Minderheitenschutz

Minderheitenschutz

Minderheitenschutz ist ein Begriff aus dem Völkerrecht, der sich ausschließlich auf ethnische und nationale Minderheiten und deren spezifischen Interessen als Minderheit bezieht. Die spezifischen Interessen Angehöriger anderer minoritärer gesellschaftlicher Untergruppen wie Behinderter oder Homosexueller fallen nicht unter das Völkerrecht, sondern sollten international durch die Menschenrechte und auf staatlicher Ebene durch die in der entsprechenden Verfassung verankerten Individualrechte geschützt werden.

Inhaltsverzeichnis

Problematik des Minderheitenschutzes

Im Laufe der Geschichte der Nationalstaaten hat sich herausgestellt, dass Angehörige ethnischer und nationaler Minderheiten aufgrund ihres Minderheitenstatus' vielfach von Diskriminierungen im jeweiligen Staat betroffen waren. Sehr oft geschah dies in Bereichen, die durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht abgedeckt waren. So wurde im Laufe der Zeit der spezielle Minderheitenschutz als Ergänzung zu den Menschenrechten erarbeitet mit dem Ziel, diese spezifischen Punkte abzudecken. Darunter fallen das Recht auf die Benutzung der Muttersprache oder das Recht auf die Ausübung spezifischer Traditionen. Dadurch hoffte man nicht nur, die Angehörigen von Minderheiten besser zu schützen, sondern auch, den als Reaktion auf die Bildung der Nationalstaaten aufflammenden ethnischen Radikalismus einzudämmen.

Dass diese Zielsetzung bis heute nicht vollumfänglich erreicht wurde, liegt nach Meinung von Experten hauptsächlich daran, dass der völkerrechtliche Minderheitenschutz sich ausschließlich auf anerkannte Minderheiten bezieht. Solange eine Minderheit nicht als Solche anerkannt ist, fühlen sich die entsprechenden Staaten nicht an die völkerrechtlichen Auflagen gebunden, was im Gegenzug zu mehr oder weniger intensiven Minderheitenkonflikten führt (siehe auch: Separatismus, Autonomie, Terrorismus, Regionalismus, Nationalismus).

Anscheinend sind jedoch sowohl die individualrechtlichen Regelungen (Menschenrechte) als auch die kollektivrechtlichen Konstruktionen im Bereich des Völkerrechts nur bedingt geeignet, um die spezifischen Belange der Minderheiten – insbesondere auch im Hinblick auf eine kulturelle, sprachliche, religiöse o. ä. Dominanz der Mehrheit – zu schützen. Die Thematik und Konfliktualität rund um Herrschaftsbeziehungen, Unterdrückungsmechanismen, Konkurrenzbeziehungen, Diskriminierungen, Identitätsproblemen usw. ist zu komplex, als dass man ihr alleine mit rechtlichen Normen begegnen könnte. So dienen im Endeffekt alle Bemühungen für den Minderheitenschutz eher als Konfliktregulierung denn als Lösung für Minderheitenkonflikte. Um Minderheitenschutz in befriedigender und dauerhafter Form zu gewährleisten, bedarf es nicht in erster Linie rechtlicher Abkommen, sondern einer permanenten Anstrengung der Gesamtgesellschaft (Mehrheit und Minderheit).

Minderheitenschutz im Völkerbund und der UNO

Im Laufe der Zeit hat sich der Minderheitenschutz zu einem Element des Völkerrechtes entwickelt. Die erste internationale Vereinbarung zum Schutze nationaler Minderheiten stammt aus dem Wiener Kongress von 1815. Danach wurde der polnischen Minderheit in Preußen, Österreich und Russland besonderer Schutz zugestanden.

Als Reaktion auf die Gebietsveränderungen durch den Ersten Weltkrieg wurden in den Friedensverträgen von Paris auch die Rechte von Minderheiten festgehalten. Daneben wurde eine Reihe von bilateralen Verträgen ausgearbeitet:

In diesen Abkommen ging es meist um den Gebrauch der Muttersprache im öffentlichen Leben und um die Ausübung politischer und kultureller Menschenrechte. Leider waren – aufgrund der damals herrschenden nationalistischen Gesinnung – die meisten der betroffenen Staaten nicht bereit, die Verträge einzuhalten. Dem UNO-Vorläufer Völkerbund, der mit der Überwachung beauftragt war, fehlten die nötigen Kompetenzen und die Bereitschaft, den Vollzug durchzusetzen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die Vereinten Nationen zunächst, den Minderheitenschutz durch den als effektiver betrachteten individuellen Schutz der Menschenrechte zu ersetzen. Trotzdem ist in den Verträgen nach dem Zweiten Weltkrieg ausdrücklich ein Diskriminierungsverbot für Minderheiten enthalten.

Im Rahmen der UNO begannen während der sechziger Jahre Diskussionen über einen allgemeinen Minderheitenschutz, welche am 19. Dezember 1966 zum UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte führten, in dem folgende Rechte von Minderheiten geschützt werden: Pflege der eigenen Sprache, Religion und Kultur. Ein Menschenrechtsausschuss wurde für die Überwachung der staatlichen Verpflichtungen eingesetzt.

Ein weiteres Organ der UNO, die Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities, befasst sich ebenfalls mit Minderheiten. Dieser Ausschuss erarbeitete u. a. die Deklaration über die Rechte von Minderheiten, welche die Staaten verpflichtet, die Identität nationaler oder ethnischer, kultureller, religiöser und sprachlicher Minderheiten durch den Erlass entsprechender Maßnahmen zu wahren und zu fördern. Den Angehörigen solcher Minderheiten muss das Recht auf freien Gebrauch ihrer Sprache im privaten und öffentlichen Bereich und eine angemessene Beteiligung an den sie betreffenden Entscheidungen garantiert werden.

Minderheitenschutz in Europa

In den siebziger Jahren begann die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), sich mit der Minderheitenproblematik zu befassen. Nach dem Fall der Berliner Mauer und aufgrund der in der Folge immer wieder aufflammenden Minderheitenkonflikte in Osteuropa sowie der diversen regionalistischen Strömungen in Europa begann in den neunziger Jahren auch der Europarat, sich mit dem völkerrechtlichen Schutz von Minderheiten zu befassen.

Konferenz von Kopenhagen „Über die menschliche Dimension“

Am 29. Juni 1990 verabschiedete die KSZE das „Kopenhagener Abschlussdokument über die menschliche Dimension“ – ein Meilenstein für die völkerrechtliche Verankerung der Menschenrechte in Europa. Die Kopenhagener Dokumente sind völkerrechtlich nicht verbindlich, sondern nur Vereinbarungen, die als ungefähre Richtschnur für die Mitgliedstaaten der OSZE dienen sollen.

Teil IV der Kopenhagener Dokumente geht detailliert auf die kollektiven Rechte der Angehörigen nationaler Minderheiten ein: Sie sollen ihre Menschenrechte und Grundfreiheiten in voller Gleichheit vor dem Gesetz ausüben können. Außerdem sollten sich die OSZE-Mitgliedsstaaten verpflichten, „besondere Maßnahmen zur Sicherung der Gleichstellung mit anderen Staatsangehörigen zu ergreifen“ (Boden, S. 30). Einer Person soll zudem das Recht zugestanden werden, selbst zu entscheiden, ob sie einer nationalen Minderheit zugehörig ist oder nicht.

Das Abschlussdokument der Kopenhagener Dokumente enthält darüber hinaus die so genannten individuellen Minderheitenrechte: Gebrauch der Muttersprache, freie Religionsausübung, Garantie grenzüberschreitender Kontakte zu Angehörigen der eigenen Volksgruppe, Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Ausübung kultureller Aktivitäten, Schulunterricht in der Muttersprache oder mit der Muttersprache als Unterrichtssprache, Schutz und Förderung der Identität nationaler Minderheiten und die Einrichtung lokaler und autonomer Verwaltungseinheiten.

Expertentreffen von Genf

Im Juli 1991 trafen sich Experten der KSZE-Mitgliedstaaten in Genf, um über die Minderheitenproblematik zu diskutieren. Dabei stellte sich heraus, dass einige Teilnehmerländer des ehemaligen Ostblocks (Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien) hinter die Standards zurückgehen wollten, die in Kopenhagen verabschiedet wurden. Sie wurden von mehreren westlichen Ländern (Frankreich, Griechenland, Türkei) in ihrem Ansinnen bestärkt. So enthält die Schlusserklärung einen Satz, der alle vorherigen Bemühungen zum völkerrechtlichen Schutz von Minderheiten de facto zu Makulatur werden ließ: "[die Staaten] nehmen zur Kenntnis, dass nicht alle ethnischen, kulturellen, sprachlichen oder religiösen Unterschiede notwendigerweise zur Bildung nationaler Minderheiten führen". Diese Einschränkung erlaubt es Ländern wie Frankreich oder der Türkei, auf ihrem Standpunkt zu beharren, es gäbe in ihren Ländern keine Minderheiten und deshalb auch keine Notwendigkeit, diesen in irgendeiner Form besonderen Schutz zukommen zu lassen.

Europäische Konvention für den Schutz von Minderheiten

Am 8. Februar 1991 legte die Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) dem Europarat einen Entwurf für eine "Europäische Konvention für den Schutz von Minderheiten" vor. Im Gegensatz zu den beiden obenerwähnten Dokumenten wird hier der Begriff "Minderheit" klar definiert, und es wird klargestellt, dass ausländische Staatsangehörige nicht miteinbezogen werden sollen. Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit soll von der Entscheidung des Individuums abhängen. Des Weiteren wird ein kollektives Recht von Minderheiten anerkannt, und den Staaten werden Verpflichtungen auferlegt, die einer Kombination von Individual- und Gruppenrechten entsprechen.

Europäische Charta der regionalen oder Minderheitensprachen

Das Ministerkomitee verabschiedete am 5. November 1992 eine Konvention, deren Erarbeitung insgesamt elf Jahre dauerte. Die "Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen" enthält Bestimmungen "zum Schutz und zur Förderung von Minderheitensprachen in Schulen, in der Verwaltung, vor Gericht und in den Medien" (Boden, S. 31).

Die Charta ist jedoch nicht verbindlich. Die Unterzeichnerstaaten können auswählen, welche der Bestimmungen sie anwenden wollen. Sie entscheiden auch selbst darüber, auf welche Minderheitensprachen in ihrem Land sie die Charta anwenden wollen. Ein Berichterstattersystem dient als einzige Kontrolle, Sanktionen bei Nicht-Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen sind nicht vorgesehen.

Verantwortlich für die Verzögerungen und die unverbindlich formulierten Konventionen sind einige europäische Staaten, welche die Rechte ihrer Minderheiten aufgrund der eigenen Auffassung von "Staat" und "Nation" nicht anerkennen wollen, darunter insbesondere Frankreich, Großbritannien, Griechenland und die Türkei. Diese Länder befürchten, durch die Anerkennung von Minderheiten und Minderheitensprachen auf ihrem Territorium die nationale Einheit zu gefährden. Sie bestehen darauf, dass die in der jeweiligen Verfassung festgehaltenen Gleichheitsgrundsätze ein ausreichender Schutz für die Angehörigen von Minderheiten seien. In den föderalistischen Staaten wird den Rechten indigener Minderheiten dagegen häufig wenig Bedeutung beigemessen, etwa in Deutschland der Sprachminoritäten der Sorben, Friesen und Sprechern der niederdeutschen Sprache. Die Charta hat in diesen Bereichen kaum zu signifikanten Verbesserungen geführt.

Literatur

  • Andreas von Arnauld: Minderheitenschutz im Recht der Europäischen Union. In: Archiv des Völkerrechts 42 (2004), 111–141.
  • Sebastian Bartsch: Minderheitenschutz in der internationalen Politik. Völkerbund und KSZE/OSZE in neuer Perspektive. Westdeutscher Verlag: Opladen 1995, ISBN 3-531-12786-1.
  • Martina Boden: Nationalitäten, Minderheiten und ethnische Konflikte in Europa. Ursprünge, Entwicklungen, Krisenherde. Olzog Verlag: München, 1993, ISBN 3-7892-8640-0.
  • Rainer Hofmann: Minderheitenschutz in Europa. Überblick über die völker- und staatsrechtliche Lage. Gebrüder Mann Verlag: Berlin, 1995, ISBN 3-7861-1842-6.
  • Franz Pan: Der Minderheitenschutz im neuen Europa und seine historische Entwicklung. Verlag Braumüller: Wien 1999, ISBN 3-7003-1248-2.
  • Sarah Pritchard: Der völkerrechtliche Minderheitenschutz. Historische und neuere Entwicklungen. Duncker & Humblot: Berlin 2001, ISBN 3-428-09925-7.
  • Ioana Eleonora Rusu: Minderheitenschutz in Rumänien. Eine Analyse der verfassungsrechtlichen Bestimmungen unter Berücksichtigung der internationalen Verpflichtungen Rumäniens, Verlag Dr. Kovac: Hamburg 2009, ISBN 978-3-8300-4634-9.
  • Martin Scheuermann: Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren, Verlag Herder-Institut: Marburg 2000 ISBN 3-87969-284-X.

Weblinks


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