Kemalismus

Kemalismus
Mustafa Kemal Atatürk

Der Kemalismus (türkisch Kemalizm; seltener Atatürkismus, türkisch Atatürkçülük) ist eine insbesondere durch Mustafa Kemal Atatürk geprägte Ideologie.

Er ist die Gründungsideologie der Türkei. Versinnbildlicht wird diese durch die so genannten sechs Pfeile (Altı Ok), die für Republikanismus im Sinne von Volkssouveränität, Nationalismus als Wendung gegen den Vielvölkerstaat des osmanischen Zuschnitts, Populismus als Ausdruck einer auf die Interessen des Volkes, nicht einer Klasse gerichteten Politik, Revolutionismus im Sinne einer stetigen Fortführung von Reformen, Laizismus, d.h. Trennung von Staat und Religion, und Etatismus mit partieller staatlicher Wirtschaftslenkung stehen.

Der Kemalismus ist seit 1931 auch zentraler Bestandteil des Parteiprogramms der von Atatürk 1923 gegründeten und heutigen größten Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), deren Emblem bis heute aus den Sechs Pfeilen des Kemalismus auf rotem Hintergrund besteht.

Inhaltsverzeichnis

Kemalismus in der Verfassung

Die sechs Prinzipien erhielten am 5. Februar 1937 – 14 Jahre nach Staatsgründung – Verfassungsrang. Artikel 2, Satz 1 des Verfassungsgesetzes der Republik Türkei von 1924 lautete von da an: Das Türkische Reich ist republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, interventionistisch, laizistisch und revolutionär.[1]

Sowohl nach dem Militärputsch von 1960 als auch nach dem von 1980 veranlassten die Türkischen Streitkräfte eine grundlegende Überarbeitung der Verfassung, deren Text jeweils per Volksentscheid gebilligt wurde. Dabei ging der direkte Bezug auf die sechs Prinzipien verloren.

In der Verfassung von 1961 wurden zunächst Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit stärker betont: Der Artikel 2, Satz 1 lautete nun: Die türkische Republik ist eine auf den Menschenrechten und den in der Präambel festgesetzten Grundprinzipien begründeter nationaler, demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.[2]. In der im November 1982 in Kraft getretenen Verfassung der Republik Türkei schließlich wurde der Friede der Gemeinschaft und die nationale Solidarität, aber auch explizit Atatürks Nationalismus in den Satz aufgenommen – Artikel 2, Satz 1 lautet seitdem: Die Republik Türkei ist ein im Geiste des Friedens der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und der Gerechtigkeit die Menschenrechte achtender, dem Nationalismus Atatürks verbundener und auf den in der Präambel verkündeten Grundprinzipien beruhender demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat.[3]

Konstant blieben über die Jahre hinweg nur die Prinzipien des Laizismus und Nationalismus und der Republik im Wortlaut in der Verfassung verankert.

Sechs Pfeile des Kemalismus

Die sechs Pfeile im Logo der Republikanischen Volkspartei (Türkei)

Republikanismus

Republikanismus (cumhuriyetçilik) bedeutete, dass die junge Türkei eine republikanische Staatsform und keine andere (vgl. Art. 1 der Verfassung) erhielt.

Die Monarchie in Form des osmanischen Sultanats, das Kalifat und das Millet-System wurden abgeschafft.

Populismus

Mit Populismus (halkçılık) ist bei Atatürk nicht der Populismus im heute gebräuchlichen Sinne gemeint, sondern das Konzept einer klassenübergreifenden gesellschaftlichen Kooperation. Dies äußerte sich insbesondere in der Adaption des schweizerischen Zivilgesetzbuches. Beeinflusst wurde dieser Populismus durch die solidarischen Konzepte von Emile Durkheim und Léon Victor Bourgeois. Der Populismus sollte dazu beitragen, das Volk für den Aufbau eines modernen Staates zu mobilisieren. Seinen Ausdruck fand er unter anderem in der rechtlichen Gleichstellung der Frau. Später diente der Grundsatz zur Rechtfertigung des Ein-Parteien-Systems: Das Volk wird durch die Partei repräsentiert.

Laizismus

Laizismus (laiklik) bedeutete in der Türkei die Nichteinmischung religiöser Würdenträger in staatliche Belange. Erreicht wurde dies primär durch die Kontrolle des religiösen Apparats und das Verbot religiöser Parteien. Zwar bestimmte die erste Verfassung der Türkei, dass die Religion des türkischen Staates der Islam sei, aber dieser Passus wurde bereits vier Jahre später gestrichen.

Folgende Reformen zeigen den Versuch, die Gesellschaft zu säkularisieren: Abschaffung des Kalifats, Vereinheitlichung des Schulwesens, Verbot der Polygamie, Aufhebung des islamischen Rechts, Kopftuchverbot, Einführung westlicher Kleidung (Hutgesetz), des lateinischen Alphabets und des gregorianischen Kalenders und das Verbot religiöser Parteien. Für religiöse Fragen wurde eine staatliche Religionsbehörde geschaffen: das Präsidium für religiöse Angelegenheiten. Das sogenannte Diyanet bezahlt die Imame und schreibt die Freitagspredigten.

Revolutionismus

Revolutionismus (ursprünglich inkilâpçılık, heute devrimcilik) bezeichnet den Grundsatz, die Umgestaltung der türkischen Gesellschaft auch nach den großen Reformen der 1920er Jahren voranzutreiben. Ferner zielt der Terminus auf die umfassende Modernisierung des Staates. Die traditionellen osmanischen Institutionen wurden durch zeitgemäße Einrichtungen ersetzt.

Nationalismus

Atatürks Ziel war es, aus dem Vielvölkerstaat des Osmanischen Reiches einen Nationalstaat zu formen. Der Nationalismus (milliyetçilik) diente diesem Zweck. Grundlage des Nationalgefühls war eine gemeinsame Sprache und die gemeinsame Geschichte der Bewohner des Landes. Jeder Bürger, der sich als Türke bezeichnete, wurde als solcher akzeptiert. Der Nationalismus Mustafa Kemals basierte nicht auf dem Begriff der Rasse. Atatürks Nationalismus erteilte dem Turanismus ebenso eine Absage wie dem Panislamismus. Seinen Ausdruck findet der Nationalismus in dem Ausspruch Atatürks: Froh sei derjenige, der sagt: Ich bin ein Türke.“

Etatismus

Der Etatismus (devletçilik) meint das Eingreifen des türkischen Staates in die Wirtschaft. Grund waren die fehlende Infrastruktur und mangelnde Industrialisierung. Der Staat wurde überall dort unternehmerisch tätig, wo privatwirtschaftliches Engagement fehlte. Zwischen 1933 und 1938 wurde der Fünfjahres-Industrieplan realisiert.

Einfluss auf die türkische Gesellschaft

Eliten als Hüter des Kemalismus

Der Kemalismus bestimmt nach wie vor das politische, kulturelle und religiöse Leben in der Türkei. Ein Großteil der Bevölkerung führt einen westlichen Lebensstil und auch halten viele sich eher als religiös bezeichnende Menschen nach wie vor an den Grundsätzen des Kemalismus fest. Während die intellektuelle Elite sich stets mit Parteien identifiziert hat, welche das kemalistische Gedankengut als Maxime verstehen, finden islamische Parteien vor allem bei der religiöseren Bevölkerung Gehör und werden von ihnen als Wahlalternative gewählt. Die Entwicklung der letzten Jahre jedoch ist dahingehend, dass es eine neue islamische Elite gibt, die zunehmend auch intellektuelle Kreise anspricht.

Eine Kontrollfunktion der türkischen Streitkräfte mit dem Ziel, die Verfassung und ihre kemalistischen Prinzipien zu schützen, war lange Zeit gesetzlich verankert. Als Hüter der kemalistischen Ideen sah sich die türkische Armee zuletzt 1980 zu einem Putsch legitimiert, als kommunistische und rechtsextreme Terroristen die Sicherheit des Staates und der Bevölkerung bedrohten und das Militär, wie zuvor 1960 und 1971, in die Politik eingriff. Dem Putsch folgten Monate der Repression politischer Gegner, im Zuge dessen nicht nur mit rechtsstaatlichen Mitteln vorgegangen wurde, sondern willkürliche Inhaftierungen, Verschleppung und Folter als Maßnahmen systematisch eingesetzt wurden.

Mit den Gesetzesänderungen im Zuge des EU-Prozesses hat das Militär als nicht demokratisch legitimierte Instanz Teile seiner Macht eingebüßt. In den Schulen steht der Kemalismus vom ersten Schuljahr an auf dem Lehrplan.

Parteien und der Kemalismus

Heute betrachten sich vor allem die Cumhuriyet Halk Partisi, die Partei der Demokratischen Linken (DSP), die Halkın Yükselişi Partisi und die Türkischen Streitkräfte als Vertreter des Kemalismus.

Sowohl rechte als auch linke Parteien beanspruchen die kemalistischen Ideen für sich und instrumentalisieren diese für ihre Politik. Nur die islamisch orientierten Parteien stehen distanziert zum Kemalismus oder lehnen diesen ganz ab. Der Grund hierfür ist der propagierte Laizismus und damit die Trennung von Staat und Religion, aber auch die restriktive Behandlung des Islam durch die Kemalisten in den Anfangsjahren der türkischen Republik.

Siehe auch

Literatur

  • Şahinler Menter: Kemalismus. Ursprung, Wirkung und Aktualität. Anadolu, Hückelhoven 1997, ISBN 3-86121-072-X
  • Bassam Tibi: Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus. Diana, München und Zürich 1998, ISBN 3-8284-5012-1
  • Leng Wang: Kemalism. A General Political Survey of the Rise of the Turkish Nationalism between 1918 and 1928. Dissertation, Stanford University 1929 (Digitalisat, PDF)
  • Atatürk Araştırma Merkezi: Atatürk'ün Söylev ve Demeçleri I-III. Ankara 2006 (Sammlung von Atatürks Reden und Ansprachen vom Atatürk-Forschungszentrum)
  • Gazi Çağlar: Die Türkei zwischen Orient und Okzident. Eine politische Analyse ihrer Geschichte und Gegenwart. Münster 2003, ISBN 3-89771-016-1

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Artikel 2, Satz 1 des Verfassungsgesetzes der Republik Türkei von 1924
  2. Artikel 2, Satz 1 der Verfassung der Türkischen Republik von 1961
  3. Artikel 2, Satz 1 der Verfassung der Republik Türkei von 1982

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