- Kießling-Affäre
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Die Kießling-Affäre war eine Kontroverse im Jahr 1984 um die vorzeitige Verabschiedung des bundesdeutschen Vier-Sterne-Generals und damaligen stellvertretenden NATO-Oberbefehlshaber Günter Kießling (1925–2009), dem Erpressbarkeit wegen seiner angeblichen Homosexualität vorgeworfen wurde. Nach Entkräftung der Vorwürfe wurde Kießling wieder in Dienst genommen und schließlich ehrenhaft entlassen.
Inhaltsverzeichnis
Verlauf
Kießlings Entlassung
Im Jahr 1983 ging das Amt für Sicherheit der Bundeswehr (ASBw) Gerüchten unter anderem aus dem NATO-Hauptquartier[1] nach, General Kießling sei homosexuell.[2][3] Im Zuge der Ermittlungen befragte die Kölner Kriminalpolizei Mitarbeiter verschiedener Lokale. In den Kneipen „TomTom“ und „Café Wüsten“ identifizierten mehrere Personen das Foto von Kießling als „Günter oder Jürgen, auf jeden Fall etwas mit ü, von der Bundeswehr“.[4]
Am Abend des 14. September 1983 wurde Kießling von Wolfgang Altenburg, Generalinspekteur der Bundeswehr, für den nächsten Tag ins Verteidigungsministerium nach Bonn beordert, wo er erstmals mit den Vorwürfen konfrontiert wurde. Kießling versicherte Altenburg und später auch Verteidigungsminister Manfred Wörner, dass die Vorwürfe jeder realen Grundlage entbehrten. Trotzdem einigte man sich vier Tage später darauf, dass Kießling sich mit sofortiger Wirkung krankmelden solle, um dann am 31. März 1984 aus Gesundheitsgründen mit einem Großen Zapfenstreich aus der Bundeswehr entlassen zu werden.[5]
Generalleutnant Hans-Henning von Sandrart, der stellvertretende Operationschef des amerikanischen Nato-Oberbefehlshabers Bernard W. Rogers, drängte in der Folge wiederholt darauf den Entlassungstermin auf den 31. Dezember 1983 vorzuverlegen.[6] Im Rahmen der weiterlaufenden Ermittlungen ließ der damalige ASBw-Chef Brigadegeneral Helmut Behrendt dem Verteidigungsminister ein anderthalb Seiten langes Dossier zukommen, das den Verdacht der Homosexualität bestätigen sollte. Diesem Dossier beigefügt war ein Brief des Marinearztes Friedrich-Albert Richarz, in dem dieser davon berichtete, dass Kießling vor einer Behandlung bei ihm nur mit einem Bademantel bekleidet eingetreten sei und sich an den Genitalien berührt habe (der Marinearzt bestritt später allerdings, jemals einen solchen Brief verfasst zu haben).
Die vermeintlichen Beweise veranlassten Verteidigungsminister Manfred Wörner (CDU), den Vier-Sterne-General Kießling als Sicherheitsrisiko einzustufen, und er entschied am 8. Dezember 1983, ihn zum Jahresende 1983 vorzeitig in den Ruhestand zu versetzen. Als Kießling am 13. Dezember davon in Kenntnis gesetzt wurde, beantragte er gegen sich selbst ein Disziplinarverfahren.[7] Kießling nahm am 23. Dezember aus der Hand des Staatssekretärs seine Entlassungsurkunde entgegen.[7]
Öffentliche Kontroverse
Am 4. Januar 1984 kam Kießling in das Büro des ihm flüchtig bekannten Claus Jacobi bei der Welt am Sonntag, der aufgrund seiner Reputation als konservativer Journalist nicht im Verdacht stand, befangen im Sinne eines mutmaßlich homosexuellen Generals zu sein,[8] und fragte diesen um Rat.[7] Am 5. Januar 1984 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Bericht über die Entlassung. Journalisten recherchierten weiter über den Fall und das Verteidigungsministerium bestätigte die Pressemeldungen über die Pensionierung. Parlamentarische mündliche Anfragen der Oppositionsparteien, die der damalige parlamentarische Staatssekretär des Verteidigungsministeriums Peter Kurt Würzbach beantworten musste, sprengten den üblichen Rahmen für mündliche Anfragen.
Während dieser Affäre trat der Schauspieler Alexander Ziegler in den Blickpunkt der Öffentlichkeit: Als der Verteidigungsminister Manfred Wörner die vorzeitige Entlassung des Generals Günter Kießling wegen seiner angeblichen Homosexualität verfügte, wurden mögliche Zeugen (darunter der Gastwirt Udo J. Erlenhardt) vernommen. Ziegler ließ verlauten, dass er das Protokoll eines Telefongesprächs mit dem ehemaligen Prostituierten Achim Müller vom 12. Februar 1979 besitze, aus dem die homosexuelle Neigung General Kießlings eindeutig hervorgehe. Daraufhin wurde Ziegler am 20. Januar 1984 (in Begleitung seines Düsseldorfer Rechtsanwaltes Friedhelm Spieß) von Minister Wörner empfangen. Es gelang ihm jedoch nicht, Wörner und die Öffentlichkeit von der Richtigkeit seiner angeblichen Gesprächsmitschrift zu überzeugen.
Nachdem klar wurde, dass die Behauptungen gegenüber Kießling nicht beweisbar waren und sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit der Zusammenhang zwischen Homosexualität und Sicherheitsrisiko hinterfragt wurde, wurde die Affäre durch das Eingreifen von Bundeskanzler Helmut Kohl noch im Jahr 1984 beendet: Kießling wurde ab 1. Februar 1984 wieder in den aktiven Dienst und unmittelbar danach am 26. März 1984 ehrenhaft mit dem Großen Zapfenstreich in den Ruhestand versetzt. Zum Jubiläum der Bundeswehr 1985 war Kießling jedoch als einziger Vier-Sterne-General nicht eingeladen.
Kießling sagte später: „Ich bin nicht hasserfüllt, aber nach wie vor tief enttäuscht, weil die politisch Verantwortlichen damals unter Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze gehandelt haben.“ Konsequenzen erfuhr lediglich Staatssekretär Joachim Hiehle, der in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde. Weitere Verantwortliche machten, so Kießling, weiter Karriere. „Wörner trat als Generalsekretär an die Spitze der Nato, Altenburg wurde Vorsitzender des Militärausschusses.“[9]
Bis heute sind die Hintergründe der Affäre nicht vollständig geklärt. Nach deutschen Geheimdienstkreisen wurde die Affäre „in ganzem Umfang von der Stasi eingefädelt“. Der stellvertretende Amtschef des ASBw, der bereits 1988 verstorbene Oberst Joachim Krase, war nach seinem Tod als ein Agent der Stasi entlarvt worden. Möglicherweise hat er die Vorwürfe gegen Kießling fabriziert.[10] Diese Vermutung ist allerdings nicht unumstritten.[11]
Vergleiche
Die Kießling-Affäre wurde mit den früheren Affären Harden-Eulenburg (1907/09) und Fritsch-Blomberg (1938) verglichen, in denen es ebenfalls um sexuelle Angelegenheiten von Militärs ging.
Presseberichte
- Martin Zips: „Kießling-Affäre: Das zweite Leben des Geheimdienst-Informanten“, in: Süddeutsche Zeitung, 24. April 2006.
- Wörner – „der Lächerlichkeit preisgegeben“. In: Der Spiegel. Nr. 5, 1984, S. 18–26 (online).
- Deutschlandfunk: Rückblick auf die Kießling-Affäre nach 25 Jahren, 3. Januar 2009.
Literatur
- Friedrich Koch: Sexuelle Denunziation. Die Sexualität in der politischen Auseinandersetzung. 2. Aufl., Hamburg 1995. ISBN 3-434-46229-5
- Jürgen Reichardt: Hardthöhe Bonn. Im Strudel einer Affäre. Osning Verlag, Bonn 2008, ISBN 978-3-9806268-5-9.
Einzelnachweise
- ↑ Wörner – „der Lächerlichkeit preisgegeben“. In: Der Spiegel. Nr. 5, 1984 (online).
- ↑ Wolfgang Wiedemeyer: Vom Morast in den abgrundtiefen Sumpf. Deutschlandfunk, 3. Januar 2009, abgerufen am 6. November 2009.
- ↑ West Germany: General Unease. Time, 23. Januar 1984, abgerufen am 6. November 2009.
- ↑ Thomas Ramge: „Skandal: Irgendwas mit ü“. Die Zeit, 23. Oktober 2003, abgerufen am 6. November 2009.
- ↑ Rolf Zundel: "Der Weg eines Gerüchts". Die Zeit, 24. Februar 1984, abgerufen am 6. November 2009.
- ↑ Affäre Wörner: Mit Verklemmungen. In: Der Spiegel. Nr. 11, 1984, S. 27f (online).
- ↑ a b c Claus Jacobi: Günter Kießling ist tot. Der General, der an Selbstmord dachte und siegte, Die Welt, 28. August 2009; erstmals erschienen in der Reihe „50 Jahre Bundesrepublik. Claus Jacobi erinnert sich“ unter dem Titel „1984 – Der General dachte an Selbstmord und siegte“ am 5. September 1999 in der Welt am Sonntag.
- ↑ Stefan Niggemeier: Claus Jacobi, Günther Kießling & die Schwulen, 28. August 2009, www.stefan-niggemeier.de
- ↑ Netzeitung: «Nicht hasserfüllt, nur tief enttäuscht» vom 28. August 2009
- ↑ Ad Hoc News: Affäre – Kießling-Affäre erschütterte die Republik, vom 28. August 2009.
- ↑ Spionage: Schlimme Schlappe. In: Der Spiegel. Nr. 44, 1990, S. 32f (online).
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