Hans Robert Jauß

Hans Robert Jauß

Hans Robert Jauß (* 12. Dezember 1921 in Göppingen; † 1. März 1997 in Konstanz) war ein deutscher Literaturwissenschaftler und Romanist mit den Schwerpunkten mittelalterliche und moderne französische Literatur. Er war Mitbegründer der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik.[1]

Inhaltsverzeichnis

Leben

Jauß war der jüngere Sohn eines württembergischen Volksschullehrers. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs meldete sich Jauß 1939 freiwillig zur Waffen-SS und wurde Mitglied der SS (SS-Nr. 401.359). 1942 gehörte er der SS-Freiwilligen-Legion Niederlande an. 1943 wurde er Obersturmführer in der 11. SS-Freiwilligen-Legion Nordland. 1944 war er SS-Hauptsturmführer der Reserve. Anschließend gehörte er der 33. Waffen-Grenadier-Division der SS Charlemagne an.[2] Jauß war Träger des Deutschen Kreuzes in Gold.

Jauß begann sein Studium 1944 zunächst an der Deutschen Reichsuniversität im okkupierten Prag. Nach US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft bis 1948 studierte er an der Universität Heidelberg, wo er Romanische Philologie, Philosophie, Geschichte und Germanistik belegte. 1952 wurde er bei dem Romanisten Gerhard Hess promoviert. Nach seiner Habilitation in Heidelberg 1957 erhielt er 1959 einen Ruf an die Westfälische Wilhelms-Universität in Münster als Direktor des romanistischen Seminars. 1961 wechselte er an die Universität Gießen; 1966 an die neu gegründete Universität Konstanz. Zusammen mit Wolfgang Iser und Hans Blumenberg initiierte Jauß 1963 die einflussreiche Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik.

Seine Antrittsvorlesung als Professor an der Universität Konstanz im Jahre 1967 unter dem Titel Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft leitete einen Perspektivenwechsel in der literaturwissenschaftlichen Forschung ein, der heute unter dem Begriff der Rezeptionsästhetik (auch Konstanzer Schule) bekannt ist.

1980 wurde Jauß Ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; er war Mitglied der Academia Europaea und der Accademia dei Lincei in Rom. Er war Ehrenmitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Er war Ehrendoktor der Universität Iași und Ehrenvorsitzender des Deutschen Romanistenverbands. Zahlreiche Gastprofessuren führten ihn nach Berlin, Berkeley, an die Columbia University New York, nach Leuven, Los Angeles, Madison, Paris, Princeton, Yale, wohin er einen Ruf ablehnte, und Zürich. 1987 wurde er emeritiert.

Die Tatsache, dass Jauß in seiner Jugend in der Waffen-SS gedient hat, wurde erst im Jahr 1995 von Earl Jeffrey Richards aufgedeckt; der Beitrag löste eine Kontroverse zwischen Richards und den Jauß-Verteidigern Michael Nerlich und Karlheinz Stierle in der Frankfurter Rundschau aus. Richards hat im Folgenden auf weitere Dokumente hingewiesen, die Jauß Verschleierung seiner SS-Vergangenheit in der unmittelbaren Nachkriegszeit belegen.[3] Richards hat auch behauptet, bestimmte Elemente in Jauß' literaturwissenschaftlichen Theorien - vor allem seine Akzentuierung der "Alterität" (Andersartigkeit) der Literatur der Vergangenheit - seien mit Jauß' Verleugnung der Kontinuität seiner eigenen Biographie in Verbindung zu bringen. Sein Schüler Hans Ulrich Gumbrecht wirft Jauss vor, dass er weder seine Tätigkeit bei der Waffen-SS, die Zeit bis Dezember 1945 noch die Zeit von Ende 1945 bis 1948, in der er angeblich Kriegsgefangener gewesen sei, aufgeklärt habe und dass er und seine Generation „die Last der schrecklichen Vergangenheit, für die sie nicht geradezustehen wagten“, an die Folgegeneration vererbt habe[4].

Werke

  • Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung. Niemeyer, Tübingen 1959.
  • Genèse de la poésie allégorique française au Moyen-âge de 1180 à 1240. C. Winter, Heidelberg, 1962.
  • Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Uvk Univers.-Vlg., Konstanz 1967.
  • Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts »A la recherche du temps perdu«: Ein Beitrag zur Theorie des Romans. 2. Aufl., Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, ISBN 978-3518281871.
  • Die literarische Postmoderne - Rückblick auf eine umstrittene Epochenschwelle. In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 4, 1990, S. 310-332.
  • Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990, ISBN 978-3518284643.
  • Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 978-3518285558.
  • Wege des Verstehens. Fink, München 1994.
  • Die Theorie der Rezeption. Rückschau auf ihre unerkannte Vorgeschichte. Uvk Univers.-Vlg., Konstanz 1998, ISBN 978-3879403363.
  • Probleme des Verstehens. Reclam, Stuttgart, 1999, ISBN 978-3150097649

Literatur

  • Luca Farulli, Georg Maag: Hans Robert Jauß: Im Labyrinth der Hermeneutik. Ein Gespräch vor achtzehn Jahren. In: Zeitschrift für Ideengeschichte. 4, 2010, S. 97–114.
  • Horst Sund: Ansprache anläßlich der Emeritierung von Hans Robert Jauß am 11. Februar 1987. In: Hans Robert Jauß: Die Theorie der Rezeption – Rückschau auf ihre unerkannte Vorgeschichte. Universitäts-Verlag, Konstanz 1987, ISBN 3-87940-336-8 (Konstanzer Universitätsreden 166), (Der Band enthält auch eine 14-seitige Bibliographie 1952–1987).
  • Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Fink, München 1975, ISBN 3-7705-1053-4 (Uni-Taschenbücher 303).

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Zeitschrift für Ideengeschichte. Verlag C. H. Beck, Marbach u.a., 4/2010, S. 127.
  2. Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2007, S. 282.
  3. Vgl. Earl Jeffrey Richards: Vergangenheitsbewältigung nach dem Kalten Krieg. Der Fall Hans Robert Jauß und das Verstehen. In: Germanisten. Zeitschrift schwedischer Germanisten 1 (1997), S. 28-43. Siehe auch Joachim Fritz-Vannahme: Ethik und Ästhetik. In: Die Zeit Nr. 38/1996; Otto Gerhard Oexle: Zweierlei Kultur. Zur Erinnerungskultur deutscher Geisteswissenschaftler nach 1945. In: Rechtshistorisches Journal 16 (1997), S. 358-390.
  4. Hans Ulrich Gumbrecht, Mein Lehrer, der Mann von der SS. Die Universitätkarriere von Hans Robert Jauss zeigt, wie man mit NS-Vorgeschichte eine bundesrepublikanische Größe werden konnte, Die Zeit, 7. April 2011, S.62

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