Jürgen Thorwald

Jürgen Thorwald

Jürgen Thorwald (* 28. Oktober 1915 in Solingen als Heinz Bongartz; † 4. April 2006 in Lugano) war ein deutscher Schriftsteller.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Der Sohn eines Lehrers begann nach dem Schulabschluss zunächst in Köln ein Medizinstudium, das er aber bald aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Stattdessen studierte er Germanistik und Geschichte ebenfalls an der Universität Köln. Seine journalistische Laufbahn begann 1933; er schrieb für Die Braune Post, die SS-Zeitung Das Schwarze Korps und besonders für die Essener National-Zeitung, einem „Organ der NSDAP.“[1] Der Thorwald-Forscher David Oels bemerkte zu seinem frühen Wirken:

„Nach abgebrochen Philologiestudium spezialisierte er sich von 1938 an auf die publizistischen Wachstumsmärkte Luftfahrt und Luftwaffe. 1939 erschien sein erstes Buch Luftmacht Deutschland, ein reich bebilderter Folioband. Das Geleitwort schrieb Hermann Göring.[1]

Während des Zweiten Weltkrieges war Thorwald in Berlin ziviler Mitarbeiter in einer geschichtlichen Abteilung des Oberkommandos der Marine. Seine bis 1945 entstandenen Publikationen „bewegen sich (…) im Zwischenreich von Tagesjournalismus, populärer Geschichtsschreibung und Propaganda […], auch wenn er nicht zu den Propagandatruppen gehörte.“[1] So versprach der Klappentext seines zweiten Buches, Luftkrieg im Westen (1940) ein „Tatsachenbuch“, das die „wesentlichen fliegerischen Kampfhandlungen […] mit Spannung geladen“ darstelle.[1]

Nach Kriegsende war Thorwald zunächst als Journalist in Stuttgart tätig, wo er zu den Mitbegründern der Wochenzeitung Christ und Welt gehörte, für die er zudem von 1948 bis 1951 als Redakteur arbeitete[2] Anschließend war Thorwald bei der Illustrierten Quick tätig.[3] Ein im Frühjahr 1945 entstandener Bericht, „für den er in die Lübecker Bucht geschickt wurde, um (…) über die dort ankommenden Flüchtlinge via Seetransport von Ostpreußen, Westpreußen u.s.w. zu schreiben“[4] erschien erst 1948, zerlegt in die zwei langen Artikel über Die Katastrophe der Flüchtlingsschiffe 1945; bei Christ und Welt. Für die Alliierten galt das Blatt, das maßgeblich von ehemaligen Mitarbeitern der Propagandaabteilung des Auswärtigen Amtes geschrieben wurde, als „under cover nazi paper“.[1] „Wegen Bongartz’ Artikeln nun warfen ihr die Alliierten 'Nationalismus und Militarismus' vor. Daraufhin nahm der Autor für eine von März bis Juni 1949 erscheinende Serie zum Ostdeutschen Schicksal das Pseudonym Jürgen Thorwald an.“[1] Der Verlag plante eine Buchausgabe dieser Artikelreihe, denn „die Zeitung bat ihre Leser für eine 'wesentlich ergänzte Fassung des Tatsachenberichtes' um weiteres Quellenmaterial, Erlebnisberichte, Aufrufe, Dokumente, Zeitungen.“[1]

1949/50 erschien Die große Flucht – aufgeteilt in die zwei Bände Es begann an der Weichsel und Das Ende an der Elbe – im Stuttgarter Steingrüben Verlag. Seitdem wurde das Buch über fünfzig Mal aufgelegt. Damit und mit seinen weiteren dokumentarischen Werken über die NS-Zeit wurde er einem breiteren Publikum bekannt. Teilweise arbeitete Thorwald mit Fiktionalisierungen, die er bei späteren Auflagen entfernte und damit auf „erinnerungspolitische Wendungen reagiert[e]“[1] „So erfährt der Leser seit 1979 nichts mehr von den Gedankengängen eines Rotarmisten.“ 1995 wurden besonders drastische Episoden herausgenommen, wie „das Kapitel mit dem Pfarrer Seifert, der in der Gegend von Pirna ‚Tausende und Abertausende‘ Deutsche tot die Elbe heruntertreiben sieht“ sowie die einer „hölzerne[n] Bettstelle, auf der eine ganze Familie mit ihren Kindern mit Hilfe langer Nägel angenagelt war“,[1] für die sich weder in Thorwalds Unterlagen noch in anderen Dokumenten Belege finden ließen. Die Stellen gehörten zu den „symbolischen Verdichtungen“,[1] die als „‚Augenzeugenbericht‘ das bevorzugte Beispiel der CDU-Politikerin und Vertriebenenfuntionärin Erika Steinbach [war], mit dem sie ‚gerade jungen Menschen‘ die Notwendigkeit ihres Zentrum für Vertreibungen verdeutlichen will.“[1]

Im Unterschied zu Oels’ Darstellung von 2010 attestiert Moishe Postone Thorwald, dass sein Artikel im Spiegel 1979 aus Anlass des Fernsehfilms Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß „einer der wenigen jüngeren Versuche in den westdeutschen Medien, die Vernichtung der Juden durch die Nazis qualitativ zu bestimmen,“ gewesen sei. Thorwald wird hier soweit konkret: „die Planer und Akteure des Holocaust, nicht nur in der SSD,[5] sondern im Auswärtigen Amt, im Finanzministerium, im Wirtschafts- oder Verkehrsministerium und ihren Außenstellen wurden zu Auserwählten […] zu töten.“ Er nennt Otto Ohlendorf und das Reichssicherheitshauptamt (RSHA).[6]

Ab 1951 arbeitete Thorwald als freiberuflicher Schriftsteller. 1956 gelang ihm mit Das Jahrhundert der Chirurgen, einer Chronik der jüngeren Medizingeschichte, ein Bestsellererfolg. In den nächsten Jahren schrieb er weitere Sachbücher über die Medizin und ihre Geschichte, unter anderem Das Weltreich der Chirurgen und Die Entlassung über Ferdinand Sauerbruch. Ein anderer großer Erfolg gelang ihm 1965 mit Das Jahrhundert der Detektive, einem Abriss der sensationellen Kriminalfälle und einer Geschichte der Kriminalistik. Zu seinen Werken zählen eine Geschichte der Juden in Amerika (Das Gewürz), Im zerbrechlichen Haus der Seele – Macht und Ohnmacht der Gehirnchirurgen sowie die Romane Der Mann auf dem Kliff, Die Monteverdi Mission und Tödliche Umarmung.

Das Buch über Sauerbruch führte zu einer Klage von Nachkommen des Arztes. Thorwald hatte geschrieben, dass der Arzt trotz einer Gehirnsklerose weiter operiert hätte. Die Kläger unterlagen im Rechtsstreit vor Gericht.

Jürgen Thorwald lebte zuletzt in Suvigliana, einem Ortsteil von Lugano im Tessin.

Auszeichnungen und Ehrungen

  • 1966 Nominierung zum Edgar Allan Poe Award in der Kategorie Best Fact Crime für Das Jahrhundert der Detektive
  • 1979 Award in Forensic Medicine
  • 1984 Bundesverdienstkreuz 1. Klasse
  • 1995 Ehrenmedaille der European Conference on Man für Der geplagte Mann

Werke (Auswahl)

unter dem Namen Heinz Bongartz
  1. Werden und Aufstieg der deutschen Luftmacht. Der Luftkrieg in Polen. 1941 (mehr nicht erschienen).
  • Seemacht Deutschland. Essener Verlagsanstalt, Essen 1941/44
  1. Der Wiederaufstieg der deutschen Kriegsmarine. Der Krieg zur See bis zum Beginn des Feldzuges in Norwegen. 1941.
  2. Die Kriegsmarine im Kampf um Norwegen. Die Eroberung der Kanal- und Atlantikküste. Der Kriegseintritt Italiens und die neue Ausgangslage des Seekrieges. 1944.
unter dem Namen Jürgen Thorwald
  • Es begann an der Weichsel. Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Band 1 von Die große Flucht. Droemer Knaur, München 1995, ISBN 3-426-80067-5 (Nachdr. d. Ausg. Stuttgart 1949); ebd. 2005, neuer UT: Niederlage, Flucht und Vertreibung.
  • Das Ende an der Elbe. Die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs im Osten. Bd. 2 von Die große Flucht. Droemer Knaur, München 1995, ISBN 3-426-80068-3 (Nachdr. d. Ausg. Stuttgart 1950)
  • Die ungeklärten Fälle. 2. Aufl. Steingrüben, Stuttgart 1952 (Ernst Udet, Eduard Dietl, Günther Prien, Werner Mölders, Fritz Todt, Kurt Lasch, Ferdinand Schörner, Walter Model, Walter von Reichenau)
  • Der Fall Pastorius. Steingrüben, Stuttgart 1953
  • Blut der Könige. Das Drama der Bluterkrankheit in den europäischen Fürstenhäusern. Droemer Knaur, München 1977, ISBN 3-426-00468-2
  • Das Jahrhundert der Chirurgen. Nach den Papieren meines Großvaters, des Chirurgen H. St. Hartmann. 18. Aufl. Knaur, München 1995, ISBN 3-426-03275-9 (Fortsetzung s. folg.)
    • Das Weltreich der Chirurgen. Aus den Papieren meines Großvaters, des Chirurgen H. St. Hartmann. Knaur, München 1981, ISBN 3-426-03281-3 (Fortsetzung von vorigem)
  • Die Entlassung. Das Ende des Chirurgen Ferdinand Sauerbruch. Droemer Knaur, München 1983, ISBN 3-426-26081-6
  • Macht und Geheimnis der frühen Ärzte. Ägypten, Babylonien, Indien, China, Mexiko, Peru. 10. Aufl. Droemer Knaur, München 1993, ISBN 3-426-77064-4.
  • Das Jahrhundert der Detektive. Wege und Abenteuer der Kriminalistik. Droemer Knaur, Zürich 1980, ISBN 3-85886-092-1.(früher unter dem Titel „Die Stunde der Detektive. Werden und Welten der Kriminalistik“)
  • Die Traum-Oase oder Roman eines Image; Beverly Hills. Neuaufl. Droemer Knaur, München 1971
  • Die Patienten. Die Helden dieses Buches sind Menschen wie du und ich. Droemer Knaur, München 1979, ISBN 3-426-03383-6
  • Aufrechnen bekundet Unwissenheit. Jürgen Thorwald über die Einmaligkeit des Holocaust. In: Der Spiegel. Nr. 6, 1979 (online).
  • Die Frauenärzte. In: Das Beste von Konsalik, Danella, Simmel, Paretti, Jürgen Thorwald, Bergius. Deutscher Bücherbund, Stuttgart (1982) (zuerst 1972)[7]
  • Die Illusion. Rotarmisten gegen Stalin. Die Tragödie der Wlassow-Armee. Knaur, München 1995, ISBN 3-426-80066-7 (früher unter dem Titel „Wen sie verderben wollen“)
  • Das Gewürz. Die Saga der Juden in Amerika. Droemer Knaur, München 1978, ISBN 3-426-03666-5
  • Im zerbrechlichen Haus der Seele. Ein Jahrhundert der Gehirnchirurgen, der Gehirnforscher, der Seelensucher. Knaur, München 1990, ISBN 3-426-03918-4
  • Die Monteverdi-Mission. Roman. Neufassung, Droemer-Knaur, München 1998, ISBN 3-426-19262-4
  • Der geplagte Mann. Die Prostata, Geschichte und Geschichten. Droemer Knaur, München 1994, ISBN 3-426-26821-3

Interview

  • Jürgen Thorwald, die Juden in Amerika. Ein Gespräch mit Hans Heinz Holz. In: Franz J. Bautz (Hrsg.): Geschichte der Juden. Von der biblischen Zeit bis zur Gegenwart. Beck, München 1983, ISBN 3-406-08468-0, S. 184-227.

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. a b c d e f g h i j k David Oels: Schicksal, Schuld und Gräueltaten. Populäre Geschichteschreibung aus dem Geiste der Kriegspropaganda: Jürgen Thorwalds ewiger Bestseller „Die große Flucht“. In: Die Zeit. Nr. 30 vom 22. Juli 2010, S. 16. (Kurzfassung der Studie über Thorwalds Buch in der Zeitschrift Zeithistorische Forschungen. Vandenhoeck & Ruprecht, 2010
  2. Seine pseudonym geschriebenen, ganz im alten Stil gehaltenen Artikel über die Flüchtlingsschiffe in der Ostsee 1948 waren mit der Grund dafür, dass das Blatt bei den Amerikanern intern "Verdeckte Nazi-Zeitung" hieß. [1]
  3. Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2007, S. 552.
  4. Zitat Thorwald. In David Oels: Schicksal, Schuld und Gräueltaten. Populäre Geschichtsschreibung aus dem Geiste der Kriegspropaganda: Jürgen Thorwalds ewiger Bestseller „Die große Flucht“. In: Die Zeit, Nr. 30/2010, S. 16.
  5. (PDF). ZU Thorwalds Abkürzung „SSD“. Es müsste eigentlich "dem SSD" für "SS-Sicherheitsdienst", also SD, heißen. Diese Abkürzung ist nur aus internen Nazischreiben bekannt, z. B. Schreiben Himmlers an Heydrich von 1942 [2]. Nach 1945 wurde entweder SS oder SD abgekürzt
  6. Jürgen Thorwald: Aufrechnen bekundet Unwissenheit. In: Der Spiegel. Nr. 6, 1979, S. 193–194 (online). Siehe Werke, 1979. Weiter waren die allermeisten Historiker in ihren Aussagen bis 1979 auch nicht gewesen.
  7. zuerst als Serie in Der Stern: Damit griff er in die Abtreibungsdiskussion der Jahre ein: „Wenn manche Gynäkologen, die in diesen Tagen wieder die Schleusen der Moral oder Ethik gegen eine Anpassung des Paragraphen 218 an die gegenwärtige und zukünftige Welt öffnen, aus der Geschichte gelernt hätten, würden sie wissen, dass ihre Haltung in allernächster Zukunft als genauso weltfremd, erstarrt und unbegreiflich verurteilt werden wird wie die Haltung ihrer Vorfahren.“ 1982 nur als Club-Ausgabe, wegen des Drucks der organisierten Abtreibungs-Gegner auf andere Verlage. Ohne Angabe des Hrsg., S. 415–536

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