“.[21]

Literatur

Veröffentlichungen

  • Erstpublikation: Gedichte von Günter Eich. In: Der Ruf, Ausgabe 7 des 1. Jahrgangs vom 15. November 1946, S. 12.
  • Günter Eich: Abgelegene Gehöfte. Schauer, Frankfurt am Main 1948, S. 44.

Sekundärliteratur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Friedrich Hölderlin: Andenken. Auf Projekt Gutenberg-DE.
  2. Günter Eich: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Band I. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-518-40209-9, S. 37.
  3. a b Bruno Hillebrand: Gesang und Abgesang deutscher Lyrik von Goethe bis Celan. V&R unipress, Göttingen 2010, ISBN 978-3-89971-734-1, S. 494–495.
  4. Herbert Heckmann: Günter Eich: „Latrine“, S. 129.
  5. a b Werner Weber: Die Moral des Stoffs heißt Form. In: Die Zeit vom 17. November 1967.
  6. Kurt Binneberg: Interpretationshilfen. Deutsche Lyrik 1945–1989. Klett, Stuttgart 2005, ISBN 3-12-922627-3, S. 100–101.
  7. Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart, S. 692–694.
  8. Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart, S. 691–695.
  9. Peter Horst Neumann: Die Rettung der Poesie im Unsinn. Der Anarchist Günter Eich, S. 52–54.
  10. Michael Kohlenbach: Günter Eichs späte Prosa. Einige Merkmale der Maulwürfe. Bouvier, Bonn 1982, ISBN 3-416-01679-3, S. 92–96.
  11. Herbert Heckmann: Günter Eich: „Latrine“, S. 127–132.
  12. Peter von Matt: Auf schwankenden Füßen, S. 159–160.
  13. Vgl. Günter Eich: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Band I, S. 438 und 442, wo auch die vollständige Erstfassung abgedruckt ist.
  14. Günter Eich: Abgelegene Gehöfte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1968, S. 2.
  15. Peter von Matt: Auf schwankenden Füßen, S. 158.
  16. Norbert Rath: Kriegskamerad Hölderlin. Zitate zur Sinngebungsgeschichte. In: Uwe Beyer (Hrsg.): Neue Wege zu Hölderlin. Königshausen & Neumann, Würzburg 1994, ISBN 3-88479-692-5, S. 226.
  17. Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart, S. 695.
  18. Benno von Wiese: Die deutsche Lyrik der Gegenwart. In: Wolfgang Kayser: Deutsche Literatur in unserer Zeit. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1959, S. 39.
  19. Manfred Seidler: Moderne Lyrik im Deutschunterricht. Hirschgraben, Frankfurt 1965, S. 89.
  20. Heinz Ludwig Arnold: Die drei Sprünge der westdeutschen Literatur. Eine Erinnerung. Wallstein, Göttingen 1993, ISBN 3-89244-062-X, S. 18–19.
  21. Wulf Segebrecht: Schweigt still von den Jägern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Februar 2007.

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