Lebensraum im Osten

Lebensraum im Osten
„Sicherung des deutschen Lebensraums im Osten“ als „Aufgabe und Verpflichtung“ für die Pioniere nach dem Krieg: nationalsozialistische Propaganda-Ausstellung Die grosse Heimkehr, 1942.

Lebensraum im Osten ist ein politischer Begriff, der mit der „germanischen“ oder „arischen“ Besiedlung von Gebieten außerhalb der deutschen Grenzen, vor allem im (nördlichen) Osteuropa, verbunden ist. Er wurde von der völkischen Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich geprägt und von Nationalsozialisten im Deutschen Reich 1933 bis 1945 rassenbiologisch interpretiert. Er lieferte den ideologischen Hintergrund für den von Reichsführer-SS Heinrich Himmler in Auftrag gegebenen Generalplan Ost, der die Vertreibung der „rassisch unerwünschten“ Bevölkerung aus den eroberten Gebieten in Osteuropa, ihre „Germanisierung“ und wirtschaftliche Ausbeutung vorsah.

Inhaltsverzeichnis

Ideologische Vorläufer des Nationalsozialismus

Deutsches Kaiserreich

Der Zoologe und Geograph Friedrich Ratzel (1844–1904) popularisierte erstmals in seinen wissenschaftlichen Werken Politische Geographie (1897) und Der Lebensraum (1901) den Begriff „Lebensraum“, der in kontinentaler Grenzkolonisation zu erschließen sei.[1] Er übertrug Darwins Theorien vom Überlebenskampf auf die Geographie und verstand Staaten als Lebewesen, die in einem permanenten Kampf um Lebensraum begriffen wären und deren Existenz von dessen Bestehen abhinge (→ Sozialdarwinismus).

Die völkische Bewegung und der Alldeutsche Verband griffen den Terminus auf und benutzten ihn im Zusammenhang mit den Auslandsdeutschen, dem Deutschtum in den Grenzgebieten und der Expansion des deutschen Volkes: Deutsches Land dürfe nicht verloren gehen, und die Neugründung deutscher Siedlungen müsse das Ziel sein. Den etablierten Kolonialgesellschaften in Deutschland standen sie ablehnend gegenüber: Die deutsche Kolonialpolitik sei beinahe ausschließlich von wirtschaftlichen Erwägungen geprägt und stünde unter starkem jüdischem Einfluss. Dagegen müsse es vielmehr um besiedlungsfähigen Raum für eine alldeutsch und allgermanisch orientierte Siedlungspolitik großen Stils gehen. Außereuropäische Kolonien spielten dabei keine große Rolle. Es gehe um den Osten, der sich an das deutsche Mutterland unmittelbar anschließt. Dorthin weist uns das Schicksal: der Kompaß der Germanen zeigt nach Osten. Die deutschen Amerikaauswanderer müssten nach Osten umgeleitet und zur Lösung der Sozialen Frage Arbeiter und städtisches Proletariat dort angesiedelt werden. Gängige völkische Vorstellung war ein germanischer Rassestaat auf dem Volksboden Mitteleuropas, besiedelt von deutschen Bauern und Handwerkern, den Vätern zukünftiger Krieger. Paul de Lagarde hatte bereits 1875 diese Vision eines deutschen Reiches beschrieben, dessen Grenzlinien „im Westen von Luxemburg bis Belfort, im Osten von Memel bis zum alten Gotenlande am Schwarzen Meer zu gehen, im Süden jedenfalls Triest einzuschließen haben, und das Kleinasien für künftiges Bedürfnis gegen männiglich freihält.“[2]

Weimarer Republik

Auch der paramilitärische Soldatenverein Stahlhelm, der der DNVP nahe stand, forderte in einer Botschaft vom 8. Mai 1927 neuen Lebensraum:

„Die wirtschaftliche und soziale Not unseres Volkes ist verursacht durch den Mangel an Lebens- und Arbeitsraum. Der Stahlhelm unterstützt jede Außenpolitik, welche dem Bevölkerungsüberschuß Siedlungs- und Arbeitsgebiete eröffnet und welche die kulturelle, wirtschaftliche und politische Verbindung dieser Gebiete mit dem Kern- und Mutterland lebendig erhält. Der Stahlhelm will nicht, dass das durch seine Not in Verzweiflung getriebene deutsche Volk Beute und Brandherd des Bolschewismus wird.“[3]

Ebenso sprach auch der Reichskanzler Heinrich Brüning auf einer Ministerbesprechung am 8. Juli 1930 bei der Formulierung der Antwortnote auf den Europaplan des französischen Ministerprädidenten Aristide Briand davon, dass Deutschland ausreichend Lebensraum brauche:

„Seine Voraussetzungen für eine gerechte und dauerhafte Ordnung Europas, in dem Deutschland seinen ausreichenden natürlichen Lebensraum haben müsse, seien klarzulegen. In wirtschaftlicher Hinsicht dürfe man sich auch nicht zu optimistisch äußern und dürfe man nicht unterlassen, die bevorstehenden Schwierigkeiten nachzuweisen. Man müsse bedenken, daß Deutschland weder landwirtschaftlich noch industriell konkurrenzfähig sein würde, sobald die europäischen Zollschranken fallen würden.“[4]

Stark popularisiert wurde die Idee des Lebensraumes durch den 1926 erschienenen Roman Volk ohne Raum von Hans Grimm.

Nationalsozialistische Programmatik

Hitlers Mein Kampf

In seiner von 1924 bis 1926 geschriebenen programmatischen Schrift Mein Kampf entwickelte Adolf Hitler in einem besonderen Kapitel über Ostorientierung oder Ostpolitik ausführlich seine Lebensraumpläne. Er rief dazu auf, dem deutschen Volk den „ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern“ und bekundete:

„Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewußt einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“[5]

In seinem zu Lebzeiten unveröffentlichten „zweiten Buch“ sprach Hitler bereits davon, die in den annektierten Gebieten ansässige Bevölkerung kurzerhand zu „entfernen“, um „den dadurch freigewordenen Grund und Boden“ an die eigene Bevölkerung übergeben zu können.

Maßgebend für diese Idee war, ausgehend von der Rassenideologie, Hitlers Glaube an eine überlegene nordische Rasse und unterlegene andere Rassen, zu denen auch die Slawen gehörten.

Schlüsseldokumente zum Lebensraumprogramm

Eine umfangreiche Liste von Schlüsseldokumenten bezeugt, dass Hitler konsequent an seinen Kriegszielvorstellungen festhielt. Allerdings erwähnte er nach 1933 nie wieder die Sowjetunion als Kriegsziel. Bei seiner Rede vor der Generalität, am 3. Februar 1933, erwähnte er, laut der Liebmann-Aufzeichnung, noch wage den Osten als Kriegsziel:

„Wie soll pol. Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Jetzt noch nicht zu sagen. Vielleicht Erkämpfung neuer Export-Mögl., vielleicht – und wohl besser – Eroberung neuen Lebensraums im Osten u. dessen rücksichtslose Germanisierung.“[6]

In seiner geheimen Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, in der gefordert wurde, dass die deutsche Armee und die deutsche Wirtschaft in vier Jahren kriegsbereit zu sein haben, schrieb Hitler:

„Die endgültige Lösung liegt in einer Erweiterung des Lebensraumes bzw. der Rohstoff- und Ernährungsbasis unseres Volkes. Es ist Aufgabe der politischen Führung, diese Frage dereinst zu lösen.“[7]

Am 5. November 1937 sagte Hitler – festgehalten in der Hoßbach-Niederschrift – vor den wichtigsten Vertretern der Staatsspitze, dass die deutsche Raumfrage nur durch einen Krieg gelöst werden könne. Er führte aus:

„Das Ziel der deutschen Politik sei die Sicherung und die Erhaltung der Volksmasse und deren Vermehrung. Somit handele es sich um das Problem des Raumes. Die deutsche Volksmasse verfüge über 85 Millionen Menschen, die nach der Anzahl der Menschen und der Geschlossenheit des Siedlungsraumes in Europa einen in sich so fest geschlossenen Rassekern darstelle, wie er in keinem anderen Land wieder anzutreffen sei und wie er andererseits das Anrecht auf größeren Lebensraum mehr als bei anderen Völkern in sich schlösse.“[8]

Am 23. Mai 1939 führte Hitler, nach dem Schmundt-Protokoll, vor seinen Oberbefehlshabern aus:

„Der Lebensraum, der staatl. Größe angemessen, ist die Grundlage für jede Macht. Eine Zeit lang kann man Verzicht leisten, dann aber kommt die Lösung der Probleme so oder so. Es bleibt die Wahl zwischen Aufstieg oder Abstieg. In 15 oder 20 Jahren wird für uns die Lösung zwangsweise notwendig. Länger kann sich kein deutscher Staatsmann um die Frage herumdrücken.“[9]

Bei der Ansprache Hitlers vor den Oberbefehlshabern am 23. November 1939, führte Hitler vor den Oberbefehlshabern aus:

„Die steigende Volkszahl erforderte größeren Lebensraum. Mein Ziel war, ein vernünftiges Verhältnis zwischen Volkszahl und Volksraum herbeizuführen. Hier muß der Kampf einsetzen. Um die Lösung dieser Aufgabe kommt kein Volk herum oder es muß verzichten und allmählich untergehen.“[10]

In den zu erobernden Gebieten in Osteuropa wollte Hitler mindestens 100 Millionen Deutsche sowie sonstige „germanische“ Einwanderer ansiedeln, dazu sollte mit dem Generalplan Ost ein Großteil der nordischen Slawen innerhalb dreier Jahrhunderte assimiliert, der Rest nach Sibirien vertrieben werden oder als Arbeitssklaven eingehen.

Auswirkungen im Zweiten Weltkrieg

Für die Umsetzung der nationalsozialistischen Besiedlungvisionen im Generalplan Ost wurden während des Russlandfeldzuges bewusst Vertreibung und Massenmord der dort lebenden Bevölkerung in Kauf genommen. Das NS-Regime nutzte den massenhaften Hungertod sowjetischer Kriegsgefangener und russischer Zivilisten, den es durch massenhaften Abtransport von Lebensmitteln und Plünderung durch Soldaten der Wehrmacht herbeiführte, für seine Zwecke (→ Hungerplan, Programm Heinrich). Der Berliner Historiker Henning Köhler vertritt die Ansicht, dass es dabei nicht um die Eroberung neuen Lebensraums gegangen sei, denn es habe 1941 keine ausreichende Zahl von Deutschen und Menschen mit angeblich „artverwandtem Blut“ gegeben, die zur Eroberung vorgesehenen Gebiete zu besiedeln. Hitler habe seit Beginn des Weltkriegs auch nicht mehr von Lebensraum im Osten gesprochen.

„Ihm ging es nur noch um die Beherrschung dieser Landmasse und die Versklavung der Bevölkerung. Das eroberte Gebiet war kein Raum für das Leben, sondern für den Tod.[11]

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Sven Lindqvist: Durch das Herz der Finsternis. Ein Afrikareisender auf den Spuren des europäischen Völkermords. Campus, Frankfurt/New York 1999, ISBN 3-593-36176-0, S. 191–194. – Zum „Lebensraum“-Konzept der europäischen Kolonialmächte neuerdings: Olivier Le Cour Grandmaison: La République impériale. Politique et racisme d’État. Fayard, Paris 2009, S. 329–352.
  2. Zitate des Abschnitts „Die völkische Bewegung“ zitiert nach Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion. WBG, Darmstadt 2001, ISBN 3-534-15052-X.
  3. Reinhard Kühnl: Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten. 3. Auflage, Pahl-Rugenstein, Köln 1978, ISBN 3-7609-0305-3, S. 54.
  4. Bundesarchiv: Akten der Reichskanzlei, Die Kabinette Brüning I/II. Band 1, Dok. 68.
  5. Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. S. 742.
  6. Walther Hofer: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945. Fischer Bücherei, Frankfurt/Hamburg 1957, S. 181.
  7. Wilhelm Treue: Dokumentation: Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Jahrgang 3, 1955, Heft 2, S. 204. (online, PDF, 4,98 MB).
  8. http://www.ns-archiv.de/krieg/1937/hossbach/
  9. Wolfgang Michalka (Hrsg.): Deutsche Geschichte 1933–1945. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 2002, ISBN 3-596-15579-7, S. 165.
  10. Wolfgang Michalka (Hrsg.): Deutsche Geschichte 1933–1945. Dokumente zur Innen- und Außenpolitik. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 2002, ISBN 3-596-15579-7, S. 181.
  11. Henning Köhler: Deutschland auf dem Weg zu sich selbst. Eine Jahrhundertgeschichte. Hohenheim-Verlag, Stuttgart 2002, S. 392.

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