Alemannische Grammatik

Alemannische Grammatik

Dieser Artikel beschreibt die alemannische Grammatik, insbesondere solche Merkmale, welche für die alemannischen Dialekte (einschließlich des Schweizerdeutschen) im Vergleich zum Standarddeutschen besonders charakteristisch sind.

Inhaltsverzeichnis

Nomen

Grammatische Kategorien

Wie im Standarddeutschen unterscheiden die Deklination der alemannischen Nomina Genus, Numerus und Kasus.

Genus

Ebenso wie das Standarddeutsche unterscheiden die alemannischen Dialekte die drei Genera Maskulinum, Femininum und Neutrum. In verschiedenen alemannischen Dialekten haben sich die Genusunterscheidungen bei den Zahlwörtern zwei und drei erhalten.

männlich weiblich sächlich
‹zwei› zwee zwoo zwäi/zwöi/zwää/zwaa
‹drei› drei drei drüü

Numerus

Ebenso wie das Standarddeutsche unterscheiden die alemannischen Dialekte die Numeri Singular und Plural in den Formen der Substantive, Adjektive, Artikel, Pronomina.

Zum Ausdruck des Plurals der Substantive wird der Umlaut öfter verwendet als im Standarddeutschen (beispielsweise Compüter als Plural von Computer). Überdies gibt es wegen der Apokope der Endung -e mehr Fälle, in denen der Plural alleine durch den Umlaut ausgedrückt wird (beispielsweise Böim ‹Bäume›, Sääl ‹Säle›).

Kasus

Die alemannischen Dialekte unterscheiden die Kasus Nominativ, Dativ und Akkusativ. Nominativ und Akkusativ unterscheiden sich nur bei den Personalpronomen, fallen hingegen bei Artikeln, Adjektiven und Substantiven zusammen, ein in Analogie zum norddeutschen «Akkudativ» bisweilen «Nomakkusativ» genanntes Phänomen.

Der Genitiv tritt nur in einigen Dialekten auf (beispielsweise im Berndeutsch), und ausschließlich in attributiver Stellung und besitzanzeigender Funktion, ((der) Annas Hund), sowie in partitiver Funktion in idiomatischen Ausdrücken (Hesch der Zyt? -- Hast Du der Zeit?).

In verschiedenen Dialekten der mittleren Deutschschweiz werden Dativobjekte mit einer Partikel a oder i eingeleitet, die gleichlautend ist mit den Präpositionen an bzw. in, beispielsweise i gibe’s a/i mynere Frou ‹ich gebe es meiner Frau›.

Wie in anderen deutschen Dialekten — aber nicht im Standarddeutschen — kann eine Konstruktion aus Dativ und Possessivpronomen für die Besitzanzeige verwendet werden, beispielsweise em Adrian sy Hund ‹dem Adrian sein Hund (Adrians Hund)›.

Im Standarddeutschen benötigt man keinen Artikel, wenn man einen Namen verwendet, im Alemannischen hingegen schon.

Deutsch: Daniel geht in die Schule
Alemannisch: De Dänu god i d'Schuel.

Es bekommen also nicht nur Personennamen, sondern jedes Wort, beispielsweise Markennamen wie ALDI, einen Artikel.[1]

Artikel

Wie im Standarddeutschen unterscheiden die alemannischen Dialekte einen bestimmten und einen unbestimmten Artikel. Die Artikel kongruieren in Genus, Numerus und Kasus mit ihrem Bezugswort. Im Plural entfällt der unbestimmte Artikel. Im Unterschied zum Standarddeutschen hat überdies der bestimmte Artikel singular feminin bzw. plural (außer im Schwäbischen) zwei verschiedene Formen, und zwar in Abhängigkeit davon, ob ein Adjektiv folgt oder nicht, beispielsweise d Frou ‹die Frau› — di schöni Frou ‹die schöne Frau›/di Schöni ‹die Schöne›.

Anders als im Standarddeutschen unterscheidet sich der unbestimmte Artikel vom Zahlwort für ‹eins›, beispielsweise e Maa ‹ein Mann› — ei Maa ‹EIN Mann›. Ebenfalls unterscheidet sich die Verwendung des bestimmten Artikels als reiner Artikel von der Verwendung als Demonstrativum, beispielsweise ds Chind ‹das Kind› — das Chind ‹DAS Kind (da)/dieses Kind› (vergleiche niederländisches het kind, Aussprache [ət kɪnt], bzw. dat kind). Im Schwäbischen lauten bestimmter Artikel/Demonstrativum: dor/där Mâ (Mann), d´/dui Frao (Frau), s´/dees Kend (Kind), d´/dia Leid (Leute).

Im Unterschied zum Standarddeutschen wird der Artikel auch bei Eigennamen verwendet, ohne dass dies eine pejorative Bedeutung hätte, beispielsweise de(r) Thomas ‹Thomas›.

Formen des bestimmten Artikels (der Genitiv wird in vielen Dialekten nicht verwendet):

maskulin feminin neutrum plural
Nominativ/Akkusativ* də(r) d — di (d)s d — di
Dativ əm (d)ər əm
Genitiv (d)s (d)ər (d)s (d)ər

(*) Für die bestimmten Artikel im sing. wie im pl. wird nicht zwischen nom. und acc. unterschieden. Einen Unterschied zwischen nom. und acc. kennt nur das Demonstrativum mask. sing.: "Der Mâ" (nom. = dieser Mann) und "denn Mâ" (acc. = diesen Mann).

Formen des unbestimmten Artikels:

maskulin feminin neutrum
Nominativ/Akkusativ ə(n) ə ə(s)
Dativ (ə)m(ən)ə (ən)əre/rə (ə)m(ən)ə

Verbindungen aus Präpositionen und Artikeln sind zahlreicher als im Standarddeutschen, beispielsweise füre Peter ‹für den Peter›, i Wald ‹in den Wald› (man beachte, dass diese Kürzungen beide auch in Dialekten verwendet werden, wo der Nominativ/Akkusativ der lautet und nicht de, so dass dort einander gegenüberstehen: i gseh der Peter ‹ich sehe den Peter› — füre Peter ‹für den Peter›).

Substantiv

In den meisten Dialekten ist auslautendes -e apokopiert worden (ausgenommen einige höchstalemannische Dialekte), beispielsweise Brügg ‹Brücke›, Sääl ‹Säle›.

Erhalten hat sich das auslautende -e nur in einigen Feminina, jedoch nicht als Schwa, sondern als -i, beispielsweise Chuchi ‹Küche›, Sagi ‹Säge›. Diese Feminina bilden ihren Plural auf -inə, beispielsweise Chuchine ‹Küchen›, Sagine ‹Sägen›.

Die auf -el endenden Substantive bilden den Plural durch Umstellung auf -le, beispielsweise Sägel ‹Segel (singular)› — Sägle ‹Segel (plural)›.

Adjektiv

Wie im Standarddeutschen, so kongruiert auch in den alemannischen Dialekten das Adjektiv mit Genus, Numerus, Kasus und Bestimmtheit. Das Paradigma der Adjektivendungen weicht jedoch vom Standarddeutschen ab.

Adjektivendungen bei unbestimmtem Bezugswort:

maskulin feminin neutrum plural
Nominativ/Akkusativ ə schönə/r ‹ein schöner ə schöni/ə ‹eine schöne ə(s) schöns ‹ein schönes schöni/-e ‹schöne
Dativ (ə)m(ən)ə schönə ‹einem schönen (ən)əre/rə schönə ‹einer schönen (ə)m(ən)ə schönə ‹einem schönen schönə/e ‹schönen

Formen bei bestimmtem Bezugswort:

maskulin feminin neutrum plural
Nominativ/Akkusativ də(r) schön(e) ‹der schöne d(i) schön(i/e) ‹die schöne (d)s schöne ‹das schöne d(i) schöne ‹die schönen
Dativ əm schönə ‹dem schönen (d)ər schönə ‹der schönen əm schönə ‹dem schönen də schönə/e ‹den schönen

Prädikative Adjektive werden in einigen höchstalemannischen Dialekten ebenfalls dekliniert, beispielsweise si isch schöni ‹sie ist schön›.

Personalpronomen

Im Unterschied zum Standarddeutschen unterscheiden die alemannischen Dialekte zwischen betonten Formen der Personalpronomina und unbetonten, die enklitisch an Verben oder an Konjunktionen angehängt werden, beispielsweise mer singe bald ‹wir singen bald› — mir singe bald ‹WIR singen bald›.

Verben

Wie im Standarddeutschen, so werden auch in den alemannischen Dialekten die Verben konjugiert nach Person, Numerus, Tempus und Modus.

Grammatische Kategorien

Person und Numerus

Die alemannischen Dialekte unterscheiden sich hinsichtlich der Differenzierung im Plural der Verben:

  • Die östlichen Dialekte (z.B. das Zürichdeutsche oder Schwäbische) weisen nur eine einzige Pluralendung in allen drei Personen auf, beispielsweise mir/ihr/si male(n)d.
  • Die westlichen Dialekte (z.B. das Berndeutsche) unterscheiden zwei verschiedene Pluralendungen so wie das Standarddeutsche, beispielsweise mir/si male — (d)ihr malet.
  • Einige höchstalemannische Dialekte unterscheiden drei Pluralendungen, beispielsweise wir male(n) — ihr malet — si malend.

Das durch den kombinatorischen Lautwandel entstandene /i/ ist auch in der ersten Person singular erhalten geblieben, wo es im Standarddeutschen durch Analogie zu einem /e/ geworden ist, beispielsweise i(ch) nime ‹ich nehme›, i(ch) gibe ‹ich gebe›, i(ch) wirde ‹ich werde› (vgl. mit den Formen du nimmst/gibst/wirst, sie nimmt/gibt/wird, wo dieses /i/ auch im Standarddeutschen auftritt).

Tempus

Wie in allen süddeutschen Dialekten gibt es auch im Alemannischen kein Präteritum. Stattdessen wird stets das Perfekt verwendet. Zum Ausdruck der Vorvergangenheit dient das doppelte Perfekt, beispielsweise i ha’s gmacht gha ‹ich habe es gemacht gehabt (ich hatte es gemacht)›.

Das periphrastische Futur mit dem Hilfsverb werden wird im Alemannischen nicht verwendet. Stattdessen wird einfach Präsens gebraucht, oft mit der Modalpartikel de (bzw. no) ‹dann›.

Modus

Wie das Standarddeutsche, so unterscheidet auch das Alemannische, nicht jedoch das Schwäbische, die Modi Indikativ, Konjunktiv I, Konjunktiv II und Imperativ. Die Paradigmen von Konjunktiv I und Indikativ unterscheiden sich deutlicher als im Standarddeutschen. Konjunktive werden auch in der Umgangssprache oft verwendet.

Indikativ Konjunktiv I Konjunktiv II
1. Pers. sing. i male i mali i malti
2. Pers. sing. du malsch du malisch du maltisch
3. Pers. sing. är malt är mali är malti
1. Pers. plur. mir male(t) mir male(t)/mali(t) mir malte(t)/malti(t)
2. Pers. plur. (d)ihr malet (d)ihr malet/malit (d)ihr maltet/maltit
3. Pers. plur. si male(t) si male(t)/mali(t) si malte(t)/malti(t)

Partizip

Im Unterschied zum Standarddeutschen kennt das Alemannische eigentlich kein Partizip Präsens Aktiv. Die moderne Umgangssprache hat es aus dem Standarddeutschen entlehnt, beispielsweise fählendi Syte ‹fehlende Seite›.

Die Vorsilbe ge- des Partizip Perfekt Passiv ist zu g- reduziert: gmacht ‹gemacht›, gänderet ‹geändert›. Vor einer Fortis (p, t, gg) entfällt dieses g-: trunke ‹getrunken›; vor einer Lenis (b, d, g) entfällt es in gewissen Dialekten, während es sich in anderen an die Lenis assimiliert und zusammen mit ihr eine Fortis bildet: blibe oder bblibe/plibe ‹geblieben›, go <gehen> → ggange<gegangen>.

Mehrteilige Prädikate

Die Reihenfolge mehrgliedriger Prädikate ist variabel, teilweise mit regionalen Präferenzen, beispielsweise:

är het wölle cho (westlicher Typus) ‹er hat kommen wollen›
er hot kommə wellə (östlicher Typus) ‹er hat kommen wollen›

Reduplikation

In einigen Dialekten reduplizieren die Verben gaa/goo ‹gehen›, choo ‹kommen›, laa/loo ‹lassen›, aafaa/aafoo ‹anfangen› im Indikativ Präsens, wenn sie zusammen mit einem anderen Verb ein komplexes Prädikat bilden. Dabei wird eine unbetonte Wiederholung dieser Verben dem Infinitiv des anderen Verbs proklitisch vorangestellt, beispielsweise i gange ga schaffe ‹ich gehe arbeiten›, si chunt üse Chrischtboum cho schmücke ‹sie kommt unseren Christbaum schmücken›, si laat ne nid la schlaaffe ‹sie lässt ihn nicht schlafen›, es faat gly afa rägne ‹es fängt gleich an zu regnen›. In gewissen Gegenden können die reduplizierten Formen ihrerseits redupliziert sein, beispielsweise si goot goge ychauffe ‹sie geht einkaufen›, es chunt chogoge rägne ‹es kommt regnen› (ein Regen ist am Aufziehen).

Die Reduplikation kann zwar für die Verben laa/loo ‹lassen› und aafaa/aafoo ‹anfangen› weggelassen werden, aber sie stellt die weniger markierte Form dar.

Man vergleiche die Reduplikation mit gleichartigen Perfekt- oder Modalkonstruktionen:

Beispiel Übersetzung
Reduplikation si laat/loot ne nid/nöd la/lo schlaaffe/schlooffe sie lässt ihn nicht schlafen
Perfekt si het ne nid/nöd la/lo schlaaffe/schlooffe sie hat ihn nicht schlafen lassen
Modalkonstruktion si wot ne nid/nöd la/lo schlaaffe/schlooffe sie will ihn nicht schlafen lassen

Anmerkung: Es gibt Gebiete, wo auch die Perfektform und/oder die Modalkonstruktion redupliziert wird: Si het ne nid lo schlooffe lo; Si wot ne nid lo schlooffe lo.

Syntax

Relativsatz

In den alemannischen Dialekten werden Relativsätze stets mit der Relativpartikel wo (schwäbisch ) gebildet.

Die Relativpartikel wo kann im Relativsatz die Funktion des Subjekts oder des Akkusativ-Objekts übernehmen, beispielsweise e Maa wo schlaft ‹ein Mann der schläft›, es Chind wo d’ gsehsch ‹ein Kind das du siehst›.

Hingegen kann die Relativpartikel wo nicht die Funktion eines Dativ- oder Präpositionalobjekts übernehmen. Derartige Relativsätze erfordern neben der Relativpartikel ein separates Dativ- bzw. Präpositionalobjekt, beispielsweise e Maa wo si nem zueluegt ‹ein Mann dem sie zuschaut›, ds Ändi wo mir druf warte ‹das Ende auf das wir warten›, oder in schwäbischer Variante dui Frao, der må i on Kuss gäa hao ‹Jene Frau, der ich einen Kuss gegeben habe›.

Einzelnachweise

  1. Uni Augsburg: zu/zum/nach

Literatur

  • Albert Weber: Zürichdeutsche Grammatik. Ein Wegweiser zur guten Mundart. Unter Mitwirkung von Eugen Dieth. Zürich 1948. 3. Auflage 1987, ISBN 3-85865-083-8. (= Grammatiken und Wörterbücher des Schweizerdeutschen in allgemeinverständlicher Darstellung. Band I.)
  • Ludwig Fischer: Luzerndeutsche Grammatik. Ein Wegweiser zur guten Mundart. Zürich 1960. 2. Auflage 1999, ISBN 3-85921-085-8. (= Grammatiken und Wörterbücher des Schweizerdeutschen in allgemeinverständlicher Darstellung. Band II.)
  • Rudolf Suter: Baseldeutsch-Grammatik. Basel 1976. 2. Auflage 1992, ISBN 3-85616-048-5. (= Grammatiken und Wörterbücher des Schweizerdeutschen in allgemeinverständlicher Darstellung. Band VI.)
  • Werner Marti: Berndeutsch-Grammatik. Bern 1985, ISBN 3-305-00073-2.
  • Karl Weinhold: Alemannische Grammatik. Berlin 1863. Neudruck Amsterdam 1967.

Weblinks


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