- Bundeskanzler (Deutschland)
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Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ist der deutsche Regierungschef. Er bestimmt die Bundesminister und die Richtlinien der Politik der Bundesregierung. Der Bundeskanzler ist faktisch der mächtigste deutsche Amtsträger, steht jedoch in der deutschen protokollarischen Rangfolge unter dem Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt und dem Bundestagspräsidenten als Repräsentanten des einzig direkt vom Volk gewählten Bundesorgans[1] nur an dritthöchster Stelle. Der Bundeskanzler wird vom Bundestag gewählt und kann vor Ablauf der Legislaturperiode des Bundestages nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum abgelöst werden. Derzeitige Bundeskanzlerin ist die CDU-Politikerin Angela Merkel.
Verfassungsrechtliche und politische Stellung
Geschichtlicher Hintergrund
Der Begriff „Kanzler“ kommt aus dem Mittelalter: Am feudalen Hof war der Kanzler der Leiter der herrschaftlichen Schreibstube, der Kanzlei. Unter den Bediensteten des Herrschers hatte der Kanzler die höchste Autorität und war damit den ägyptischen Staatsschreibern vergleichbar.
In der deutschen Verfassungsgeschichte wurde schon im Norddeutschen Bund (1867) der Regierungschef „Bundeskanzler“ genannt, im Deutschen Kaiserreich (1871) und in der Weimarer Republik dann „Reichskanzler“. Andere Bezeichnungen trugen deutsche Regierungschefs nur in der kurzen verfassungslosen Zeit 1918/19 („Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten“ bzw. „Ministerpräsident“) und später in der DDR (1949–1990, „Vorsitzender des Ministerrates“).
Der Reichskanzler des Kaiserreiches war zunächst direkt dem Kaiser verantwortlich, der ihn ernannte und entließ. Der Reichskanzler war damit völlig vom Kaiser abhängig; außerdem hatte er keinen unmittelbaren Einfluss auf die Gesetzgebung, er durfte in seiner Eigenschaft als Reichskanzler nicht einmal vor dem Reichstag sprechen. Erst 1918 wurde die Verfassung dahin gehend geändert, dass der Kanzler dem Reichstag verantwortlich wurde.
Auch der Reichskanzler der Weimarer Republik wurde vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen. Er musste zurücktreten, wenn der Reichstag ihm das Vertrauen entzog. Der Reichskanzler war damit sowohl vom Reichspräsidenten als auch vom Reichstag abhängig. In Artikel 56 der Weimarer Verfassung heißt es: „Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür gegenüber dem Reichstag die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Reichsminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbstständig und unter eigener Verantwortung gegenüber dem Reichstag.“ Dieser Artikel stimmt fast exakt mit den ersten beiden Sätzen des Artikels 65 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland überein, dennoch war die Verfassungswirklichkeit zumindest in der Spätphase mit ihren Präsidialkabinetten eine andere. Durch die starke Abhängigkeit vom Vertrauen des Reichspräsidenten und durch die Abwahlmöglichkeit des Reichstages, der nicht gleichzeitig einen Nachfolger bestellen musste, saß der Reichskanzler zwischen allen Stühlen. Insbesondere das Missverhältnis zwischen der Ernennung durch den Reichspräsidenten und der Verantwortlichkeit gegenüber dem Reichstag war später Gegenstand von Kritik. Dieser Konstruktion der Weimarer Verfassung mit einem starken Reichspräsidenten und einem schwachen, in Krisenzeiten nicht allein handlungsfähigen Reichskanzler wird eine Mitschuld daran gegeben, dass die Weimarer Republik 1933 mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler (→ Machtübernahme) und der anschließenden Etablierung des nationalsozialistischen Einparteienstaates faktisch beendet wurde.
Der Parlamentarische Rat entschied sich daher in den Jahren 1948 und 1949, die Stellung des nunmehrigen Bundespräsidenten zu schwächen und den Bundeskanzler zu stärken. Insbesondere die sehr genauen und sich später bewährenden Vorschriften über die Wahl des Bundeskanzlers, das konstruktive Misstrauensvotum und die Vertrauensfrage haben die tatsächliche politische Macht des Bundeskanzlers mindestens ebenso gestärkt wie die starke Ausprägung der Kanzlerdemokratie unter dem ersten Bundeskanzler, Konrad Adenauer. Dessen sehr starke Interpretation der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers wurde von seinen Nachfolgern verteidigt und führt dazu, dass der Bundeskanzler heute als mächtigster Politiker im politischen System der Bundesrepublik gilt.
Richtlinienkompetenz und Kollegialprinzip
Der Bundeskanzler besitzt nach Artikel 65 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) die Richtlinienkompetenz: Er „bestimmt die Richtlinien der [von der Bundesregierung vertretenen] Politik“. Er trägt dafür auch die Verantwortung. Die grundlegenden Richtungsentscheidungen der Bundesregierung werden also von ihm getroffen, allerdings können auch wichtige Einzelentscheidungen von ihm getroffen werden. Andererseits schreibt der gleiche Artikel 65 Grundgesetz auch das Ressortprinzip (Satz 2) und das Kollegialprinzip (Satz 3) vor. Ersteres bedeutet, dass die Bundesminister ihre Ministerien in eigener Verantwortung leiten. Der Bundeskanzler kann hier nicht ohne Weiteres in einzelnen Sachfragen eingreifen und seine Ansicht durchsetzen. Er muss jedoch nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung über alle wichtigen Vorhaben im Ministerium unterrichtet werden. Das Kollegialprinzip besagt, dass Meinungsverschiedenheiten der Bundesregierung vom Kollegium entschieden werden; der Bundeskanzler muss sich also im Zweifel der Entscheidung des Bundeskabinetts beugen.
Der Bundeskanzler besitzt zusätzlich die Organisationsgewalt für die Bundesregierung (Art. 64 Absatz 1 und Art. 65 des Grundgesetzes sowie § 9 der Geschäftsordnung der Bundesregierung) und kann mit Erlassen die Zahl und Zuständigkeiten der Ministerien regeln. Er „leitet“ damit im administrativen Sinne die Geschäfte der Bundesregierung. Beschränkt wird seine Organisationsgewalt durch die im Grundgesetz vorgeschriebene Errichtung des Bundesministeriums der Verteidigung (Art. 65a: Bundesminister für Verteidigung), des Bundesministeriums der Justiz (Art. 96 Abs. 2 Satz 4: Geschäftsbereich des Bundesjustizministers) und des Bundesministeriums der Finanzen (Art. 108 Abs. 3 Satz 2: Bundesminister der Finanzen).
Auch wenn Ressort- und Kollegialprinzip in der Praxis ständig angewandt werden, so rückt die auch als „Kanzlerprinzip“ bezeichnete Richtlinienkompetenz den Bundeskanzler als den bedeutendsten politischen Akteur in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Seine Aussagen werden stark beachtet; äußert er sich zu einer Sachfrage anders als der zuständige Fachminister, so hat häufig trotz der Gültigkeit des Ressortprinzips der Fachminister das Nachsehen, will er nicht wegen „schlechter Teamarbeit“ vom Bundeskanzler intern oder gar öffentlich gerügt werden. Der Bundeskanzler ist oft auch gleichzeitig Vorsitzender seiner Partei (Adenauer 1950–1963, Erhard 1966, Kiesinger 1967–1969, Kohl 1982–1998 und Merkel seit 2005 in der CDU; Brandt 1969–1974 und Schröder 1999–2004 in der SPD) und genießt damit nicht nur als Bundeskanzler, sondern auch als Parteivorsitzender hohes Medieninteresse und starken Einfluss innerhalb der Partei und Fraktion, die seine Regierung stützt. Allerdings haben alle Bundeskanzler auch in den Zeiten, in denen sie nicht den Parteivorsitz bekleideten, eine wichtige Rolle in der Partei innegehabt.
Selbst wenn der Bundeskanzler aber in seiner Partei unangefochten ist, so muss er doch – wenn seine Partei nicht allein regieren kann – in der Regel auf einen kleineren Koalitionspartner Rücksicht nehmen. Seine Äußerungen mögen in seiner Partei auf einmütige Zustimmung treffen, die Akzeptanz des Koalitionspartners, der damit trotz geringerer Größe nahezu gleichberechtigt ist, kann aber noch nicht automatisch als erreicht angesehen und muss eventuell durch Zugeständnisse gesichert werden. Der Bundeskanzler kann aber auch in seiner eigenen Partei nicht diktatorisch regieren, da auch seine Parteiämter regelmäßig in demokratischer Wahl bestätigt werden und die Abgeordneten trotz Fraktionsdisziplin nicht unbedingt der Linie des Bundeskanzlers folgen müssen.
Schließlich hängt es auch von der Person des Bundeskanzlers und den politischen Gegebenheiten ab, wie er den Begriff der Richtlinienkompetenz ausgestaltet. Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler nutzte die Richtlinienkompetenz unter den Ausnahmebedingungen eines völligen politischen Neubeginns sehr stark aus. Mit seiner Amtsführung legte Adenauer den Grundstein für die sehr weit reichende Interpretation dieses Begriffes. Schon unter Ludwig Erhard sank die Machtfülle des Bundeskanzlers, bis schließlich in Kurt Georg Kiesingers Großer Koalition der Bundeskanzler weniger der „starke Mann“ als vielmehr der „wandelnde Vermittlungsausschuss“ war. Während Adenauer und Helmut Schmidt sehr strategisch mit ihrem Stab (im Wesentlichen dem Kanzleramt) arbeiteten, bevorzugten Brandt und Kohl einen Stil der informelleren Koordination. In beiden Modellen kommt es bei der Bemessung der Einflussmöglichkeiten des Bundeskanzlers auf die Stärke des Koalitionspartners und auf die Stellung des Bundeskanzlers in seiner Partei an.
Aufgrund dieser politischen Einschränkungen der durch die Verfassung definierten Position des Bundeskanzlers halten viele Politikwissenschaftler die Richtlinienkompetenz für das am meisten überschätzte Konzept des Grundgesetzes. Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bisher keinen Fall, in dem die Richtlinienkompetenz offiziell angewandt worden wäre.
Da der Bundeskanzler sich bei innenpolitischen Fragen stärker auf die Ministerien verlassen muss, kann er sich häufig in der Außenpolitik profilieren. Alle Bundeskanzler haben das diplomatische Parkett – durchaus auch im mehr oder weniger stillen Machtkampf mit dem Außenminister – genutzt, um neben den Interessen der Bundesrepublik auch sich selbst in positivem Licht darzustellen. Besonders Bundeskanzler Adenauer, der von 1951 bis 1955 selbst das Außenministerium führte, konnte hier starken Einfluss nehmen.
Die Bundesregierung und der Bundeskanzler haben das alleinige Recht, Entscheidungen der Exekutive zu treffen. Aus diesem Grund bedarf jede förmliche Anordnung des Bundespräsidenten bis auf die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers, die Auflösung des Bundestages nach dem Scheitern der Wahl eines Bundeskanzlers und das Ersuchen zur Weiterausübung des Amtes bis zur Ernennung eines Nachfolgers der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers oder des zuständigen Bundesministers.
Wahl des Bundeskanzlers
→ Hauptartikel: Abstimmungen über den deutschen Bundeskanzler
1949 wurde in Artikel 63 des Grundgesetzes (GG) erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte das Wahlverfahren für den Kanzler sehr detailliert festgelegt. Das hängt auch damit zusammen, dass anders als in den früheren deutschen Verfassungen die letztgültige Entscheidung über die Ernennung des Bundeskanzlers in der Regel vom Bundestag und nicht vom Bundespräsidenten getroffen wird. Aus diesem Grund musste klar sein, wie das Verfahren fortgeht, wenn ein Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers nicht gewählt wird. Dabei wird – abweichend von der Idee der strikten Gewaltenteilung – ein Organ der Exekutive, der Bundeskanzler, durch ein Organ der Legislative, den Bundestag, gewählt. Die Wahl des Bundeskanzlers erfolgt geheim; das ergibt sich allerdings nicht aus dem Grundgesetz, sondern aus der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (§ 4 und § 49).
Erste Wahlphase: Ist das Amt des Bundeskanzlers vakant, etwa durch den Zusammentritt eines neuen Bundestages, aber auch durch Tod, Rücktritt oder Amtsunfähigkeit des alten Bundeskanzlers, schlägt der Bundespräsident innerhalb einer angemessenen Frist dem Bundestag einen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers vor. In dieser Entscheidung ist der Bundespräsident rechtlich frei. Politisch ist jedoch schon lange vor dem Vorschlag klar, über wen der Bundestag abstimmen wird, da der Bundespräsident vor seinem Vorschlag eingehende Gespräche mit den Partei- und Fraktionsspitzen führt. Bisher ist auch stets der von der regierenden Koalition ins Spiel gebrachte Nachfolgekandidat vom Bundespräsidenten vorgeschlagen worden. Der Kandidat benötigt zu seiner Wahl die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also die absolute Mehrheit. Wählt der Bundestag den vom Bundespräsidenten vorgeschlagenen Kandidaten nicht, so beginnt eine zweite Wahlphase. Dieser Fall ist in der Geschichte der Bundesrepublik bisher noch nie eingetreten.
Zweite Wahlphase: Nach der Ablehnung des Vorschlags des Bundespräsidenten tritt eine zweiwöchige Wahlphase ein, in der aus dem Bundestag heraus – nach dessen Geschäftsordnung von mindestens einem Viertel der Abgeordneten – Kandidaten vorgeschlagen werden können. Über die vorgeschlagenen Kandidaten wird dann abgestimmt. Dabei ist sowohl eine Einzelwahl (nur ein Kandidat) als auch eine Mehrpersonenwahl denkbar. In jedem Fall benötigt ein Kandidat zur Wahl wiederum die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Die Anzahl der Wahlgänge ist unbegrenzt.
Dritte Wahlphase: Wird auch während der zweiten Wahlphase kein Kandidat mit absoluter Mehrheit gewählt, so muss der Bundestag nach Ablauf der zwei Wochen unverzüglich erneut zusammentreten und einen weiteren Wahlgang durchführen. Dabei gilt zunächst als gewählt, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Bei Stimmengleichheit finden erneute Wahlgänge statt, bis ein eindeutiges Ergebnis erzielt worden ist. Erhält der Gewählte die absolute Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages, so muss der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen ernennen. Erhält der Gewählte nur die relative Mehrheit der Stimmen, so ist das einer der wenigen Fälle, in denen dem Bundespräsidenten echte politische Machtbefugnisse zuwachsen: Er kann sich nun nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, ob er den Gewählten ernennt und damit möglicherweise einer Minderheitsregierung den Weg ebnet oder aber den Bundestag auflöst. Er wird diese Entscheidung in Abhängigkeit von der politischen Situation treffen: Ist bei einer Neuwahl keine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse zu erwarten, so wird er den Bundestag eher nicht auflösen. Ist dagegen die Mehrheitssituation im Bundestag ohnehin unübersichtlich, so wird er die Auflösung des Bundestages wieder stärker in Betracht ziehen.
Insgesamt kann es aber keinen Fall geben, in dem der Bundespräsident eine Person zum Bundeskanzler ernennt, die nicht zumindest eine relative Mehrheit des Bundestages auf sich vereinigen kann.
Nach der Wahl wird der Bundeskanzler vom Bundespräsidenten ernannt und vor dem Bundestag vereidigt (Art. 64 GG). Er schwört dabei folgenden Eid: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ (Art. 56 GG). Er kann den Eid auch ohne religiöse Beteuerung ableisten; Gerhard Schröder war der bisher einzige Bundeskanzler, der von dieser Möglichkeit Gebrauch machte.
Dieses Wahlprozedere gilt grundsätzlich auch im Verteidigungsfall. Die Wahl eines Bundeskanzlers durch den Gemeinsamen Ausschuss ist jedoch gesondert geregelt, indem nur die oben beschriebene erste Wahlphase analog angewendet wird. Das Grundgesetz macht keine Aussage über das weitere Verfahren, wenn der Gemeinsame Ausschuss den vom Bundespräsidenten Vorgeschlagenen nicht wählt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Vorschriften des oben genannten Artikels 63 Grundgesetz für eine solche Wahl analog gelten.
Der Bundeskanzler muss weder Mitglied des Bundestages noch einer politischen Partei sein, allerdings muss er das passive Wahlrecht zum Bundestag besitzen. Gemäß dem Grundsatz der Unvereinbarkeit darf er weder ein anderes besoldetes Amt bekleiden noch einen Beruf oder ein Gewerbe ausüben, kein Unternehmen leiten und nicht ohne Zustimmung des Bundestages dem Aufsichtsrat eines auf Gewinn orientierten Unternehmens angehören (Art. 66 GG).
Zusammenarbeit mit Bundestag und Bundesrat
Der Bundestag kann jederzeit die Herbeirufung oder die Anwesenheit des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers verlangen. Im Gegenzug haben der Bundeskanzler und die Mitglieder der Bundesregierung das Recht, bei jeder Sitzung des Bundestages oder eines seiner Ausschüsse anwesend zu sein. Sie haben sogar jederzeitiges Rederecht. Die gleichen Rechte und Pflichten bestehen im Verhältnis zum Bundesrat. Spricht der Bundeskanzler im Bundestag als solcher und nicht etwa als Abgeordneter seiner Bundestagsfraktion, so wird seine Redezeit nicht auf die vereinbarte Gesamtredezeit angerechnet.
Bestellung der Bundesminister
Nach Artikel 64 des Grundgesetzes schlägt der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten die Bundesminister vor, der sie ernennt. Der Bundespräsident muss sie nach der in der Staatsrechtslehre überwiegenden Meinung ernennen, ohne die Kandidaten selbst politisch prüfen zu können. Ihm wird allerdings in der Regel ein formales Prüfungsrecht zugestanden: Er kann etwa prüfen, ob die designierten Bundesminister Deutsche sind. Der Bundestag hat dabei ebenfalls kein Mitspracherecht. Auch bei der Entlassung von Bundesministern können weder der Bundespräsident noch der Bundestag in rechtlich bindender Weise mitreden – auch hier liegt die Entscheidung ganz beim Bundeskanzler, die Entlassung wird wieder durch den Bundespräsidenten durchgeführt. Selbst die Aufforderung des Bundestages an den Bundeskanzler, einen Bundesminister zu entlassen, ist rechtlich unwirksam; allerdings wird der Minister, wenn tatsächlich die Mehrheit des Bundestages und damit auch Mitglieder der die Bundesregierung tragenden Koalition gegen ihn sind, häufig von sich aus zurücktreten. Der Bundestag kann die Minister nur zusammen mit dem Bundeskanzler durch ein konstruktives Misstrauensvotum ablösen.
Diese zumindest formal uneingeschränkte Personalhoheit des Bundeskanzlers über sein Kabinett spricht für die starke Stellung des Bundeskanzlers. Bundeskanzler Schröder hat 2002 von dieser Personalhoheit sehr deutlich Gebrauch gemacht, als er gegen dessen ausdrücklichen Willen den Verteidigungsminister Rudolf Scharping aus seinem Amt entlassen ließ.
Der Bundeskanzler muss jedoch bei der Ernennung meist auf „Koalitionsverträge“ und innerparteilichen Proporz Rücksicht nehmen; bei Entlassungen gilt das insbesondere bei Ministern des Koalitionspartners noch stärker: Hier schreiben die Koalitionsvereinbarungen stets vor, dass eine Entlassung nur mit Zustimmung des Koalitionspartners erfolgen kann. Hielte sich der Bundeskanzler nicht an diesen rechtlich zwar nicht bindenden, politisch aber höchst bedeutsamen Vertrag, wäre die Koalition sehr schnell zu Ende. Insgesamt unterliegt die Personalfreiheit des Bundeskanzlers durch die politischen Rahmenbedingungen erheblichen Beschränkungen. Ferner kann ein (neues) Bundesministerium nur im Rahmen des Haushaltsplanes eingerichtet werden, der Zustimmung im Bundestag finden muss.
Der Bundeskanzler ernennt auch – ohne Mitwirkung des Bundespräsidenten – seinen Stellvertreter. Inoffiziell spricht man auch vom „Vizekanzler“. Das ist in der Regel der wichtigste Politiker des kleineren Koalitionspartners. In der Vergangenheit fielen das Amt des Außenministers und die „Vizekanzlerschaft“ häufig zusammen; dies war jedoch nie eine verbindliche Kombination, sondern nur eine Tradition (1966–2011, mit Unterbrechungen 1982, 1992/93 und 2005–2007). Es ist auch möglich, dass der Vizekanzler der gleichen Partei wie der Bundeskanzler angehört (wie zum Beispiel Ludwig Erhard 1957–1963). Gegenwärtiger Stellvertreter der Bundeskanzlerin ist der FDP-Vorsitzende Philipp Rösler.
Dabei handelt es sich stets nur um die Vertretung der Funktion, nicht um die des Amtes. Der Stellvertreter vertritt also nur den Kanzler, beispielsweise wenn dieser auf einer Reise ist und der Stellvertreter eine Kabinettssitzung leitet. Es ist in der Rechtswissenschaft strittig, ob der Bundespräsident, würde der Bundeskanzler zum Beispiel durch eine schwere Krankheit dauerhaft amtsunfähig oder stürbe er gar, den Vizekanzler gleichsam automatisch zum geschäftsführenden Bundeskanzler ernennen müsste oder aber auch einen anderen Bundesminister mit der Aufgabe betrauen könnte. In jedem Fall müsste unverzüglich ein neuer Bundeskanzler vom Bundestag gewählt werden. Bislang ist ein solcher Fall – von Kanzlerrücktritten abgesehen – allerdings noch nie eingetreten.
Steht auch der Stellvertreter nicht zur Verfügung, so geht seine Rolle nach der Vertretungsreihenfolge der Geschäftsordnung der Bundesregierung auf den dienstältesten Minister über. Im Kabinett Merkel sind dies Annette Schavan, Ursula von der Leyen, Wolfgang Schäuble und Thomas de Maizière. Sind mehrere Minister gleich lange im Amt, entscheidet das höhere Lebensalter, in diesem Fall zu Gunsten von Wolfgang Schäuble.
Konstruktives Misstrauensvotum
→ Hauptartikel: Misstrauensvotum
Eine der wichtigsten Entscheidungen des Parlamentarischen Rates zur Stärkung der Position des Bundeskanzlers war die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums. Der Bundeskanzler kann nach Artikel 67 des Grundgesetzes nur durch eine Mehrheit im Parlament gestürzt werden, wenn sich diese Mehrheit gleichzeitig auf einen Nachfolger für ihn geeinigt hat. Dadurch wird verhindert, dass die Regierung durch eine sie ablehnende, aber in sich nicht einige Mehrheit gestürzt wird. In der Weimarer Republik war das durch das gemeinsame Wirken von extrem rechten und extrem linken Kräften häufig gegeben, was zu kurzen Amtsperioden der Reichskanzler und damit zu allgemeiner politischer Instabilität führte.
Der Antrag muss nach der Geschäftsordnung des Bundestages von mindestens einem Viertel seiner Mitglieder eingebracht werden. Dabei muss der Antrag, den Bundespräsidenten zu ersuchen, den Bundeskanzler zu entlassen, gleichzeitig ein Ersuchen an den Bundespräsidenten enthalten, eine namentlich benannte Person zum Nachfolger zu ernennen. Damit wird sichergestellt, dass die neu formierte Mehrheit sich zumindest auf einen gemeinsamen Bundeskanzlervorschlag geeinigt hat und damit erwarten lässt, dass sie über ein gemeinsames Regierungsprogramm verfügt. Der Antrag bedarf zu seiner Annahme wiederum der Kanzlermehrheit, also der absoluten Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages.
Will der Gemeinsame Ausschuss während des Verteidigungsfalles den Bundeskanzler per konstruktivem Misstrauensvotum stürzen, so bedarf dieser Antrag der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses. Mit der Erhöhung dieser Mehrheit sollte die Möglichkeit eines faktischen Staatsstreiches durch den Gemeinsamen Ausschuss erschwert werden.
Der Wechsel eines Koalitionspartners oder auch nur einzelner Koalitionsabgeordneter zur Opposition ist nach den Vorschriften des Grundgesetzes legitim. Er steht jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung stets im Ruch des Verrates, da nach Argumentation der vom Wechsel jeweils negativ betroffenen politischen Gruppe die Wähler bei ihrer Wahlentscheidung darauf hätten vertrauen können, dass sie mit der Wahl einer Partei auch einen bestimmten Kanzlerkandidaten wählten. Der nachträgliche Wechsel sei eine demokratietheoretisch nicht hinnehmbare Täuschung des Wählers. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Argumentation in einem Urteil[2] zur Vertrauensfrage aus dem Jahr 1983 entgegengestellt und demokratische Legitimation mit verfassungsrechtlicher Legitimität gleichgesetzt.
Das konstruktive Misstrauensvotum ist in der Geschichte der Bundesrepublik bisher zweimal zur Anwendung gekommen: 1972 versuchte die CDU/CSU-Fraktion erfolglos, Bundeskanzler Willy Brandt zu stürzen und Rainer Barzel zum Kanzler zu wählen; 1982 stürzten CDU/CSU und FDP gemeinsam Bundeskanzler Helmut Schmidt und wählten Helmut Kohl zum Bundeskanzler.
Siehe auch: Abstimmungen über den deutschen Bundeskanzler
Vertrauensfrage
→ Hauptartikel: Vertrauensfrage
Hat der Bundeskanzler das Gefühl, dass die Mehrheit des Bundestages seine Politik nicht mehr unterstützt, so kann er nach Artikel 68 des Grundgesetzes die Vertrauensfrage stellen und damit den Bundestag selbst zum Handeln zwingen. Er kann die Vertrauensfrage auch mit einer Sachentscheidung, also einem Gesetzentwurf oder einem anderen Sachantrag, verbinden. Stimmt der Bundestag dem Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht mit absoluter Mehrheit zu, so gibt es drei Möglichkeiten:
- Der Bundeskanzler kann sich entschließen, keine verfassungsrechtlichen Konsequenzen zu ziehen.
- Der Bundeskanzler kann dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen; der Bundespräsident entscheidet über diesen Vorschlag politisch eigenständig.
- Die Bundesregierung kann beim Bundespräsidenten beantragen, den Gesetzgebungsnotstand auszurufen, sofern der Bundesrat dem zustimmt und der Bundestag zuvor eine als dringlich bezeichnete Gesetzesvorlage abgelehnt hat. Der Bundespräsident entscheidet über diesen Antrag wiederum politisch eigenständig. Durch den Gesetzgebungsnotstand kann der Bundestag für sechs Monate weitgehend entmachtet werden.
In der Geschichte der Bundesrepublik ist die Vertrauensfrage bisher fünfmal gestellt worden. Zweimal (Schmidt 1982 und Schröder 2001) handelte es sich um eine echte Vertrauensfrage, während mit den Vertrauensfragen von Brandt 1972, Kohl 1982 und Schröder 2005 die Auflösung des Bundestags angestrebt und auch erreicht wurde. 1983 und 2005 klagten Abgeordnete beim Bundesverfassungsgericht gegen dieses Vorgehen. Beide Male verwarf das Gericht im Ergebnis die Klagen.[2][3]
Siehe auch: Abstimmungen über den deutschen Bundeskanzler
Verteidigungsfall
→ Hauptartikel: Verteidigungsfall
Seit 1956 sieht das Grundgesetz vor, dass während des Verteidigungsfalls die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte vom Bundesminister der Verteidigung an den Bundeskanzler übergeht. Diese auch als „lex Churchill“ bezeichnete Vorschrift ist in Artikel 115b des Grundgesetzes (bis 1968 in Artikel 65 a Absatz 2) enthalten und soll dafür sorgen, dass in Zeiten außerordentlicher Krisen der Bundeskanzler als „starker Mann“, bzw. als "starke Frau", alle Fäden in der Hand hält.
Aufgrund der Verlängerung der Wahlperiode des Bundestages im Verteidigungsfall verlängert sich auch die Amtszeit des Bundeskanzlers entsprechend (Artikel 115h Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 69 Absatz 2 des Grundgesetzes). Jedoch kann auch im Verteidigungsfall der Bundeskanzler durch ein konstruktives Misstrauensvotum nach Artikel 67 (durch den Bundestag) oder nach Artikel 115h (durch den Gemeinsamen Ausschuss mit Zweidrittelmehrheit) abgelöst werden.
Rechtliche Sondervorschriften
Der Bundeskanzler hat als Mitglied der Bundesregierung das Recht, als Zeuge in Straf- und Zivilprozessen an seinem Amtssitz oder seinem Aufenthaltsort vernommen zu werden (§ 50 der Strafprozessordnung bzw. § 382 der Zivilprozessordnung). Der Bundeskanzler als solcher hat keinen Anspruch auf Immunität; ist der Bundeskanzler jedoch gleichzeitig Abgeordneter, so genießt er wie jedes Mitglied des Bundestages dieses Privileg.
Wer die Bundesregierung oder ein Mitglied der Bundesregierung, also etwa den Bundeskanzler, nötigt, Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird nach den § 105 oder § 106 des Strafgesetzbuches gesondert bestraft.
Unmittelbar unterstehende Behörden
Leiter des Bundeskanzleramtes ist nicht der Bundeskanzler selbst, sondern ein von ihm ernannter Bundesminister oder Staatssekretär. Das Bundeskanzleramt hat für jedes Ministerium spiegelbildlich ein Referat und stellt dem Bundeskanzler damit für jedes Fachgebiet eine kompetente Mitarbeiterschaft zur Verfügung.
Dem Bundeskanzler untersteht auch direkt das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Dieses hat die Aufgabe, die Öffentlichkeit über die Politik der Bundesregierung zu unterrichten und umgekehrt den Bundespräsidenten und die Bundesregierung (nötigenfalls rund um die Uhr) über die aktuelle Nachrichtenlage zu informieren. Das Amt muss streng zwischen Äußerungen der Bundesregierung und Äußerungen der die Bundesregierung tragenden Parteien trennen.
Außerdem fällt der Bundesnachrichtendienst (BND) direkt in den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers. Der Etat des Bundesnachrichtendienstes ist im Etat des Bundeskanzleramtes enthalten, wird aber aus Geheimhaltungsgründen nur als Gesamtsumme veranschlagt (sog. Reptilienfonds). Der direkte Zugriff auf den Geheimdienst bringt dem Bundeskanzler in innenpolitischen Fragen keinerlei Wissensvorsprung, da der BND nur im Ausland operieren darf. Allenfalls in außen- und sicherheitspolitischen Fragen entsteht ein gewisser Vorteil für den Bundeskanzler.
Dienstsitze
Von 1949 bis 1999 hatte der Bundeskanzler seinen Dienstsitz in Bonn, zunächst im Palais Schaumburg, ab 1976 im neu gebauten Bundeskanzleramtsgebäude in Bonn.
Nach dem Umzug der Regierung nach Berlin 1999 residierte er zunächst im früheren Gebäude des Staatsrates der DDR, und das Palais Schaumburg wurde zweiter Dienstsitz des Bundeskanzlers. Seit 2001 haben der Kanzler und das Bundeskanzleramt ihren Hauptdienstsitz im neu gebauten Bundeskanzleramtsgebäude in Berlin.
Hoheitszeichen
Als Hoheitszeichen führt der Bundeskanzler an seiner Dienstlimousine eine quadratisch geformte Standarte, die auf den Bundesfarben Schwarz-Rot-Gold im Zentrum den Bundesschild zeigt. Als weiteres Hoheitszeichen wird am Bundeskanzleramt, wie bei allen Bundesbehörden, die Bundesdienstflagge gehisst.
Gehalt
Der Bundeskanzler erhält ein Grundgehalt, das nach § 11 des Bundesministergesetzes dem Fünfdrittelfachen des Grundgehalts der Besoldungsgruppe B 11 entspricht. Nach der Besoldungstabelle 2009[4] sind das etwa 226.000 € pro Jahr. Hinzu kommen beamtenrechtliche Zuschläge in Höhe von etwa 22.000 €. Seine Einkünfte muss der Bundeskanzler versteuern, allerdings muss er – wie Beamte – keine Arbeitslosenversicherungs- und keine Rentenbeiträge bezahlen. Außerdem erhält er wie seine Kabinettskollegen nach der Dauer der Amtszeit gestaffelte Pensionsansprüche. Die private Nutzung von bundeseigenen Transportmitteln und die Miete der Dienstwohnung im Bundeskanzleramt werden dem Bundeskanzler von der Bundesrepublik Deutschland in Rechnung gestellt.
Wahlkampf
Spätestens seit 1961 und der Kandidatur Willy Brandts gegen Konrad Adenauer stellen die beiden großen Volksparteien, CDU/CSU und SPD, „Kanzlerkandidaten“ auf. Obwohl dieses „Amt“ in keinem Gesetz und keiner Parteisatzung definiert ist, spielt es im Wahlkampf eine außerordentlich große Rolle. Der Kanzlerkandidat der jeweils siegreichen Partei bzw. Koalition wird in aller Regel schließlich Bundeskanzler. Der Kanzlerkandidat repräsentiert gerade im über die Massenmedien geführten Wahlkampf sehr stark seine Partei. Vor den Bundestagswahlen 2002, 2005 und 2009 fanden zwischen den amtierenden Bundeskanzlern und ihren Herausforderern aus dem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf übernommene Rededuelle statt. Auf diese Weise wurde die Fokussierung auf die Kanzlerkandidaten und weg von programmatischen Fragen weiter forciert. Entsprechend versuchte die FDP bei der Bundestagswahl 2002, mit einem eigenen Kanzlerkandidaten, ihrem Vorsitzenden Guido Westerwelle, zusätzliche Stimmen zu gewinnen. Westerwelle bezeichnete diesen Versuch im Nachhinein als Fehler.
Die britische Tradition, dass die größte Oppositionspartei im Wahlkampf ein „Schattenkabinett“ aufstellt, hat sich in Deutschland nicht durchgesetzt. Kanzlerkandidat Willy Brandt hatte 1961 einen entsprechenden Versuch gemacht. In Deutschland muss eine Partei jedoch nach der Wahl meist eine Koalition eingehen und kann daher nicht allein über ein Kabinett entscheiden. In der heutigen Zeit stellt meist die (größte) Oppositionspartei ein „Kompetenzteam“ mit prominenten Politikern zusammen, deren Bereiche zum Teil recht allgemein benannt werden („Außen- und Sicherheitspolitik“).
Ende der Amtszeit
Die Amtszeit des Bundeskanzlers endet mit seinem Tod, seiner Amtsunfähigkeit, der Ablösung durch konstruktives Misstrauensvotum, seinem Rücktritt oder dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. In den beiden letzten Fällen übt der Bundeskanzler in der Regel auf Ersuchen des Bundespräsidenten nach Art. 69 Absatz 3 des Grundgesetzes das Amt des Bundeskanzlers bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiter aus.
Während das weitere Prozedere für die Fälle der Beendigung einer Kanzlerschaft teilweise verfassungsrechtlich genau normiert ist, fehlt es für einzelne Beendigungssituationen an eindeutigen Regelungen sowohl im Grundgesetz selbst wie in nachgeordneten Rechtsnormen („Geschäftsordnung der Bundesregierung“). Zu diesen nicht normierten Beendigungsfällen gehört der Tod eines Bundeskanzlers und auch die Beendigung des Amtes durch Rücktritt oder durch das Zusammentreten eines neu gewählten Bundestages in der Konstellation, dass der Bundespräsident nicht von seinem Recht nach Artikel 69 Absatz 3, den bisherigen Amtsinhaber zur Weiterführung der Geschäfte bis zur Ernennung eines neuen Kanzlers zu verpflichten, Gebrauch macht – wie bei Rücktritt Willy Brandts 1974 geschehen. Nach überwiegender Meinung in der Rechtsliteratur (z. B. von Mangoldt/Klein Art. 69 Anm. V 7b; Herzog in Maunz/Dürig, Art. 69 Rn 59) müsse dem Bundespräsidenten in solchen Fällen in Analogie zu Artikel 69 Absatz 3 eine außerordentliche Ernennungsbefugnis zuerkannt werden, da die Verfassung von ihrer Struktur her ein ununterbrochenes Funktionieren aller Verfassungsorgane einfordert und sonst unaufschiebbare Maßnahmen nicht getroffen werden könnten. Ohne einen amtierenden Bundeskanzler aber existiert keine Bundesregierung (Art. 62 GG) und mit der Amtsbeendigung eines Bundeskanzlers verlieren auch alle Regierungsmitglieder ihre Ämter (Art. 69 Absatz 2 GG). Streitig unter Juristen ist weiterhin, ob der Bundespräsident in solchen Situationen in der Auswahl des „neuen“ Bundeskanzlers auf die Person des bisherigen (auch als solcher nicht mehr im Amt befindlichen) Vizekanzlers beschränkt ist – die herrschende Meinung (u. a. Herzog in Maunz/Dürig Art. 69 Rn. 59) geht von einer Auswahlbeschränkung aus (Walter Scheel war 1974 auch zuvor Vizekanzler, als er von Bundespräsident Gustav Heinemann mit der vorübergehenden Amtsführung betraut wurde). Eindeutig ist weiterhin nicht, ob in diesen Fällen der Terminus „geschäftsführender“ Bundeskanzler rechtlich überhaupt der richtige ist: Nach wörtlicher Auslegung des Artikel 69 Absatz 3 des Grundgesetzes können nur die bisherigen Amtsinhaber zum „geschäftsführenden Bundeskanzler“ oder zu „geschäftsführenden Bundesministern“ verpflichtet werden. Aus ähnlichem Grunde wird Konrad Adenauer nicht als Bundesaußenminister für den Zeitraum nach dem Rücktritt Heinrich von Brentanos 1961 geführt, obwohl der das Amt „faktisch geschäftsführend“ wieder übernahm, aber im Gegensatz zu Helmut Schmidt 1982 nicht offiziell Außenminister wurde. Erst eine analoge Auslegung des Artikel 69 Absatz 3 könnte in dieser Fallkonstellation die Bezeichnung „geschäftsführender Bundeskanzler“ rechtfertigen; ansonsten ist er rechtlich ohne Zusatzbezeichnung ausschließlich ein „Bundeskanzler“.
Der Rücktritt des Bundeskanzlers während der Legislaturperiode selbst ist im Grundgesetz auch nicht vorgesehen oder geregelt. Dennoch wird er verfassungsrechtlich für zulässig erachtet. Die bisherigen Rücktritte der Bundeskanzler Adenauer, Erhard und Brandt waren daher auch nicht Gegenstand größerer verfassungsrechtlicher Debatten. Der Rücktritt bietet auch einen Weg zu Neuwahlen. Findet bei der nach dem Rücktritt anstehenden Wahl des Bundeskanzlers gemäß Artikel 63 des Grundgesetzes kein Kandidat die absolute Mehrheit, so kann der Bundespräsident Neuwahlen anordnen, er muss das jedoch nicht tun.
Historische Beurteilung des Amtes des Bundeskanzlers
Die Konstruktion eines starken, nur vom Bundestag abhängigen Bundeskanzlers hat sich nach überwiegender Ansicht der Politikwissenschaft bewährt. Während das Zusammenspiel von Bundestag und Bundesrat in der Gesetzgebung regelmäßig kritisiert und das Amt des Bundespräsidenten in seiner heutigen Ausgestaltung gelegentlich infrage gestellt wird, sind sowohl das Amt als auch die Befugnisse des Bundeskanzlers nahezu unumstritten. Auch wenn Konrad Adenauers historisch einzigartige Machtposition, die sich im während seiner Amtszeit geprägten Begriff der „Kanzlerdemokratie“ manifestierte, bei seinen Nachfolgern nicht in diesem Umfang erhalten blieb, ist der Bundeskanzler der wichtigste und mächtigste deutsche Politiker.
Die verhältnismäßig starke verfassungsrechtliche Position, die sich unter anderem durch die Art der Amtseinsetzung und der Kabinettsbildung sowie durch die erschwerte Absetzbarkeit nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum ergibt, und die regelmäßige Bekleidung eines hohen Parteiamtes in Verbindung mit relativ stabilen parteipolitischen Verhältnissen hat für eine große Kontinuität im Amt des Bundeskanzlers gesorgt: Angela Merkel ist erst die achte Person, die das Amt innehat. Die lange durchschnittliche Amtszeit der Bundeskanzler von etwa acht Jahren wird jedoch auch kritisiert. In diesem Zusammenhang wurde bereits eine in ihrer praktischen Umsetzung nicht unproblematische Begrenzung der Amtszeit des Bundeskanzlers auf acht Jahre wie beim US-Präsidenten vorgeschlagen, auch Gerhard Schröder unterstützte diese Idee vor seiner Amtszeit. Er rückte jedoch später von ihr ab, zumal er sich nach einer Kanzlerschaft über zwei Amtsperioden (1998–2005) bei der Bundestagswahl 2005 zur Wiederwahl stellte.
Die Hoffnungen auf einen starken Bundeskanzler haben sich insgesamt erfüllt, die Befürchtungen vor einem zu starken Machthaber haben sich jedoch nicht bewahrheitet, zumal die Macht des Bundeskanzlers im Vergleich zum Reichspräsidenten der Weimarer Republik oder zum US-Präsidenten beschränkt ist. Insofern kann das Wort von Alt-Bundespräsident Herzog, das Grundgesetz sei ein Glücksfall für Deutschland, auch auf die Konstruktion des Amtes des Bundeskanzlers bezogen werden.
Als Verfassungsrechtler kritisierte Roman Herzog allerdings auch einige „Petrefakte“ des Grundgesetzes. Es sei ein „Kunststück“, dass Artikel 61 die Anklage des Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht vorsehe, dass also nicht der Bundeskanzler, der zu Manipulationen alle Gelegenheit habe, sondern der Bundespräsident mit der Möglichkeit der Organklage bedroht sei. Das Vorschlagsrecht nach Artikel 63 Absatz 1 sei eine Rückbildung des Auswahlrechtes, das zur Kaiserzeit und Weimarer Zeit noch selbstverständlich gewesen sei. Das könne man jetzt streichen.[5]
Der Begriff „Bundeskanzlerin“
Im Zusammenhang mit der Wahl Angela Merkels zur Bundeskanzlerin wurden auch einige Betrachtungen im Hinblick auf den sprachlichen Umgang mit dem ersten weiblichen Amtsinhaber angestellt. So wurde festgestellt, dass – obwohl im Grundgesetz nur vom „Bundeskanzler“ im generischen Maskulinum die Rede ist – die offizielle Anrede für eine Frau im höchsten Regierungsamt „Frau Bundeskanzlerin“ lautet. Ferner wurde auch klar, dass Angela Merkel zwar die erste Bundeskanzlerin (im Femininum), gleichzeitig aber auch der achte Bundeskanzler (im generischen Maskulinum) ist. Ein auf Angela Merkel folgender männlicher Bundeskanzler könnte sich hingegen keinesfalls als „achter Bundeskanzler“ (sondern nur als „neunter“) bezeichnen, da es eine rein männliche Berufsbezeichnung (mit wenigen Ausnahmen) im Deutschen nicht gibt. Das Bundeskanzleramt bleibt wegen der Bezugnahme auf die Amtsbezeichnung im generischen Maskulinum in seiner grammatischen Form erhalten; es heißt also nicht „Bundeskanzlerinnenamt“.
In diesem Zusammenhang kommt auch dem Begriff der First Lady eine besondere Betrachtung zu, der auch im deutschen Kontext mit Bezug auf Gattinnen von Bundeskanzlern benutzt wird.
Ebenfalls im Zusammenhang mit der erstmaligen Wahl einer Frau in das Amt des Bundeskanzlers wurde das Wort „Bundeskanzlerin“ am 16. Dezember 2005 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gekürt, weil der Ausdruck sprachlich interessante Fragen aufwerfe und nach Ansicht der Jury vor einigen Jahrzehnten auch eine Bundeskanzlerin noch mit „Frau Bundeskanzler“ angesprochen worden wäre.
Schon 2004 war die Anrede „Frau Bundeskanzlerin“ in den Duden aufgenommen worden.
Die Internetadresse bundeskanzlerin.de wurde bereits 1998 durch den damaligen Studenten Lars Heitmüller reserviert. Er hatte angekündigt, sie kostenfrei an die erste Bundeskanzlerin zu übertragen, was schließlich im November 2005 erfolgte. Ein staatlicher Anspruch darauf hätte allerdings zu keiner Zeit bestanden.[6]
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