- Appeasenik
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Der Begriff Appeasement-Politik (engl. „Beschwichtigungspolitik“, von frz. apaiser, „befrieden“, dies paix, „Frieden“) bezeichnet allgemein die Politik der Zugeständnisse, der Zurückhaltung, der Beschwichtigung und des Entgegenkommens gegenüber Aggressionen zur Vermeidung von Konflikten.
Inhaltsverzeichnis
Appeasement-Politik im europäischen Kontext
Im engeren Sinne steht der Begriff für die heute negativ bewertete Politik des englischen Premierministers Neville Chamberlain und einer Gruppe britischer Politiker, der so genannten Cliveden-Clique, die 1938 im Münchner Abkommen die Annexion erst des Sudetenlandes, später des restlichen Tschechien, also von Teilen der damaligen Tschechoslowakei, durch das Deutsche Reich toleriert hatten, um einen Krieg in Europa abzuwenden. Damit führte Chamberlain die Außenpolitik seiner Amtsvorgänger Ramsay MacDonald und Stanley Baldwin fort. MacDonald hatte schon auf der Konferenz von Lausanne 1932 die Franzosen gedrängt, den deutschen Forderungen nach einer Revision des Versailler Vertrags nachzugeben und gilt daher als „Vater“ der Appeasement-Politik.
Einer der wichtigsten Grundgedanken der Appeasement-Politik war ein kollektives, vertraglich vereinbartes Sicherheitssystem der europäischen Staaten, das auf der Grundlage des Völkerbunds oder anderer internationaler Verträge geschaffen werden sollte.
Hitlers Außenpolitik und Großbritanniens Haltung
Schon unmittelbar nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg begehrten fast alle politischen Kräfte des Deutschen Reiches dessen Revision, da die auferlegten Beschränkungen als zu hart beurteilt wurden. Hitler brach nach seiner Machtergreifung in Deutschland wesentliche Bestandteile des Vertrages, beispielsweise durch die Aufrüstung, den Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Die Regierung Großbritanniens zeigte teilweise Verständnis für diese Politik. Das Land befand sich damals in einer schweren Wirtschaftskrise und war zu keinem Krieg bereit, dem sich auch die britischen Kolonien zu diesem Zeitpunkt verweigert hätten. Die Kriegsmüdigkeit der Öffentlichkeit kommt in einem Ausspruch König Georgs V. zum Ausdruck, der gesagt haben soll, dass er eher abdanken und auf dem Trafalgar Square "The Red Flag" (Die rote Fahne) singen würde als seinem Land zuzumuten, noch einmal einen Krieg wie in den Jahren 1914–1918 durchzumachen.
Großbritannien war also zu weitgehenden Zugeständnissen an Hitler bereit; insbesondere wollte es hinnehmen, dass Deutschland zur Hegemonialmacht in Ost- und Südosteuropa aufstieg, allerdings unter der Bedingung, dass es sich in internationale Verträge einbinden ließ. Zu einer bestimmteren Politik gegen das Deutsche Reich waren in West- und Mitteleuropa keine Verbündeten zu finden, Großbritannien erhöhte aber seine Rüstungsausgaben.
Sudetenkrise und Münchener Abkommen
Großbritannien protestierte nicht gegen den Anschluss Österreichs, weil es diesen wegen der mangelnden Gegenwehr als interne Angelegenheit des Deutschen Reiches und Österreichs betrachtete. Erst als Hitler die Sudetenkrise herbeiführte und damit drohte, das Sudetenland (Gebiete der Tschechoslowakei, die mehrheitlich von Deutschen bewohnt waren) zu besetzen, schien der Krieg unvermeidlich. Doch auf einer internationalen Konferenz in München Ende September 1938 gaben die Westmächte Großbritannien und Frankreich noch einmal nach und schlossen mit Hitler das Münchner Abkommen, das ihm die Annexion der sudetendeutschen Gebiete erlaubte. Man war in London der Ansicht, es sei nur gerecht, wenn Sudetendeutsche und Österreicher es wünschten, ihnen im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker die Möglichkeit zu geben, dem Deutschen Reich beizutreten, wie auch im Sinne des Versailler Vertrages den Polen und Tschechen ermöglicht worden war, über ihre Staatszugehörigkeit selbst zu befinden.
"Peace for our time!"
Chamberlain kam aus München zurück in der Meinung, er habe „den Frieden für unsere Zeit“ ("Peace for our time!") gesichert. Aus heutiger Sicht wurde damit der Krieg jedoch nicht verhindert, sondern lediglich um einige Monate aufgeschoben. Chamberlain wurde von Lord Halifax und Roosevelt gedrängt, seine Politik des Appeasement aufzugeben. Nachdem Hitler am 15. März 1939 ohne Rücksprache mit den Garantiemächten des Münchener Abkommens das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren errichtete, gab Chamberlain britische Garantieerklärungen für Rumänien (19. März) und Polen (31. März) ab. Die französische Regierung gab daraufhin ebenfalls eine Garantieerklärung ab.
Nach dem deutschen Angriff am 1.9.1939 auf Polen erklärten Frankreich und Großbritannien aufgrund dieser Garantie Deutschland den Krieg, jedoch nicht der Sowjetunion, welche am 17. September ebenfalls Polen angriff. Allerdings gewannen die Westmächte durch das Münchner Abkommen Zeit, ihrerseits die Aufrüstung für den Krieg gegen das Deutsche Reich zu forcieren. Frankreich half dies vor dem Hintergrund seiner defensiv eingestellten militärischen Führung wenig (siehe Sitzkrieg). Großbritannien war 1940 bereit, eine drohende deutsche Invasion erfolgreich abzuwenden. Vor allem Churchill hatte einen Wandel der öffentlichen Meinung bewirkt, sodass die Briten nunmehr zur äußersten Verteidigung entschlossen waren.
Kritik am britischen Appeasement-Kurs
Der aus heutiger Sicht bekannteste Gegner der Appeasement-Politik war Winston Churchill, der insbesondere in den 1930er Jahren ständig eine Aufrüstung der westlichen Demokratien und insbesondere Englands forderte und meinte, Appeasement könne nur aus einer Position der Stärke erfolgen. Anders als vielfach dargestellt, trat er bei seiner Kritik bis 1938 stets unter betont regierungsfreundlichen Vorzeichen auf, hob insbesondere seine Loyalität zu Neville Chamberlain heraus (im Februar 1938 beeilte er sich, schon als vierter von über 400 Unterhausabgeordneten eine im Parlament ausliegende Erklärung zu unterschreiben, in der er versicherte, rückhaltlos hinter der Regierung zu stehen); dies vermutlich, um sich den Weg eines Wiedereinzugs ins Kabinett nicht zu verbauen. Das Münchener Abkommen nannte er schließlich "a total, unmitigated defeat", also „eine vollkommene, ungemilderte Niederlage“. Mit seiner Kritik am Appeasement war Churchill jedoch keineswegs isoliert. In Politik, Verwaltung, Presse und Militär wurde seine Haltung von vielen geteilt. Weitere bekannte Appeasement-Gegner in Großbritannien waren Alfred Duff Cooper, Anthony Eden, Violet Bonham Carter, Brendan Bracken, Leopold Amery und Harold Macmillan.
Historische Bewertung
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs begründet sich die Auffassung, Zugeständnisse würden leicht als Zeichen von Schwäche und als Aufmunterung zu noch weiter gehenden Forderungen interpretiert, wodurch noch schlimmere Folgekonflikte wahrscheinlich würden. Diese Auffassung ist nicht unumstritten; heute ist bekannt, dass Hitler zu einer gewaltsamen Annexion Tschechiens entschlossen war, während Frankreich und Großbritannien 1938 nicht auf einen Waffengang vorbereitet waren. Insofern blendet die obige Auffassung denkbare Handlungsalternativen aus.
Neville Chamberlains Appeasement-Politik muss insofern als gescheitert betrachtet werden, als sie von der Regierung Chamberlain abgebrochen und Deutschland der Krieg erklärt wurde. Trotzdem verschaffte die Zeit vom Münchner Abkommen 1938 bis zur Luftschlacht um England im Sommer 1940 der Royal Air Force die Möglichkeit, sich entsprechend vorzubereiten und dadurch siegreich aus der militärischen Auseinandersetzung hervorzugehen. Chamberlain musste am 10. Mai 1940 zurücktreten, als Hitler gegen den Rat des Generalstabes der Wehrmacht den Sitzkrieg beendete und die Beneluxländer und Frankreich angriff. Ihm folgte Winston Churchill im Amt nach, zu dessen Kriegskabinett unter anderem auch Mitglieder der Cliveden-Clique wie Lord Halifax gehörten.
Appeasement der Republik China
Nicht nur in Europa wurde gegenüber aggressiver Expansionspolitik eines Landes eine Beschwichtigungspolitik versucht. Dieser Ansatz wurde auch von dem Präsidenten der Republik China Chiang Kai-shek gegenüber den Hegemoniebestrebungen der Japaner während und nach der Mandschurei-Krise von 1931 bis zum Ausbruch des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges im Jahr 1937 praktiziert. Im Gegensatz zu den europäischen Politikern war Chiangs primäres Ziel jedoch nicht die dauerhafte Befriedung der Region, sondern lediglich ein Zeitgewinn, den er zur Zerschlagung der Kommunistischen Partei Chinas benötigte. Danach beabsichtigte er, die Japaner zu bekämpfen. Chiang gab diesen Weg erst auf, als er von Marschall Zhang Xueliang im Dezember 1936 dazu genötigt wurde (→Zwischenfall von Xi'an) und schloss einen Waffenstillstand mit den Kommunisten. Ein halbes Jahr später brach der Konflikt zwischen Japan und China offen aus. Es zeigte sich, das die Beschwichtigung der Japaner ein Fehler war, der die nahezu mühelose Besetzung eines Drittels des Landes durch die kaiserlich-japanische Armee zur Folge hatte. Notwendige Verteidungsmaßnahmen waren nicht oder nur unzureichend getroffen worden.
Appeasement als Argument
Das offensichtliche Scheitern der Appeasement-Politik 1938 dient immer wieder in unterschiedlichsten Ausgangspositionen als Begründung, wenn es darum geht, ein schärferes Vorgehen gegen einen "Feind" zu fordern, oder einen Präventivkrieg zu rechtfertigen.
In der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre verglichen konservative Kommentatoren damit die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition und später das Verhalten der Friedensbewegung gegenüber der Sowjetunion. In der DDR hingegen diente sie als Vorwurf gegenüber westlichen Politikern, Nazis und Neonazis zu sehr entgegenzukommen.
Das Argument tauchte auch im Falkland-Krieg (1982) und vor dem zweiten Golfkrieg (1990), dem Kosovo-Krieg (1999) und im Irak-Krieg (2003) auf. Es wird außerdem im Zusammenhang mit dem sogenannten Kampf der Kulturen geäußert. Auch Bundeskanzlerin Merkel nutzte diesen Begriff anlässlich der Münchener Konferenz für Sicherheit im Februar 2006, um vor einem "falschen Umgang" mit dem Iran zu warnen.
Literatur
- B. J. Wendt: Appeasement 1938 - Wirtschaftliche Rezession und Mitteleuropa. 1966
- John F. Kennedy: Why England slept. 1981
- Parks M. Coble: Facing Japan - Chinese Politics and Japanese Imperialism, 1931 - 1937; Council on East Asian Studies, Harvard University, 1991; ISBN 0674290119
- Marjorie Dryburgh: North China and Japanese Expansion 1933-1937; Routledge, 2000; ISBN 0700712747
Siehe auch
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